Donnerstag, Januar 2

Sie zelebrieren die Kameradschaft, den Gesang und das Bier. Das scheint viele Männer über Jahrzehnte hinweg anzuziehen. Über eine der ältesten Studentenverbindungen der Schweiz.

Im ersten Stock der Kantorei wird gejohlt und gesungen. Die Tische zittern und beben, wenn die Anwesenden im Takt auf die Holzplatten hämmern. «Silentium, meine Herren!», ruft Tim Ehrensberger, der Präsident der Zürcher Singstudenten. In seiner Hand hält er einen hölzernen Schläger, der Phallus genannt wird. Damit schlägt er dreimal auf den Tisch, und 26 Männer verstummen sofort.

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«Wir starten», sagt Ehrensberger und begrüsst den Altherrenpräsidenten Urs Bretschger. Bretschger steht auf. Er ist ein schlanker Typ, 67 Jahre alt, pensioniert. Die anderen johlen: «Bretschgi, Bretschgi, Bretschgi!» Dann ext er sein volles Bier.

«Bretschgi», der Altherr

In der «Kneip» über dem Restaurant Kantorei im Zürcher Niederdorf findet ihr wöchentlicher Stamm statt. Die Zürcher Singstudenten wurden 1849 gegründet und sind seither der offizielle Chor der Universität und der ETH. Dieses Jahr feiern sie Jubiläum. Seit 175 Jahren singen und trinken sie. Über 300 Mitglieder zählt die Verbindung, die jüngsten sind 19, die ältesten 99 – allesamt Männer.

Als Altherrenpräsident ist Urs Bretschger regelmässig auf der «Kneip» zu Gast. Er sei 1979 während des Jurastudiums durch einen Freund in der Verbindung gelandet, erzählt er im Gespräch mit der NZZ.

Links: Urs Bretschger ist der «AH-X», der Präsident der Altherren. «X» steht in der Verbindung für den Präsidenten. Rechts: Jede Studentenverbindung hat eine Art Wappen. In dieser blau-weissen Variante ist ein sogenannter Zirkel zu erkennen. Die geschnörkelten Buchstaben stehen für «StGV»: Studentengesangsverein.

Bretschger habe sich von Anfang an wie zu Hause gefühlt, sagt er. «Dass dieser Betrieb sehr strukturiert, verbindlich und langfristig als Lebensverbindung funktioniert, hat mich überzeugt.» Deshalb sei er geblieben.

Er habe sich sehr für Sport interessiert, sagt Bretschger. Trotzdem habe ihn das Musikalische angesprochen. Singen sei nach wie vor ein grosser Bestandteil des Verbindungslebens, nicht nur Bier trinken.

Ab ovo – von Anfang an

Die Zürcher Singstudenten wurden offiziell am 22. Januar 1849 gegründet. Inoffiziell gab es sie schon etwas länger, nicht als Verbindung, aber als Chor. Sie entstanden in einer Zeit, in der sich die Schweiz in einem politischen Umbruch befand.

Ein Jahr zuvor, 1848, war der heutige Bundesstaat gegründet worden. Die liberalen Mächte hatten sich im Sonderbundskrieg gegen die konservativen Kantone durchgesetzt. Ein Jahrzehnt zuvor, 1833, war die Universität Zürich ins Leben gerufen worden. 159 Studenten, nur Männer waren zugelassen, hatten sich fürs erste Semester immatrikuliert.

Mit der Entstehung der Uni formte sich das studentische Leben. Und so gründete Wilhelm Baumgartner die Zürcher Singstudenten. Baumgartner war der erste Musikdirektor der Verbindung, auf ihn folgten bis heute acht weitere. Der Musikdirektor leitet, komponiert, dirigiert. Baumgartner vertonte zudem den Couleurkantus, das Vereinslied: «Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust und lauter Liederklang.»

Zurück in die Gegenwart. In der Kantorei wird der Couleurkantus angestimmt. Mit geschwollener Brust stehen die Studenten um die Tische. Sie singen Arm in Arm. Brüderlich.

Die meisten Studentenverbindungen singen, das gehört gewissermassen dazu. Die Singstudenten sind aber auf einem anderen Niveau, mit mehrstimmigen Harmonien, perfekten Einsätzen. Man merkt ihnen die Freude am Gesang an.

Krokodil und Mumie

Ein Singstudent muss Dutzende von Regeln befolgen und Lieder kennen. In der Verbindungskarriere fängt man als Fux an und arbeitet sich zum Burschen hoch. Bretschger sagt, für die Burschenprüfung müsse man ein ganzes Prozedere durchlaufen, 50 Lieder auswendig lernen oder die Geschichte des Biers büffeln. Ist man dereinst Bursche, wird man nach Studienabschluss Altherr – Alter egal. Singstudent bleibt man ein Leben lang. So wie Bretschger. Ad aeternum.

Die Singstudenten tragen ein blau-weiss-blaues Band, und wer dies will, eine schwarze Schirmmütze. Bretschger erklärt, Blau sei die Sängerfarbe und Blau-Weiss jene der Stadt Zürich. Rot hingegen ist auf der «Kneip» unerwünscht. Er sagt, einerseits sei es eine Abgrenzung zu anderen Verbindungen mit roten Farben. Andererseits waren rote Krawatten einst ein Kommunistensymbol, das sie als unpolitische Verbindung verpönten.

Den Mutigen, die es trotzdem wagen, rot gekleidet den oberen Stock zu betreten, wird die Krawatte oder der Schal abgeschnitten. Und dann, wie eine Trophäe, um einen ausgestopften Fuchskopf gehängt. Unter den Beutestücken findet sich unter anderem ein Farbenband der Zofingia.

Die Wände der «Kneip» sind in Holz getäfelt. Ein Raum mit urchigen Tischen und einer umgebauten Küche, die als Bierstation fungiert. Es riecht nach abgestandenem Rauch. Überall findet man Kuriositäten: Ein ausgestopftes Krokodil schwebt über dem Klavier, an der Wand hängen Rapiere und Fotos, sogar eine ägyptische Mumie versteckt sich in einer Ecke. Die «Kneip» ist ein Sammelsurium aus 175 Jahren Geschichte.

Bevor die Singstudenten in der Kantorei einkehrten, trafen sie sich in der «Bollerei». Das war eine Beiz an der Schifflände. Als diese 1955 schliessen musste, waren die Singstudenten heimatlos. 1966 kauften acht Altherren die Liegenschaft Zur Weissen Traube am Zürcher Neumarkt. Und benannten sie, angelehnt an die «Bollerei», zur Kantorei um. Mittlerweile gehört das Gebäude dem Verein Verbindungshaus Zürcher Singstudenten.

Mit der Kantorei hatten die Singstudenten ihr Refugium gefunden. Mit der längsten, so munkelt man zumindest, Bierleitung der Stadt Zürich. Kaltes Bier, vom Keller in den ersten Stock. Direkt zu den durstigen Singstudenten.

Während der Proben werde nicht getrunken, sagt Bretschger. Dafür davor und danach. Der Bier-Comment, ein Regelbuch zum Trinken, beschreibt, wann und wie man sich verhalten soll. Und wie unzulässiges oder störendes Verhalten mit Bier bestraft wird.

Wenn man beispielsweise einen Stuhl umstösst, muss man zwei Bier exen. Lässt man sein blaues Singbüchlein offen liegen, können die anderen ihre Biergläser auf das Buch stellen, die man dann ebenfalls in einem Zug kippen muss. Wer über den Durst trinkt, für den gibt es einen Ort, um sich zu erleichtern. Bei den Singstudenten bekannt als «Chotzophonium».

Links: Die Lampe ist ein Geschenk der Berner Singstudenten von 1925. Sie zeigt das Zürcher Wappen und den Berner Bär, je mit Verbindungszirkel. Rechts: Die längste Bierleitung Zürichs, so munkelt man, führt vom Keller der Kantorei in die «Kneip».

In der Verbindung bestimmt das Bier sogar Beziehungen. Bei den Singstudenten hat man Bierfamilien. Der jeweils jüngste Bursche nimmt sich als Götti eines Fuxen an. Und begleitet ihn als Biervater seiner Familie durch das Singstudentenleben. So entstehen ganze Bierdynastien.

Vivat, crescat, floreat!

«Es gibt wenige Vereine, bei denen sich Junge und Alte so stark austauschen», sagt Bretschger. Die Beziehung sei eine Art Kreislauf: Wenn man jung sei, werde man von den Alten unterstützt. Werde man selber älter, unterstütze man die Jungen. Ganz nach dem Motto: vivat, crescat, floreat. Es lebe, wachse und gedeihe.

Man müsse niemanden kennen, um der Verbindung beizutreten, sagt Bretschger. Aber meistens sei es schon so, dass ein Freund jemanden mitbringe, oder dass ein Familienmitglied bereits Singstudent sei.

So war es auch beim 25-jährigen Tim Ehrensberger. Sein Vater und sein Götti sind beide Singstudenten.

Als Präsident der Aktivitas leitet er an diesem Donnerstag den Stamm, er ist «das Hohe». Sobald der offizielle Teil vorbei ist, eröffnet er das «Colloquium», die Singstudenten dürfen frei miteinander sprechen.

Tim Ehrensberger setzt sich mit ein paar anderen an den Tisch der Journalistin von der NZZ. Sie hätten «nichts gegen Frauen», sagen sie von sich aus. Dass sie keine Frauen aufnehmen, sei in erster Linie, weil sie ein Männerchor seien. Die Lieder seien für Bass- und Tenorstimmen geschrieben. Natürlich bestehe die Möglichkeit, dass man das ändere. Aber er sagt: «Die Frage ist: Braucht es das?»

Man müsse nicht immer alles durchmischen, sagt Ehrensberger. Auf der «Kneip» könne man in einer vertrauten Runde zusammensitzen, alles Besprochene bleibe unter ihnen. Zudem gebe es genügend Anlässe, bei denen auch Frauen willkommen seien. So etwa beim Maiensingen oder bei der Ufenaufahrt.

Aber grösstenteils seien sie unter sich. Singstudent zu sein, heisse auch, gewissen Verpflichtungen nachzukommen, sagt er. Wöchentlicher Stamm am Donnerstag, Proben, Konzerte, Zusammenkünfte. Viel Programm für einen Singstudenten.

Aber genau das sei auch das Schöne daran. Je älter er werde, desto mühsamer sei es, Freunde zu treffen, sagt Ehrensberger. Durch die Anwesenheitspflicht bei den aktiven Singstudenten ergebe sich das von selbst. Ehrensberger sagt: «Jeden Donnerstag auf der ‹Kneip› treffe ich einige meine besten Freunde.» Zusammen singen sie und trinken Bier.

Und dabei sei es egal, welche politische Einstellung jeder Singstudent habe. Ehrensberger sagt: «Viele von uns haben unterschiedliche politische Meinungen.» Als Verein seien die Singstudenten politisch neutral. Er sagt, oben auf der «Kneip» werde niemand diskriminiert.

Am Stamm ist der offizielle Teil mittlerweile vorbei. Fast alle sind gegangen. Nur noch fünf, sechs Farbenbrüder verweilen auf der «Kneip». Alle mit einem Bier vor sich. Die Tür ist geschlossen. Drinnen läuft Musik. Die Singstudenten singen mit.

Die Strophen sind aber nicht von Gottfried Keller, sondern die einer britischen Pop-Sängerin, Natasha Bedingfield: «Feel the rain on your skin. No one else can feel it for you. Only you can let it in.» Wenigstens eine Frau scheint es zu den Singstudenten geschafft zu haben. Zumindest musikalisch.

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