Donnerstag, Januar 23

Der Bücherskorpion ist ein winziges Spinnentier mit vielen Talenten. Er lebt in Bibliotheken, jagt Staubläuse und produziert einen besonderen Giftcocktail.

Zwei mächtige Scheren werfen diffuse Schatten im Dämmerlicht. Eine ahnungslose Staublaus krabbelt das Bücherregal entlang. Sekunden später zappelt das Insekt in den borstigen Zangen des Jägers, der sich mit der Beute in einen schmalen Spalt zwischen einem alten Lexikon und einem historischen Bildband zurückzieht.

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Was klingt wie eine Szene aus einem düsteren Horrorfilm, findet tagtäglich in unserer Umgebung statt – zumindest in Bibliotheken und Archiven. Denn so jagt der Bücherskorpion Chelifer cancroides.

Bei uns zu Hause werden wir diese dramatische Szene allerdings nur selten beobachten können. Der Bücherskorpion ist nämlich mit rund vier Millimetern echt klein. Das auffälligste Merkmal sind die rotbraunen Scheren, die im Vergleich zum restlichen Körper riesig scheinen. Es handelt sich um vergrösserte Mundwerkzeuge, sogenannte Pedipalpen. Kleinere Scheren verstecken sich im Mundbereich. Mit blossem Auge sind die allerdings kaum zu sehen.

Bücherskorpione nutzen Insektentaxis

Die acht hellbraunen Beine verraten: Der Bücherskorpion ist ein Arachnide, ein Spinnentier. Gemeinsam mit seiner scherenbewehrten Verwandtschaft ist er Teil der artenreichen Gruppe der Pseudoskorpione. Allein in Mitteleuropa sind mehr als 100 Arten bekannt. «Pseudoskorpione gehören zu den ältesten Landbewohnern», sagt Christoph Hörweg. Es gebe fossile Funde, die 390 Millionen Jahre alt seien. Erst vor 500 Millionen Jahren kamen überhaupt Arthropoden an Land.

Hörweg ist am Naturhistorischen Museum Wien Kurator für die Spinnentiere. Der Namensteil «Pseudo» verrate, dass diese Tiere keine echten Skorpione seien, sagt er. Pseudoskorpionen fehlt der gegliederte Schwanz, der bei Skorpionen häufig nach oben gebogen über den Körper ragt und am Ende den Giftstachel trägt. Der Hinterkörper der Pseudoskorpione ist rundlich abgeflacht und erinnert eher an den einer Milbe oder Zecke.

Wollen wir sie beobachten, müssen wir – nicht nur wegen ihrer Winzigkeit – ganz genau hinschauen. Die Tiere leben heimlich, verborgen in Laubstreu, Spalten und Ritzen. Ihr flacher Körper ist daran perfekt angepasst. Die meisten Arten sind häufig und weit verbreitet. «Selbst in den Alpen in 2900 Metern Höhe kann man Pseudoskorpione finden», sagt Christoph Hörweg.

Um neue Lebensräume zu besiedeln, nutzen die Spinnentiere einen Trick. Denn auch wenn sie flink sind – für winzige Tiere ist es schwierig, grosse Strecken aus eigener Kraft zurückzulegen. «Pseudoskorpione nutzen Insekten als Taxis», sagt Hörweg, etwa Fliegen oder Käfer. Macht sich beispielsweise ein Bockkäfer auf zu einem abgestorbenen Baum, klammert sich das Spinnentier an Beine oder Deckflügel und fliegt einfach mit. So erreicht es neue Jagdgründe ebenso wie potenzielle Partner.

An den Mundwerkzeugen haben Bücherskorpione Spinndrüsen. Sie fertigen aber keine auffälligen Netzkunstwerke an, wie etwa die Radnetzspinnen. Ihre feinen Gespinste schützen den Nachwuchs, der sich innerhalb weniger Wochen und nach drei Häutungen vom Ei zum ausgewachsenen Spinnentier entwickelt. Ausserdem überwintern Bücherskorpione in solchen Gespinsten; Pseudoskorpione können bis zu drei Jahre alt werden.

Ungefährlich für den Menschen

Pseudoskorpione sind Jäger – so auch der Bücherskorpion. In freier Natur lauert er unter der Rinde von Kiefern und Platanen oder in Vogelnestern Springschwänzen, Staubläusen und Milben auf. Verschlägt es ihn in Wohnungen und Häuser, jagt Chelifer cancroides aber auch Bettwanzen und Bücherläuse. Vor allem Letztere findet der Räuber häufig in Bibliotheken, Archiven und Museen. Unter anderem in und auf Büchern. Daher hat der Bücherskorpion seinen deutschen Namen.

Seine Beute erlegt er mithilfe seines Gifts. Mit den zangenartigen Scheren greift das Spinnentier eine Staublaus oder Bettwanze und bohrt dabei mikroskopisch kleine Löcher in die Hüllen der Insekten. Durch die injiziert der Bücherskorpion einen giftigen Cocktail, der die Beute betäubt. In aller Ruhe kann er dann das Innere des gefangenen Insekts aussaugen.

Menschen sind vor dem Gift der Spinnentiere sicher. Bücherskorpione sind viel zu klein und die Zangen zu schwach, um menschliche Haut zu durchdringen.

Das Gift von Hunderten Tieren

Seit einigen Jahren interessiert sich die Wissenschaft für das Gift des Bücherskorpions – um es für den Menschen zu nutzen. Tim Lüddecke leitet die Nachwuchsgruppe Animal Venomics am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Giessen. Eigentlich arbeitet der Biologe hauptsächlich mit Schlangen und Spinnen. Aber mit Lüddeckes Mitarbeiter Jonas Krämer kamen auch die Bücherskorpione aus Köln nach Giessen.

«Wir wissen kaum etwas über die Gifte der riesigen Gruppe von Pseudoskorpionen», sagt Lüddecke. Dabei gebe es weltweit mehr als 3000 Arten, und nur wenige würden erforscht. Der Biologe ist sicher: «Die Wahrscheinlichkeit, in unerforschten Tiergruppen etwas fundamental Neues zu finden, ist gross.»

Um eine Substanz analysieren zu können, benötigt man einige Tropfen davon. Pseudoskorpione jedoch sind nur wenige Millimeter gross, ihr Gift ist entsprechend spärlich. Um dennoch ausreichend Volumen für Messungen zu erhalten, sammelten die Forschenden das Gift von Hunderten Tieren.

Auch deshalb sei die Wahl auf den Bücherskorpion gefallen, erinnert sich Lüddecke. Er kommt vergleichsweise häufig vor und ist leicht aufzuspüren. Die ersten Tiere beispielsweise fand Jonas Krämer auf Kölner und Bonner Heuböden. «Mittlerweile halten und züchten wir Bücherskorpione hier im Haus», sagt Lüddecke.

Die Methode, ans Gift der kleinen Spinnentiere zu gelangen, entwickelte Krämer während seiner Doktorarbeit an der Universität Köln: Die Forschenden fixieren einen Bücherskorpion zwischen zwei Glasplatten, so dass nur noch seine Scherenspitzen herausragen. Über die stülpen sie eine Kapillare, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist, und reizen die Pedipalpen mit kurzen Stromstössen. «Dadurch krampfen die Muskeln zusammen, und das Gift wird freigesetzt», erklärt Lüddecke.

Willkommene Antibiotika-Kandidaten

«Melken» nennt er diese Prozedur, bei der Bücherskorpione im Schnitt fünf Mikroliter Gift absondern. Nach dem Melken kehren die Spinnentiere in ihre Unterkunft zurück, wo sie sich erholen können. Jedes Tier kann so etliche Male Gift abgeben.

Bereits 2021 hat Jonas Krämer das Gift des Pseudoskorpions analysiert und neue Verbindungen entdeckt. «Diese Checacine ähneln Toxinen aus echten Skorpionen, die bekannt für ihre antibiotische Wirkung sind», sagt Lüddecke. Nach etlichen Tests war klar: Auch einige der Checacine aus den Bücherskorpionen töten Bakterien – unter anderem den gefürchteten Krankenhauskeim Staphylococcus aures. In Zeiten zunehmender Resistenzen sind neue Antibiotika-Kandidaten hochwillkommen.

Der vielversprechendste Kandidat, Checacin 1, tötet aber nicht nur krank machende Keime. Die Forschenden stellten fest, dass der potenzielle Wirkstoff in Kulturen auch menschliche Zellen schädigt. Das ist für den Einsatz als Medikament ein Dilemma. Das Team um Lüddecke arbeitet deshalb daran, Checacin 1 mittels Bioengineering zu verbessern. Minimale Änderungen in der Abfolge der Aminosäuren oder der Struktur können die Eigenschaften einer Substanz verändern, sie zum Beispiel wirksamer oder weniger toxisch machen.

Und die Suche nach neuen Wirkstoffen beginne erst, sagt der Biologe. «Wir haben in einer Art acht Kandidaten für Antibiotika gefunden.» Blieben noch Tausende weitere Pseudoskorpione, die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nun untersuchen könnten. Die Statistik sei auf ihrer Seite, sagt Lüddecke. «Die Wahrscheinlichkeit, dass wir noch bessere Substanzen finden, ist hoch.»

Bleibt die Herausforderung, zunächst einmal weitere – winzige und verborgen lebende – Pseudoskorpione in ausreichender Menge zu finden.

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