Dienstag, Oktober 22

In der Schweiz leben immer mehr Menschen. Das Bevölkerungswachstum wäre jedoch noch stärker, wenn nicht viele Ausländer wieder auswandern würden. Wie verbreitet ist das Phänomen?

147 000 – diese Zahl hat in der Schweiz für Aufruhr gesorgt. So stark ist die Wohnbevölkerung im Jahr 2023 gewachsen. Es war die grösste Zunahme seit den 1960er Jahren. Rund 9 Millionen Menschen leben nun in der Schweiz. Die Debatte über die Zuwanderung ist wieder voll entbrannt.

Für die Bevölkerungsentwicklung stehen allerdings auch zwei andere Zahlen.


Es gibt mithin eine enorme Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung. Es wandern sehr viele Menschen in die Schweiz ein – aber viele verlassen das Land auch wieder.

In der öffentlichen Debatte wird meist nur über die sogenannte Nettozuwanderung gesprochen. Sie misst die Differenz zwischen Einwanderung und Auswanderung. Die Nettozuwanderung ist eine wichtige Grösse. Im Jahr 2023 beispielsweise betrug die Nettozuwanderung rund 139 000 Personen (263 000 minus 124 000). Sie war also fast vollständig für das starke Bevölkerungswachstum in der Schweiz verantwortlich.

Aber wenn man nur auf die Nettozuwanderung blickt, bleibt die grosse Dynamik hinter dieser Zahl verborgen.

Auf der einen Seite zeigt sich, dass die Anziehungskraft der Schweiz eigentlich noch grösser ist, als dies in Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die Zahl von 263 000 Zuwanderern im Jahr 2023 bedeutet, dass allein in jenem Jahr 3 Prozent der Wohnbevölkerung neu dazugestossen sind.

Auf der anderen Seite wanderten im Jahr 2023 auch 1,4 Prozent der Wohnbevölkerung aus. Für diese Menschen war ein Leben in einem anderen Land offenbar attraktiver. Das populäre Bild, dass für immer in der Schweiz bleibt, wer einmal hier ist, stimmt nicht.

Wie gross ist die Wanderungsdynamik seit dem Beginn der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU im Jahr 2002? Die NZZ hat Daten zu den Migrationsströmen ausgewertet, die das Bundesamt für Statistik jährlich veröffentlicht.

Die Einwanderung ist viel grösser als gedacht . . .

Das Ausmass der Zuwanderung spiegelt sich in der Zahl der Menschen, die zwischen 2002 und 2023 insgesamt in die Schweiz gekommen sind. Es waren in diesen zwei Jahrzehnten kumuliert über 3 Millionen Ausländer – genau: 3,174 Millionen.

Der grösste Teil der ausländischen Zuwanderer stammte in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus den EU-Ländern. EU-Bürger machten 2 Millionen Personen oder 63 Prozent aller Eingewanderten aus. Damit war die Personenfreizügigkeit der grösste Treiber der Zuwanderung.

Die wichtigste Gruppe der Zuwanderer waren seit Beginn der Personenfreizügigkeit die Deutschen.

Kumuliert über die vergangenen zwei Jahrzehnte kamen 552 000 Deutsche in die Schweiz. Danach folgen drei ähnlich grosse Gruppen: die Italiener (287 000), die Franzosen (276 000) und die Portugiesen (275 000). Aus Spanien wanderten rund 107 000 Menschen zu, aus Grossbritannien 90 000.

. . . aber auch die Auswanderung wird unterschätzt

Wer einmal in der Schweiz lebt, bleibt nicht in jedem Fall hier. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind viele Ausländer wieder aus der Schweiz ausgewandert. Kumuliert sind es seit 2002 über 1,6 Millionen Personen – genau: 1,638 Millionen.

Rein rechnerisch gesehen hat also jeder zweite Zuwanderer das Land wieder verlassen.

Dies hat bedeutende Folgen: Ohne die starke Auswanderung wäre die ansässige Bevölkerung in der Schweiz noch viel stärker gewachsen. Die 10-Millionen-Schweiz wäre längst Realität. Tatsächlich hat die Wohnbevölkerung jedoch seit 2002 «nur» von 7,3 Millionen auf 8,9 Millionen Personen zugenommen.

Die grösste Gruppe der Auswanderer waren wiederum die Deutschen.

Kumuliert verliessen seit Beginn der Personenfreizügigkeit 273 000 Deutsche die Schweiz. Damit kehrte statistisch gesehen jeder zweite deutsche Zuwanderer dem Land den Rücken. Danach folgen die Italiener (159 000), die Portugiesen (152 000) und die Franzosen (144 000). Von den Spaniern wanderten 76 000 Personen aus und von den Briten 66 000. Diese beiden Gruppen hatten den grössten «Umschlag»: Rechnerisch gesehen verliessen über 70 Prozent der Zuwanderer aus Spanien und Grossbritannien die Schweiz wieder.

Für die Auswanderung gibt es verschiedene Gründe. Manche Personen kehren nach einigen Jahren Arbeit oder nach der Pensionierung in die Heimat zurück. Andere sind wegen einer guten Stelle in die Schweiz gekommen, können sich aber nicht mit der hiesigen Kultur des Zusammenlebens anfreunden.

Die Verweildauer der Zuwanderer ist jedenfalls erstaunlich kurz. Das Bundesamt für Statistik hat die Aufenthaltsdauer kürzlich analysiert für jene Ausländer, die im Jahr 2011 in die Schweiz eingewandert sind.

Von den Zuwanderern aus den EU-Ländern hatten 35 Prozent die Schweiz nach einem Jahr wieder verlassen. Nach drei Jahren war es knapp die Hälfte. Viele EU-Zuwanderer scheinen also nicht für immer in die Schweiz zu kommen, sondern sie nutzen die Personenfreizügigkeit, um für einige Jahre in der Schweiz zu arbeiten.

Am ausgeprägtesten ist die internationale Mobilität bei den Amerikanern. Viele von ihnen kommen als klassische «Expats» mit begrenztem Zeithorizont in die Schweiz. Nach drei Jahren haben fast zwei Drittel der Amerikaner das Land wieder verlassen.

Der Aspekt der Verweildauer ist relevant für die Beurteilung der Frage, ob die starke Zuwanderung für die Schweiz mehr Vorteile oder mehr Nachteile hat. Beispielsweise sind die EU-Zuwanderer kurzfristig wichtig für die Finanzierung der AHV oder der Krankenkassen: Sie zahlen deutlich mehr ein, als sie an Leistungen beziehen. Doch Zuwanderer können langfristig auch zu Nettoempfängern der Sozialversicherungen werden, vor allem wenn sie ihr ganzes Leben in der Schweiz bleiben und zum einkommensschwachen Teil der Bevölkerung gehören. Die Zahlen zeigen aber eher das Gegenteil: Viele EU-Zuwanderer sind hoch qualifiziert und verlassen die Schweiz nach einigen Jahren wieder.

Wer kommt, und wer geht? Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Nationalitäten

Bei der Dynamik von Einwanderung und Auswanderung zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den Herkunftsländern.

Bei den Deutschen war die Zuwanderung vor allem zu Beginn der Personenfreizügigkeit deutlich höher als die Abwanderung. In den Jahren 2007 und 2008 war deshalb die Nettozuwanderung hoch, sie betrug rund 30 000 Personen pro Jahr. Seither hat die Dynamik aber nachgelassen. In den 2010er Jahren kamen weniger Deutsche in die Schweiz, gleichzeitig wanderten vermehrt Deutsche aus. Seit 2021 zeigt sich wieder ein Trend zu höherer Zuwanderung.

Ein anderes Bild zeigt sich bei den Portugiesen. Während der ersten zehn Jahre der Personenfreizügigkeit wanderten deutlich mehr Menschen aus Portugal in die Schweiz ein, als ins Heimatland zurückkehrten. Die Nettozuwanderung war deshalb klar positiv. Aber 2017 drehte sich das Bild: Seither verliessen fast in jedem Jahr mehr Portugiesen die Schweiz, als dazukamen. Die Eidgenossenschaft hat bei den Portugiesen an Attraktivität verloren – auch weil ihr Heimatland Auswanderer mit Steueranreizen zurücklockt.

Wieder ein anderes Bild zeigt sich bei den Spaniern. Bis 2007 zog es mehr Spanier zurück in die Heimat, als in die Schweiz kamen. Viele von ihnen dürften Einwanderer gewesen sein, die in den 1960er und 1970er Jahren in die Schweiz migriert waren und für den Ruhestand ins Heimatland zurückkehrten. Doch seit der Euro-Schuldenkrise von 2011 ist die Schweiz bei den Spaniern ein beliebtes Land. Die Nettozuwanderung ist seither klar positiv und hat im Jahr 2023 annähernd einen Rekordstand erreicht.

Die Grafiken zeigen, dass Migration ein dynamisches Phänomen ist. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Seit Beginn der Personenfreizügigkeit sind über 3 Millionen Ausländer in die Schweiz zugewandert. Aber 1,6 Millionen Ausländer haben das Land auch wieder verlassen.

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