Aus der Vogelperspektive betrachtet, macht die Eidgenossenschaft einen statischen Eindruck. Das trügt. Sie ist ein ungeheuer dynamisches Land. Und seine Entwicklung verlief ruckartig.
Ist es noch dasselbe oder nicht? Diese Frage stellten sich antike Philosophen, als sie über das Schiff des Theseus stritten. Über Hunderte von Jahren war in Athen das Schiff des mythischen Königs öffentlich ausgestellt. Die einen behaupteten, das Schiff sei nicht mehr dasselbe, weil seine Planken über Jahrhunderte mehrmals ersetzt worden seien. Die anderen argumentierten, es habe sich nichts verändert, weil die Form gleich geblieben sei. Das Schiff des Theseus existiere weiterhin.
Die Frage ist nicht nur für die Freunde der Schifffahrt interessant. Sie ist auf jede historische Veränderung anwendbar, zum Beispiel auf die Geschichte der Nationen. Hat das Deutschland von heute noch etwas mit dem Deutschland von 1871 zu tun? Auf den ersten Blick fallen nur Unterschiede ins Auge: Der Grenzverlauf ist anders, die Staatsform ist eine andere, und die politischen Meinungen der Menschen sind gezeichnet von einem Jahrhundert der Brüche: Revolution und Weimarer Republik 1918/19, Nazi-Diktatur 1933–45, Gründung der BRD und der DDR 1949, Wiedervereinigung 1990. Trotzdem sprechen wir immer noch von Deutschland.
Bei der modernen Schweiz scheint die Antwort viel einfacher zu sein, weil es keine mit Deutschland vergleichbaren historischen Brüche gab. Die Verfassung von 1848 prägt bis heute Politik und Recht, selbst die Grenzen des Landes haben sich kaum verändert. Doch dieser Eindruck täuscht. Auch hierzulande sind die Planken immer wieder ersetzt worden, so dass die Schweiz von heute keineswegs mehr dieselbe ist wie diejenige von 1848.
Gerade weil die Renovationsarbeiten ohne Revolution vonstattengingen, ist vergessengegangen, wie grundlegend die Veränderungen waren. Dies hat auch Konsequenzen für die Beurteilung der Gegenwart. Wenn alles so ist, wie es schon immer war, besteht die Gefahr, dass man glaubt, in einem Land zu leben, das es gar nicht mehr gibt. Das führt zu falschen Schlüssen und irregeleiteten Entscheidungen.
Krisen und Verwerfungen
Nur aus der Vogelperspektive betrachtet hinterlässt die Schweiz einen statischen Eindruck. Wer sich ins historische Unterholz begibt, entdeckt ein ungeheuer dynamisches Land. Die Entwicklung verlief auch keinesfalls kontinuierlich, sondern ruckartig, besonders in der Wirtschaft. Schmerzhafte Konjunkturkrisen in den 1870er, 1930er und 1990er Jahren brachten grosse Verwerfungen mit sich, und der Strukturwandel war bisweilen erbarmungslos.
Die Textilindustrie erlebte in den 1920er Jahren einen dramatischen Abstieg, die Uhrenindustrie kämpfte in den 1970er Jahren um ihre Existenz. Der Bankensektor wurde in den letzten zwanzig Jahren arg dezimiert. Gleichzeitig erlebten neue Branchen einen spektakulären Aufstieg, etwa die Chemieindustrie vor dem Ersten Weltkrieg oder die Medizinaltechnik im späten 20. Jahrhundert. Die Schweiz kannte deshalb nie hohe strukturelle Arbeitslosigkeit.
Grosse Brüche gab es seit 1848 auch bei der institutionellen Entwicklung, nur sind diese im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Es herrscht allenthalben die Vorstellung, die Bundesstaatsgründung sei mit einem Bauplan für die Zukunft verbunden gewesen. Das war keineswegs der Fall. Mindestens drei Mal sind die Institutionen der Schweiz in einer Weise verändert worden, die jenseits der Visionen der Gründungsväter lag: 1874, 1914 und 2000.
1874: ein neues Referendum
Das erste dieser drei Daten dürfte noch einigermassen bekannt sein: 1874 gab sich die Schweiz eine neue Verfassung. In der Schule wird dieses Ereignis aber meist nur als Anhängsel von 1848 betrachtet, dabei war es weit mehr als das. Die Einführung des fakultativen Referendums bei Bundesgesetzen und bestimmten Bundesbeschlüssen änderte das politische System grundlegend.
Seit 1874 müssen sich Regierung und Parlament bei der Ausarbeitung eines neuen Gesetzes von Beginn an genau überlegen, wie sie die Vorlage zimmern, wenn sie eine Abstimmung an der Urne gewinnen wollen. Das geht nur durch die Einbindung aller Kräfte, die referendumsfähig sind. Weil die oppositionellen Katholisch-Konservativen nach 1874 eine Abstimmung nach der anderen gewannen, erhielten sie bereits 1891 einen Bundesratssitz.
Sofort zeigte sich, dass die Integration das erwünschte Ergebnis brachte. Der neue Bundesrat, der Luzerner Josef Zemp, übernahm das Post- und Eisenbahndepartement (heute Uvek) und gewann sieben Jahre später die Volksabstimmung über die Verstaatlichung der privaten Eisenbahnen und die Gründung der SBB. Vor seinem Eintritt in die Regierung hatte er diese Vorlage heftig bekämpft. Es sei viel zu teuer, es lohne sich nicht, es überfordere den Bundeshaushalt, erklärte er in der Nationalratsdebatte. Ein paar Jahre später spielte dieses Argument keine Rolle mehr.
Die Verfassung von 1874 enthielt darüber hinaus eine Reihe von wichtigen Bestimmungen, die weit über die Grundsätze von 1848 hinausgingen: unbedingte Glaubens- und Gewissensfreiheit, freie Niederlassung, Recht der Eheschliessung unter Garantie des Bundes, obligatorischer und unentgeltlicher Schulunterricht unter staatlicher Leitung, Handels- und Gewerbefreiheit, Schutz der Arbeiter und Kinder in den Fabriken, die Abschaffung der Todesstrafe und die Schaffung eines ständigen Bundesgerichts.
Doch so bedeutend diese Neuerungen in der Zeit auch waren, sie hatten in institutioneller Hinsicht keine entscheidende Wirkung. Nach wie vor galt, dass die Kantone die dominierenden Einheiten waren. Nur die Armee, die Aussenpolitik und die Verwaltung der ETH, der SBB und der Post waren ganz in der Hand des Bundes.
Wie tief das Misstrauen gegenüber dem Bund damals war, zeigt der politische Streit um die Gründung der Nationalbank. Zunächst beschloss das Parlament, eine Notenbank zu gründen, die zu hundert Prozent im Besitz des Bundes war. Diese «Bundesbank» hatte 1897 an der Urne keine Chance. Die Westschweizer Kantone und die katholischen Deutschschweizer Kantone stimmten mit grossem Mehr dagegen – die Waadt, das Wallis und Obwalden mit mehr als 90 Prozent.
Ulrich Dürrenmatt, Chef der konservativen bernischen Volkspartei und Grossvater des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, schrieb triumphierend: «Das war ein herrlicher Sonntag. Das Machwerk ist zertrümmert und damit eine furchtbare politische und wirtschaftliche Gefahr von unserem teuren Vaterland abgewendet.» Die neue Vorlage trug dieser Opposition Rechnung. Die 1905 gegründete Nationalbank gehört bis heute mehrheitlich den Kantonen und den Kantonalbanken.
1914: Vollmachten für den Bund
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte sich vieles fundamental. Deshalb markiert das Jahr 1914 die zweite Neugründung. Der Bund wurde nun zur wichtigsten Instanz in der Schweizer Politik und ist es bis heute geblieben. Artikel 3 des Bundesbeschlusses nach Ausbruch des Kriegs im August 1914 gab ihm sozusagen einen Freipass: «Die Bundesversammlung erteilt dem Bundesrate die unbeschränkte Vollmacht zur Vornahme aller Massnahmen, die für die Behauptung der Sicherheit, Integrität und Neutralität der Schweiz und zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes, insbesondere auch zur Sicherung des Lebensunterhalts, erforderlich werden.»
Von diesen unbegrenzten Möglichkeiten der Machtausübung machte der Bund bald Gebrauch, weil der Erste Weltkrieg enorme Anforderungen stellte, selbst für ein reiches Land wie die Schweiz, das vom Krieg verschont blieb. Die grösste Herausforderung war die Finanzierung der Armee. Bereits im November 1914, nur drei Monate nach Kriegsausbruch, warnte der Bundesrat vor einem Staatsbankrott: «Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir sagen, dass die Erhaltung des Kredites des Bundes eine Lebensfrage darstellt nicht nur für den Staat allein, sondern für die gesamte nationale Tätigkeit in allen ihren Erscheinungsformen.»
Er schlug deshalb eine «einmalige eidgenössische Kriegssteuer» vor – «nur als vorübergehende und ausserordentliche Massnahme». Parlament, Volk und Stände nahmen die Vorlage mit überwältigender Mehrheit an. Was vor dem Krieg als tabu gegolten hatte, war nun Realität: Zum ersten Mal in seiner Geschichte durfte der Bund direkte Steuern erheben. Bis 1914 hatte er sich ausschliesslich durch Zolleinnahmen und indirekte Steuern finanziert.
Zur Tilgung der hohen Kriegsschulden, die sich trotz neuen Steuern angehäuft hatten, stimmten Volk und Stände einer «neuen ausserordentlichen Kriegssteuer» zu, die bis 1932 erhoben wurde. Damit war die finanzielle Last abgebaut, aber da 1929 eine schwere Wirtschaftskrise über das Land hereingebrochen war, führte der Bund 1934 die temporäre Krisenabgabe ein, die bis Ende des Jahrzehnts erhoben wurde.
Im Zweiten Weltkrieg kam es schliesslich zur Einführung einer temporären Wehrsteuer, weil die Finanzierung der Armee erneut enorme Defizite zu verursachen drohte. Sie ist bis heute temporär geblieben und wird heute als direkte Bundessteuer bezeichnet. Der sozialdemokratische Finanzminister Max Weber wollte das Provisorium beenden und die Wehrsteuer in der Verfassung verankern, scheiterte mit seinem Projekt aber an der Urne und trat freiwillig zurück – ein äusserst seltener Akt in der neueren Schweizer Geschichte. Das Provisorium muss deshalb an der Urne immer wieder verlängert werden, zuletzt im Jahr 2018 für die nächsten fünfzehn Jahre.
Die Kriegs- und Krisenzeit, die 1914 einsetzte und rund dreissig Jahre dauerte, brachte nicht nur steuerpolitisch eine grosse Machtverschiebung. Der Bund übernahm ab den 1920er Jahren auch das Zepter bei den Sozialversicherungen, und in der Wirtschaftspolitik erhielt er die Kompetenz, in bestimmten Fällen die Handels- und Gewerbefreiheit auszusetzen. Die Bundesbehörden hatten sich so stark an das Vollmachtenregime gewöhnt, dass sie sich selbst nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs weigerten, es ganz wieder abzubauen.
Fast wären sie damit durchgekommen. Nur dank einem knappen Mehr zugunsten der Volksinitiative «Rückkehr zur Demokratie» konnte das Vollmachtenregime 1949 ganz abgebaut werden. Um ein Haar hätte die «zweite Neugründung der Schweiz» des Jahres 1914 das Erbe von 1874 beerdigt. Der Bund blieb dennoch die wichtigste Instanz der Schweizer Politik. Das Rad der Geschichte konnte nicht mehr zurückgedreht werden.
2000: Bilaterale I
Zu einer grösseren institutionellen Änderung kam es erst wieder im Jahr 2000, auch wenn in der Zwischenzeit viel passiert war. Doch es handelte sich bei diesen Ereignissen nicht um wesentliche institutionelle Weichenstellungen, die hier im Zentrum stehen. Das gilt selbst für eine so wichtige Entscheidung wie die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene im Jahr 1971. Sie änderte nichts am Erbe von 1874 und 1914, das heisst an der Funktionsweise der Gesetzgebung und der Vormachtstellung des Bundes. Ihre Bedeutung lässt sich anders begründen.
Das Jahr 2000 steht nicht, wie man zunächst vermuten könnte, für die neue Bundesverfassung, die in diesem Jahr in Kraft trat, denn sie enthält im Gegensatz zu 1874 keine tiefgreifenden Neuerungen. Mit dem Jahr 2000 ist vielmehr die Abstimmung über die Bilateralen I gemeint, die am 21. Mai 2000 vom Volk mit 67 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen wurden und seit 2002 gelten.
Sie stehen stellvertretend für einen Paradigmenwechsel, der in den 1990er Jahren in vielen Ländern stattgefunden und auch hierzulande ein grosses Ausmass erreicht hat, obwohl die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (1992) ablehnte. Es geht um die Delegation eines grossen Teils der Gesetzgebung an supranationale Organisationen. Ob dies gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Es geht hier nur darum, die Gegenwart aus einer längerfristigen Optik besser zu verstehen. Die Annahme der Bilateralen I ist ein Wendepunkt.
Natürlich hat die Schweiz bereits im späten 19. Jahrhundert internationale Abkommen unterzeichnet. Sie wurde sogar Sitz der Telegraphenunion (1869), des Weltpostvereins (1874), des Internationalen Patentamtes (1883), der Union zum Schutze der literarischen und künstlerischen Werke (1896) und des Eisenbahntransportamtes (1890).
Sie machten das Land zu einem Knotenpunkt der internationalen Zusammenarbeit – und boten als willkommenen Nebeneffekt ehemaligen Bundesräten ein gutes Einkommen. Zudem enthielten die Handelsverträge gewisse Regeln, die einzuhalten waren. Aber die direkte Verbindung zwischen internationalem und schweizerischem Recht ist neu. Nicht einmal die Mitgliedschaft beim Völkerbund (1920), welche die Neutralität der Schweiz einschränkte, ist mit der heutigen Situation vergleichbar.
Die Euphorie ist verflogen
Am besten lässt sich die fundamentale Veränderung bei der Migrationspolitik zeigen. Die Schweiz hat seit 2002 die Souveränität über die Zuwanderung aus der EU zu einem grossen Teil verloren. Es ist richtig, dass die Schweiz seit langem ein Einwanderungsland ist und dass es auch früher Perioden mit hoher Zuwanderungsrate gab. In der Wachstumsphase von 1885 bis zum Ersten Weltkrieg stieg der Ausländeranteil von gut 7 auf 15 Prozent. In den Städten erreichte er im Durchschnitt fast 30 Prozent.
Von 1950 bis 1970, als die Schweizer Wirtschaft in grossem Stil italienische Saisonniers und Jahresaufenthalter rekrutierte, stieg der Ausländeranteil von 6 auf 16 Prozent. Aber in diesen Zeiten hatte die Schweiz stets die Möglichkeit, ihre Einwanderungspolitik im Wesentlichen selber zu bestimmen. Sie musste Rücksicht auf die Nachbarländer nehmen, aber hatte einen Spielraum. Dieser existiert heute nicht mehr.
Offen ist die Frage, ob die dritte Neugründung seit 1848, die 2000 begann, schon abgeschlossen ist. Viele internationale Ereignisse der jüngsten Zeit deuten ja darauf hin, dass die Euphorie der 1990er Jahre endgültig erloschen ist. Die Grossmächte haben sich von den internationalen Verpflichtungen abgewandt, selbst in den EU-Gründungsländern regt sich grosser Widerstand gegen das dem Nationalstaat übergeordnete Recht.
Laut der «Financial Times» hat die EU-Kommission inzwischen resigniert, wenn es darum geht, die Vertragsverletzungen der Mitgliedsländer zu ahnden. Die Zahl der Enforcement-Verfahren ist um 80 Prozent eingebrochen. Eine neue IWF-Studie hat aufgezeigt, dass in der EU der durchschnittliche Zoll beim grenzüberschreitenden Güteraustauch 44 Prozent beträgt, bei den grenzüberschreitenden Dienstleistungen 110 Prozent.
Die ernüchternde Schlussfolgerung des IWF lautet: «Die harte Wahrheit ist, dass die EU noch weit davon entfernt ist, als echter Binnenmarkt zu funktionieren.» Nicht nur in Washington, auch in den europäischen Hauptstädten grassiert der Protektionismus.
Quer zum Trend
Und in der Schweiz? Auch hierzulande zeigen sich dieselben Ermüdungserscheinungen bei der Übernahme von internationalem Recht. Das Parlament hat letztes Jahr das Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kritisiert. Die Initiative zur 10-Millionen-Schweiz soll laut Politprofis durchaus Erfolgschancen haben. Die Zahl der Leserbriefe, die sich über die Folgen der Zuwanderung im Pendelverkehr und im Wohnungsmarkt in den Städten beschweren, hat deutlich zugenommen.
War vor zehn Jahren jede öffentliche Kritik an der Personenfreizügigkeit ein Sakrileg, ist sie heute an der Tagesordnung. Angesichts dieser starken Skepsis gegenüber internationalen Abkommen bleibt es ein Geheimnis, wie der Bundesrat zu dem Schluss gekommen ist, dass ein weiterer Souveränitätsverzicht an der Urne auf Zustimmung stossen wird. Das Paket Schweiz – EU steht quer zum Trend der Gegenwart.
Ein Rückbau dürfte jedoch genauso unwahrscheinlich zu sein. Politik und Verwaltung sind risikoscheu und wollen am Status quo festhalten. Gleichzeitig scheint der Gegendruck aus der Bevölkerung zu gering zu sein, um eine Trendwende herbeizuführen. Man macht die Faust im Sack und verpasst den Behörden ab und zu einen Denkzettel wie zuletzt bei der Initiative zur 13. AHV-Rente. Aber einen «Swexit» werden Schweizerinnen und Schweizer nie vollziehen.
Mit anderen Worten: Die dritte Neugründung ist vollzogen. Es hat sich in der Schweiz ein neues Gleichgewicht ergeben, das sich aus dem Erbe von 1874, 1914 und 2000 zusammensetzt. Wie lange es Bestand haben wird, vermag niemand zu prognostizieren. Nur die wenigsten hatten 1874 vorausgesehen, dass nur vier Jahrzehnte später die liberale Ordnung des 19. Jahrhunderts gleichsam über Nacht untergehen würde. 1914 wiederum war nicht absehbar, dass bei bestimmten politischen Entscheiden dereinst internationales Recht über nationalem Recht stehen würde.
Würden die Menschen, die 1848 bei der Bundesstaatsgründung dabei waren, die heutige Schweiz noch als ihr eigenes Land bezeichnen? Die Meinungen würden wahrscheinlich weit auseinandergehen. Die einen hätten Mühe, das Verbindende zu sehen, und wären entsetzt über die Veränderung der Landschaft, den Lärm, den Verkehr, die Hektik, die moderne Politik. Die anderen wären fasziniert von den grossen Brüchen und Veränderungen, die seit 1848 stattgefunden haben.
So wenig wie sich das Theseus-Paradox der antiken Philosophie auflösen lässt, so wenig lässt sich die Frage klären, was die Essenz eines Landes ausmacht. Die Schweiz ist nicht mehr die Schweiz, die sie einmal war, und doch besteht sie weiter.
Tobias Straumann ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.