Tiktok und andere Social Media sind der wichtigste Marktplatz für Schleuser: Junge Männer aus Nordafrika werden zur Ausreise nach Europa motiviert – dem Kontinent, wo angeblich Träume in Erfüllung gehen. Auch Yassine mischt in diesem Geschäft mit.
Auf einem Foto, das «Le Prince de la Ville» im Januar 2025 auf seinem Facebook-Account postet, steht ein junger Typ im Talahon-Look mitten in Paris. Es ist Nacht. Der Mann – Sonnenbrille, Kapuze tief ins Gesicht gezogen – posiert vor einem schwarzen Tesla mit offener Flügeltür, weissen Ledersitzen und violetter Innenbeleuchtung.
Im Hintergrund befindet sich der in gelbes Licht getauchte Eiffelturm. Partynacht-Stimmung. Über dem Bild schreibt «Le Prince de la Ville» in arabischer Sprache: «Sei nicht traurig, Mama, meine Zukunft liegt jenseits des Meeres.» – «Inschallah», kommentiert jemand – so Gott will. Und «Le Prince» antwortet: «Er will.»
Jedes Jahr kommen Zehntausende junger Männer aus Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen oder Ägypten übers Meer nach Europa. In der Schweiz stammten 2024 mehr als ein Siebtel aller Asylgesuche aus diesen Ländern. Zahlenmässig liegt Afghanistan als Herkunftsland zwar deutlich vorne, doch es gibt einen grossen Unterschied: Während Asylsuchende aus Afghanistan in der Schweiz in 80 Prozent der Fälle Schutz erhalten, sind es bei den Menschen aus den Maghrebstaaten weniger als 2 Prozent.
Die jungen Männer aus Marokko, Algerien und Tunesien fliehen weder vor dem Krieg noch vor Verfolgung, sondern sie sind in den allermeisten Fällen auf der Suche nach einem besseren Leben. Zu Hause haben sie nicht viel zu verlieren: Viele von ihnen leben in prekären Verhältnissen, ohne Aussicht darauf, dass es jemals besser wird.
Europa, jener Kontinent, mit dem der Maghreb in einer langen Geschichte kulturell und ökonomisch verbunden ist, ist für die Ausreisewilligen ein Sehnsuchtsort. Influencer mit Kontakten ins Schleusermilieu wie «Le Prince de la Ville» mit seinen beinahe 40 000 Followern nehmen dieses Gefühl auf. Sie verstärken es und tragen mit ihrer Reichweite auf Facebook, Tiktok und Co. dazu bei, dass die Nachfrage nach der Ausreise nach Europa nie abreisst. «Harraga» nennen sich die jungen, ausreisewilligen Männer.
Diejenigen, die brennen
«Harraga» leitet sich von «verbrennen» ab und spielt auf die Praxis der Migranten an, ihre Ausweispapiere und persönlichen Dokumente zu verbrennen, um die Identifizierung durch Behörden in Europa zu verhindern. «Harga» meint die irreguläre Ausreise – das sind sozusagen diejenigen, die brennen und bereit sind, Hindernisse zu überwinden, um ihr Glück in Europa zu suchen. Auf Tiktok ist zu sehen, wie junge Männer euphorisch ihre Ausweise zerstören oder wegwerfen. Zehntausende von Views und Likes verzeichnen solche Videos.
Auf Facebook ist «Le Prince de la Ville», laut Profil wohl Mitte 40 und in Paris lebend, schon seit August 2021 aktiv. Wie gezielt er wirbt, zeigt einer seiner ersten Posts. Auf einem Bild sind vier junge Männer auf einem Schlauchboot zu sehen. Dazu der Text in arabischer Sprache: «Bist du aus Afrika? Wirst du unterdrückt? Bist du arm? Hasst du den Staat und die Regierung? Denkst du daran, deine Nationalität zu wechseln? Bist du krank und möchtest behandelt werden? Dann bist du wie wir – und dein natürlicher Platz ist bei uns.» Offen gibt er auf seiner Seite seine marokkanische Handynummer und seine E-Mail-Adresse an.
Es gibt Hunderte oder gar Tausende von solchen Profilen auf allen Plattformen, vor allem auf Tiktok, aber auch auf Facebook oder Instagram. Meist sind es Männer, nur selten Frauen. Sie informieren via Messenger über Reiserouten, Schlepper, Asylgesetze, Unterkünfte, Schwarzarbeitjobs und die Schönheit Europas, oder sie geben Argumentationshilfen für die Gespräche mit den europäischen Migrationsbehörden. Manche sind nur kurz aktiv und verschwinden nach wenigen Wochen oder Monaten wieder. Andere haben Zehntausende von Followern und fluten die Kanäle jeden Tag mit neuen Bildern von glücklichen Männern auf der Überfahrt und vom luxuriösen Leben in Europas Städten. Gerne lassen sich die Männer auch umringt von jungen, attraktiven Frauen abbilden.
In einem Film spaziert der vermutlich algerische Tiktoker «Tiifa2006», der 55 000 Follower hat, mit seinem Smartphone durch die Augustinergasse in Zürich und schwärmt von der Sauberkeit der Schweizer Stadt. «Schau mit deinen Augen und betrachte die Schönheit, die Pracht und die Ordnung», so kommentiert er die Bilder.
Dabei setzt er sich auch gegen die Vorwürfe von Landsleuten in den Kommentaren zu einem früheren Film zur Wehr, er sei unpatriotisch und verrate sein eigenes Land. Er rechtfertigt seine Ausreise: «Meine Landsleute, ich weiss, dass ihr unter Druck lebt, unterdrückt werdet und psychisch krank seid. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, leben in Algerien nicht anständig.» Versehen ist der Video-Post mit Hashtags wie #immigration und #switzerland.
Er verdiente damit einen grossen Teil des Lebensunterhalts
Auch Yassine* aus Tunesien hatte einst auf Tiktok weit über 10 000 Follower und einen soliden Ruf. Worum es auf seinem Account geht, macht schon sein Profilname deutlich: Gezielt verwendet er den Begriff «tagti3a» – ein tunesisch-arabischer Dialektausdruck für «Flucht». Wer sich von Yassine für eine irreguläre Ausreise nach Italien beraten liess, erhielt eine Reisegarantie, so lautete sein Motto. Das brachte ihm gutes Geld ein: In den besten Zeiten finanzierte Yassine damit laut eigenen Angaben einen grossen Teil seines Lebensunterhalts.
Mit dem Aufkommen des Smartphones, das für die meisten Migranten aus dem Maghreb zur Standardausrüstung gehört, hat Social Media schon vor Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Sämtliche Informationen werden über digitale Kanäle ausgetauscht.
Bis vor einigen Jahren geschah dies vor allem in geschlossenen Gruppen auf Facebook. Inzwischen sind Tiktok und Instagram wichtiger geworden, und an die Stelle von geschlossenen Gruppen sind mehr und mehr Influencer und Vermittler getreten. Vor allem in Tunesien hat ihnen die Repression zusätzlichen Auftrieb verschafft: Schleuser, die noch vor wenigen Jahren im Internet ihre Handynummer angeben und leicht kontaktiert werden konnten, müssen sich nun verstecken.
Influencer, die oft anonym unterwegs sind oder aus dem Ausland agieren, sind für sie deshalb zu wichtigen Werbebotschaftern geworden. Bezeichnungen wie «Harrag» oder «Harga» werden dabei durchaus mit Stolz verwendet, viele der Influencer benutzen sie prominent in ihrem Profilnamen. Sie wissen: So werden sie von ihren Kunden leicht gefunden.
Nicht alle Influencer arbeiten nach denselben Prinzipien: Viele verbergen ihre kommerziellen Interessen kaum. Sie werben damit, dass sie mit Schleusern oder Kontaktpersonen vernetzt sind und ihre Kunden von der Abreise bis zur Ankunft im Zielland gegen Bezahlung integral betreuen können. Andere berichten aus Solidarität und Überzeugung kostenlos über ihre eigenen Erfahrungen oder engagieren sich im Rahmen einer NGO für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten. Der Übergang zwischen politischen Aktivisten, Lifestyle-Influencern und Online-Chronisten ist fliessend. Die Botschaft aber ist stets die gleiche: Du kannst es schaffen – und wir helfen dir dabei.
So erzählt es auch Yassine. Über einen Vertrauensmann in Tunis gelingt es der NZZ, mehr über den Mann hinter dem «tagti3a»-Tiktok-Profil und über seine Tätigkeit zu erfahren. Ein junger Mann Mitte zwanzig, der selbstbewusst und energisch auftritt, Markenjeans und modische Turnschuhe trägt: So wird Yassine beschrieben, der erst nach einiger Zeit bereit ist, darüber zu erzählen, wie er Hunderten von jungen Tunesiern – fast immer Männern – zu einer Reise über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien verholfen hat.
Er habe in den letzten Jahren ein grosses Beziehungsnetz zu Leuten aufgebaut, die für das Geschäft wichtig seien: Polizisten, Hafenverantwortliche, lokale Behörden. So bringt er beispielsweise Einsatzpläne von Polizei oder Küstenwache in Erfahrung, die er nutzt, um seinen Followern eine sichere Ausreise zu ermöglichen. Yassines Aussagen lassen sich im Detail nicht nachprüfen. Einiges ist widersprüchlich, doch vieles stimmt mit weiteren Recherchen überein und ergänzt so das Bild, das die Auswertung von anderen Social-Media-Profilen ergibt.
«Ich habe einen Freund, der mit einem 150er rausfahren wird»
Über verschiedene Kanäle versucht die NZZ, auch andere Tiktoker zu kontaktieren. Wir erstellen ein Profil, mit welchem wir uns als jungen Algerier aus der französischen Banlieue ausgeben, der eine Mitfahrgelegenheit für einen Freund von Oran (Algerien) nach Spanien sucht. Viele reagieren nicht oder brechen den Kontakt ab, sobald wir gezielt nachfragen. Doch dann erhalten wir eine Nachricht von einem Mann, der sich Ahmed nennt. Er wohnt laut seinem Profil offenbar in der Nähe von Paris und scheint im letzten Herbst selbst als Harrag nach Frankreich gekommen zu sein. «Träume sind nicht dazu bestimmt, unerfüllbar zu bleiben», steht unter seinem Profilnamen.
Er könne eine Fahrt von Algier nach Ibiza organisieren, bietet Ahmed in holprigem Französisch mit Banlieue-Einschlag an. Die Distanz beträgt gut 500 Kilometer, relativ viel für eine Mittelmeerroute. Die Strecke gilt als nicht ungefährlich und wird fast einen Tag in Anspruch nehmen. «Ich habe einen Freund, der mit einem 150er rausfahren wird», textet Ahmed. Gemeint ist ein Boot mit 150-PS-Motor. «Wie viel verlangt dein Freund?», fragen wir. «140 mellion DA», schätzt Achmed – 140 000 algerische Dinar. Umgerechnet sind das knapp 1000 Euro.
Ob Ahmed für seine Vermittlerdienste ebenfalls Geld kassieren würde, ist nicht klar. Als wir wegen Unstimmigkeiten beim Preis nachbohren, meldet sich Ahmed vorerst nicht mehr. Dann, kurz vor dem Abschluss der Recherchen, will er die Sache offenbar konkret machen: Er schickt seine Handynummer mit einer algerischen Vorwahl.
Yassine, der Mann mit dem «tagti3a»-Tiktok-Profil, behauptet, für solche Beratungen und Vermittlungsdienste von seinen Kunden nie etwas verlangt zu haben. Wie er sein Geld verdient hat, will er zunächst nicht genau offenlegen. Doch er deutet an, dass er von einem Kontaktmann eines Schleppernetzwerks in Italien angegangen wurde und seit 2021 mit der Organisation zusammenarbeitet. Für seine Vermittlerdienste habe er Provisionen erhalten. Seine Aufgabe sei dabei angeblich gewesen, Vertrauen zu potenziellen Kunden auf Tiktok aufzubauen und mit attraktiven Bildern und Videos für die irreguläre Ausreise zu werben.
Angst vor dem tunesischen Machtapparat
Wie die Zusammenarbeit genau funktioniert hat, lässt Yassine im Dunkeln. Als wir nachhaken, wird auch er nervös und wehrt ab. Nicht erstaunlich: Die Angst vor dem tunesischen Machtapparat ist gross. Seitdem die Regierung in Tunis rigide gegen die irreguläre Migration vorgeht, ist Yassine auf Tiktok nicht mehr aktiv. Tunesien hat mit der EU und mit Italien Abkommen geschlossen, die das Land gegen finanzielle Unterstützung zur Eindämmung der Migration über das Mittelmeer verpflichten.
Vor drei Jahren hat der tunesische Präsident Kais Saied ausserdem ein Dekret erlassen, gemäss dem bei der Verbreitung von falschen Informationen und Gerüchten im Internet Geldstrafen und Gefängnis bis zu fünf Jahren drohen. Seither sind viele Journalisten und Influencer inhaftiert worden. Ende 2024 hat Yassine sein Geschäft aus Angst vor Repressionen vorerst eingestellt.
Aufgewachsen ist er in einem armen Vorstadtquartier von Tunis. Lange dachte Yassine selber daran, nach Europa auszureisen. Der Vater sei ein einfacher Angestellter bei einer halbstaatlichen Firma, die Mutter Hausfrau und Mutter von vier Söhnen, so erzählt es Yassine. Eine Familie des unteren Mittelstandes. Doch dann frass die Wirtschaftskrise das kleine Einkommen der Familie auf, bald lebte Yassine am Rande der Armut, ohne Aussicht auf einen sozialen Aufstieg.
Wie Hunderttausende anderer junger Männer nahm sich Yassine vor, nach Europa zu gehen, um sich aus der Perspektivlosigkeit zu befreien und seiner Familie zu helfen. Ausser «dieser verdammten Identitätskarte» («cette putain de carte d’identité») verbinde ihn nichts mehr mit seinem Land, schimpft er. Yassine, der Migranten bei der scheinbaren Verwirklichung ihrer Träume berät, weist selbst alle Merkmale eines Harrag auf. Doch bis heute ist er in Tunesien hängen geblieben, auch dank seiner Einnahmequelle, die er sich mithilfe seines Tiktok-Accounts erschlossen hat.
Rapper macht Werbung für Schlepper
Andere Influencer haben den Absprung längst geschafft und posten nun aus Europa, um Landsleute zur Emigration nach Europa zu animieren. Auch «Talal Rabah Tati G13» gehört zu ihnen, einer der bekanntesten tunesischen Rapper. Er ist legal ausgewandert und lebt heute in Frankreich. In einem seiner beliebtesten Songs erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimat verlässt, um im Ausland ein besseres Leben zu suchen. Über 13 Millionen Mal wurde der Clip auf Youtube aufgerufen. Millionen weitere kommen auf anderen Plattformen wie Spotify hinzu. Tati G13 hat auf Tiktok 250 000 Follower und singt ausschliesslich auf Arabisch. «El Kazaoui» heisst dieser Song.
El Kazaoui oder Al Casaoui ist das Pseudonym eines sehr bekannten marokkanischen Schleppers. Er stammt aus Casablanca, deshalb der Name: derjenige aus Casa. Laut marokkanischen und osteuropäischen Medien sind Kazaoui und seine Bande nicht nur im eigenen Land aktiv. Sie haben das Schleppergeschäft auch entlang der Balkanroute in Europa während Jahren kontrolliert, möglicherweise auch heute noch. Genauer: in der Grenzregion zwischen Ungarn und Serbien. Wie Kazaoui aussieht, ist unbekannt.
Auch den Aufenthaltsort des Schleppers kennt man nicht. Vieles deutet darauf hin, dass er zwischen Marokko und der Türkei hin- und herpendelt. Kazaoui bleibt für die Öffentlichkeit ein Phantom, was sein Ansehen bei vielen Jugendlichen sogar noch erhöht. Ob der Rapper Tati G13 von Kazaoui für sein Werbevideo Geld erhalten hat, weiss niemand, doch Migrationsfachleute vermuten es.
In einer der Szenen im Video steht Tati G13 auf einer Aussichtsplattform in der knapp hundert Kilometer von Paris entfernten Provinzstadt Château-Thierry. Umgeben ist Tati G13 von jungen Männern in modischer Freizeitkleidung und Marken-Insignien, alle mit maghrebinischem Aussehen, alle mit cooler Ausstrahlung, alle maximal entspannt. Malerische Aussicht auf das Städtchen in goldenem Abendlicht. «Ich habe mein Geld an El Kazaoui geschickt», singt Tati G13: «Wir müssen uns nur in die Cafés setzen. Jetzt bereiten wir uns auf die Flucht vor.»
Tatsächlich dauert die Überfahrt auf der westlichen Route von Marokko nach Spanien oder von Tunesien nach Italien je nach Ort, Witterung und Bootstyp nur wenige Stunden. Moderne Schnellboote mit mehreren starken Aussenbordmotoren und teilweise über weit hundert PS bewältigen bis zu 50 oder mehr Kilometer pro Stunde. Mit den Bildern von verrosteten Kähnen mit Hunderten von verzweifelten Menschen, die im Mittelmeer von der Küstenwache oder von Seenot-Rettungsorganisationen an Land geschleppt werden müssen, haben diese Europa-Trips nichts zu tun. Hochgefährlich sind die Überfahrten allerdings dennoch.
Bilder von angeblich superschnellen Schiffen, kräftigen Motoren und fröhlichen Männern sind auf vielen Profilen massenweise zu finden. Motoren sind ein Verkaufsargument. Es gilt: je stärker die Leistung, desto höher der Preis. Auch auf mehreren kurzen Videosequenzen auf dem Tiktok-Account von Yassine wird das Un-Boxing von Yamaha-Motoren gezeigt, ähnlich wie es Tech-Nerds tun, wenn sie auf Youtube neue Handys auspacken. Die Filme sind mit arabischer Musik unterlegt und von aufmunternden Parolen und italienischen Flaggen begleitet.
Manchmal wird die Botschaft sogar ganz offen mitgeliefert: «Hallo, es gibt ein Programm für eine Reise nach Lampedusa vor Ende des Jahres. Eine Reise mit zwanzig Passagieren. Schnellboot (Zodiac), die Motorleistung beträgt 60 PS. Der Preis für die Reise beträgt 4000 tunesische Dinar.» Das entspricht umgerechnet rund 1200 Euro. Kurz nachdem das Angebot gepostet worden ist, verschwindet der Account wieder.
In den Community-Richtlinien äussert sich Tiktok eher kryptisch dazu, wo sie die Grenze zwischen erlaubten und verbotenen Inhalten zieht. «Wir erlauben keinen Menschenhandel und -schmuggel», heisst es dort zwar. Besonders restriktiv scheint die Plattform die Regeln jedoch nicht zu interpretieren: Tiktok verstehe, wie wichtig es für Überlebende von Menschenhandel und -schmuggel sei, ihre Geschichten zu teilen, beziehungsweise für Migranten, ihre Reisen dokumentieren zu können, so die Richtlinien: «Aus diesem Grund bieten wir einen Raum dafür.»
In den Kommentarspalten gratulieren Freunde
Auf zahlreichen Tiktok-Videos sind Boote in voller Fahrt zu sehen, romantisiert mit der am Horizont aufgehenden Sonne, die sich im Meer spiegelt. Dazu lebensfrohe Männer in orangen Schwimmwesten, die unbeschwert in die Kamera lachen. Manche zeigen das Victory-Zeichen: Wir haben es geschafft. In den Kommentarspalten gratulieren Freunde und andere User. Von Motorschäden und schweren Unfällen mit Toten und Vermissten, die ebenfalls regelmässig vorkommen, wird kaum je berichtet.
Welche Anziehungskraft solche Szenen haben, zeigen nicht nur die Migrationszahlen in den europäischen Ländern. In den Maghrebstaaten selber spielen sich als Folge von Social-Media-Inhalten immer wieder dramatische Szenen ab. Im September vor sechs Jahren verbreitete sich im Norden von Marokko ein Gerücht, das ein cleverer Influencer gezielt in Umlauf gebracht hatte: Ein Schnellboot bringe junge Ausreisewillige kostenlos nach Spanien. Auf Facebook tauchten Videos mit triumphierenden Männern auf Booten auf, die «Viva España» riefen.
Am 22. September warteten Hunderte von Harraga am Strand von Martil in der Nähe von Tétouan. Tatsächlich tauchte ein Boot auf, und obwohl bald klar wurde, dass die Reise nicht gratis war, wiederholte sich die Szene an den folgenden Abenden: Junge Harraga strömten an den Strand von Martil. Am 25. September eskalierte die Lage: Die Küstenwache eröffnete das Feuer, es gab zahlreiche Verletzte, eine Studentin starb.
Bis heute kommt es in Marokko zu solchen Massenphänomenen. So im letzten Herbst, als Tiktok-Influencer Auswanderungsversuche bei Fnideq, einer Stadt im Norden Marokkos an der Grenze zur spanischen Exklave Ceuta, aggressiv anheizten. Die marokkanischen Behörden reagierten mit einem Grossaufgebot, schlossen Strände, errichteten Barrikaden und Kontrollpunkte. Zahlreiche Personen, unter ihnen Influencer, wurden wegen der Verbreitung von Falschinformationen und der Anstachelung zur illegalen Auswanderung festgenommen.
Markt zieht immer mehr Influencer an
Wie gross der Anteil von Social Media und von Influencern am wachsenden Migrationsdruck ist, lässt sich kaum quantifizieren. Auf diese explosive Dynamik hatte der marokkanische Migrationsexperte Khalid Mouna in einem Interview allerdings schon vor zwei Jahren aufmerksam gemacht. Es bilde sich ein riesiger Markt heraus, der immer mehr Influencer anziehe, beobachtete Mouna, der an der Fakultät für Humanwissenschaften in Meknes, Marokko, lehrt. Die Influencer verkauften Illusionen über illegale Migrationsrouten und unterschätzten dabei die damit einhergehenden katastrophalen Folgen. Tausende Menschen werden bei der Fahrt über das Mittelmeer jedes Jahr als tot oder vermisst gemeldet, und dennoch bleibt die Nachfrage riesig.
So ist Social Media zum grössten Marktplatz für Schleuser geworden, die auf die weitverbreitete Frustration und Verzweiflung ihrer Landsleute setzen, wie Polizeibehörden in Europa feststellen. Im letzten Oktober haben die Innenminister der G-7-Staaten eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Plattformen beschlossen, um Online-Aktivitäten von kriminellen Schlepperbanden zu unterbinden.
Inzwischen macht sich Europas härter werdender Kurs in der Asylpolitik auch im Maghreb bemerkbar. Die nordafrikanischen Regierungen sind im Dilemma: Einerseits haben sie selbst ein Interesse an der Ausreise von schlecht gebildeten und schlecht integrierten jungen Männern. Gleichzeitig erhöhen die europäischen Regierungen den Druck. In Tunesien, das für die Sicherung der Grenze entlang des Mittelmeeres von Italien und der EU bezahlt wird, versucht die Regierung nun, die Migranten aus dem südlichen Afrika ins Visier zu nehmen. Sie sollen innenpolitisch für den unpopulären Ausreisestopp verantwortlich gemacht werden. Das führt zu einer brutalen Dynamik.
Mehrfach haben in den vergangenen Wochen selbsternannte Bürgerwehren Flüchtlinge und Migranten aus der Subsahara angegriffen. Es kommt zu Razzien und Vertreibungen durch staatliche Sicherheitskräfte und durch dem Regime nahestehende Milizen. Die Stimmung ist aufgeheizt wie selten in den letzten Jahren. Auch Yassine hatte monatelang Angst, festgenommen zu werden. Doch Repression und Unsicherheit bedeuten, dass der Frust weiter wächst und die Schlepper mit neuen Kunden rechnen können. Neue Zahlen deuten darauf hin, dass die irregulären Überfahrten bald wieder zunehmen könnten. Und je schwieriger die Bedingungen für eine Ausreise nach Europa werden, desto stärker steigen die Preise.
Noch in diesem Monat will Yassine seinen Account wieder aktivieren.
* Name geändert.
Bildquellen:
Bild 1 (Paris): Facebook
Bild 2 (Schlauchboot): Facebook
Bild 3 (Zürich, Altstadt): Tiktok
Bild 4 (Ausrüstung): Tiktok