Samstag, September 28

Die Schweiz hat eine der freiheitlichsten Regelungen der Sterbehilfe. Die Politik hat sich vor dem Thema immer gedrückt – auch weil die Meinungen innerhalb der Parteien krass auseinandergingen.

Am 15. Januar 2025 werden es fünfzig Jahre her sein, seit die Sterbehilfe (genauer: die Selbstbestimmung des Menschen über seinen Abgang von der Welt) in der Schweiz ein grosses Thema ist. An diesem milden Januarmorgen anno 1975 holte die Polizei den Triemli-Chefarzt Prof. Urs Peter Haemmerli aus seiner Wohnung und liess ihn erst fünf Tage später wieder gehen. Der Haftgrund: Verdacht auf vorsätzliche Tötung; Anzeigeerstatterin: seine politische Vorgesetzte, die Stadträtin Regula Pestalozzi.

Der Hintergrund: Der für sein forsches Auftreten bekannte Chefarzt wollte wegen Mangels an Pflegeplätzen sofort mehr Plätze für seine überfüllte Abteilung. Um die Dramatik der Situation zu unterstreichen, führte er die Politikerin vor die Betten der bewusstlos dahindämmernden Todkranken: «Denen geben wir jetzt nur noch Wasser.» Pestalozzi glaubte sich nach langer Bedenkzeit verpflichtet, Anzeige zu erstatten.

Der «Fall Haemmerli» hatte ein weltweites Echo. Dutzende von Reportern reisten nach Zürich. Haemmerli sagte später, er sei damals im Umgang mit der Öffentlichkeit völlig ratlos gewesen. Freunde aus dem Rotary-Club sorgten dann über die Agentur Farner dafür, dass Haemmerli angemessen zu Wort kam. Unvergessen blieb sein Satz: «Ich habe mit meinen Patienten nichts gemacht, was ich nicht auch mit meinem Vater oder meiner Mutter gemacht hätte.» Der Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft bestätigte, Haemmerlis «Null-Kalorien-Ernährung» sei nichts Aussergewöhnliches und werde auch anderswo angewandt.

Die Politik hat nichts gemerkt

Dass die Stadträtin Pestalozzi bei nächster Gelegenheit aus Kantons- und Stadtrat abgewählt wurde, war das erste Signal dafür, dass die Mehrheit des Volkes in Sachen Sterbehilfe grundlegend anders, freiheitlicher dachte als die Mehrheit der Geweihträger aus Politik, Medizin und Kirchen. Dieweil häuften sich in den Zeitungen Berichte aus England und den Niederlanden über Bestrebungen für liberale Sterbehilfe.

Schon ein halbes Jahr zuvor hatte, unabhängig vom Fall Haemmerli, der kaufmännische Lehrling Rolf Wyler aus Zürich, der einen solchen Bericht gelesen hatte, praktisch im Alleingang 5300 gültige Unterschriften für eine Volksinitiative gesammelt. Diese wollte den Kanton Zürich verpflichten, eine Standesinitiative für die Milderung des StGB-Artikels 114 einzureichen. Alle Parteien, mit Ausnahme von EVP und PdA, hielten die Initiative nicht einmal einer Parole würdig.

Zur allgemeinen Verblüffung wurde das Volksbegehren am 25. September 1977 mit 58,3 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die Zustimmung war gleichmässig, durch Stadt und Land. Die direkte Demokratie signalisierte, wie sie das Problem gelöst haben wollte.

Fünf Jahre später erlebte die pensionierte Lehrerin Hedwig Zürcher aus Oberägeri Ähnliches wie Wyler: Auch sie las in der Zeitung von der englischen «Right to die Society» und handelte, bestärkt durch Erfahrungen im eigenen Bekanntenkreis. Sie schrieb Parlamentarier und andere einflussreiche Leute an und wurde auf Rolf Wyler aufmerksam. Dessen Mutter hatte eine Freundin, die Klientin des bekannten Anwalts Walter Baechi war.

Der langjährige Anwalt von Gottlieb Duttweiler liess sich intensiv auf das Thema ein. Baechi und Zürcher liessen Chiffre-Inserate erscheinen, in denen der Plan zur Gründung eines Vereins für selbstbestimmtes Sterben skizziert wurde. Am 3. April 1982 trugen sich im Restaurant Du Pont am Zürcher Bahnhofplatz 69 Personen als Gründungsmitglieder ein. Der Name des Vereins hätte nicht klarer sein können: «Exit».

«Sterbehilfe ist wie Geburtshilfe!»

Exit war ein Start-Ziel-Erfolg und wurde in der deutschen Schweiz vom kämpferischen ehemaligen evangelischen Pfarrer Rolf Sigg organisiert. Das Schweizer Fernsehen gab mit einer denkwürdigen «Club»-Diskussionssendung im März 1989 zusätzlichen Schub. Damals prägte Hedwig Zürcher das viel zitierte Motto: «Am Anfang des Lebens braucht es die Geburtshilfe. Warum soll es dann nicht auch eine Sterbehilfe geben?»

Nach sieben Jahren zählte Exit schon 37 000 Mitglieder und rannte ständig dem eigenen Wachstum hinterher. 1997 wurde der Journalist Peter Holenstein als professioneller Geschäftsführer gewählt, aber schon ein Jahr später auf Druck von Sigg wieder abgesetzt. Nach einer tumultuösen Generalversammlung gründete der Anwalt Ludwig A. Minelli mit Holenstein und dem Kantonsrat Manfred Kuhn die Organisation Dignitas. Heute verfolgen Exit und Dignitas die gleichen Ziele in respektvoller Distanz.

In den ersten Jahren war Walter Baechi der Präsident und Vordenker – bis zu seinem persönlichen Exit (1989). Nicht die Freitodbegleitung war seine erste Priorität, sondern die Patientenverfügung, das heisst, die Durchsetzung des Auftragsrechts im Medizinbereich. Er brachte mithilfe eines Gutachtens von Prof. Max Keller der noch von autoritären Persönlichkeiten dominierten Ärzteszene bei, dass der Patient nicht Befehlsempfänger ist, sondern der Chef des Verfahrens. Baechi darf als der Erfinder der Patientenverfügung gelten, welche die Wünsche des Patienten verbindlich beurkundet.

Lustlose Politiker, flaue Debatten

Seit sich Exit in einer gewaltigen Anstrengung reorganisiert hat, ist die Sterbehilfe in der Schweiz mit einem Minimum von Regulierungsaufwand liberal geregelt. Noch immer militant ablehnend verhalten sich kirchliche (vor allem katholische und freikirchliche) Kreise. In der Ärzteschaft dürfte die Akzeptanz deutlich über 50 Prozent liegen.

Was Recht ist, hat das Bundesgericht in mehreren wegweisenden Urteilen gesagt: Jeder urteilsfähige Mensch hat das Recht, sein Leben zu beenden und sich dabei helfen zu lassen. Heime und Anstalten, die von der öffentlichen Hand unterstützt werden (das heisst praktisch alle!), können die Freitodbegleiter nicht mehr ohne weiteres ausschliessen.

Die Politik hat sich vor dem Thema Sterbehilfe immer gedrückt, weil zu allen Zeiten und in allen Fraktionen die Meinungen krass auseinandergingen.

Die Schweiz hat heute eine der freiheitlichsten und zugleich wohl humansten Regelungen dieser delikaten Materie. Die Bundesräte Christoph Blocher und Simonetta Sommaruga besassen die Klugheit, die Dossiers ruhen zu lassen und den (von den Staatsanwälten nach wie vor aufmerksam beobachteten) Organisationen zu vertrauen.

Der Druck von unten hat gewirkt

Die einzige, auffallend kurze und von erbärmlichem Niveau gekennzeichnete Debatte im Nationalrat zu dem Thema fand übrigens in der Wintersession 2001 statt. Politisch so gegensätzliche aufgestellte Ärzte wie der Liberale Felix Gutzwiller und der Linkssozialist Franco Cavalli haben damals übereinstimmend das Nötige klargestellt. Seither wurde in einer grösseren Zahl von kantonalen Abstimmungen zu Teilfragen (beispielsweise die Zulassung zu Heimen) meist mit Dreiviertelmehrheiten immer wieder bewiesen, dass die bestehende liberale Ordnung dem Volkswillen entspricht.

Vor diesem Hintergrund ist die Bewegung um die Selbstmordmaschine «Sarco» unwillkommen und überflüssig. Das bundesrätliche «Machtwort» ist gemäss Nachfrage bei kundigen Juristen übrigens nicht zweifelsfrei fundiert. Doch schon ertönen von links und rechts die Rufe nach mehr Regulierung. Wie die vielen Belege zeigen, ist die Mehrheit des Volkes für einmal mit Christoph Blocher einverstanden, der einmal gesagt hat: «Wo nichts kaputt ist, muss man nichts flicken!»

Exit wird dieses Jahr die Schwelle von 180 000 Mitgliedern erreichen.

Der Publizist Karl Lüönd hat die Haemmerli-Affäre von 1975 als Reporter aus nächster Nähe verfolgt. Zum 40. Jahrestag der Organisation Exit hat er das Buch «Selbstbestimmt bis zuletzt. Sterbehilfe in der Schweiz» (Verlag NZZ Libro) verfasst.

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