Montag, November 25

Solange Hamas und Hizbullah existierten, werde es zwischen Israel und Palästinensern keinen Frieden geben. Davon ist Daniel Ben-Ami überzeugt. Im Gespräch sagt der britisch-israelische Antisemitismus-Spezialist, warum er trotz allem auf eine Lösung hofft.

Daniel Ben-Ami, vor einem Jahr haben Terroristen der Hamas Israel überfallen, Menschen getötet und als Geiseln verschleppt sowie Frauen vergewaltigt. Wie haben Sie den Angriff erlebt?

Ben-Ami: Ich war in London und hörte am Radio davon, in den Sieben-Uhr-Nachrichten. Ich schaltete sofort auf den israelischen Sender um, und es war mir augenblicklich klar: Das war ein Krieg. Ich kontaktierte meine Familie, ein Teil lebt in Israel. Wir versuchten auf allen möglichen Wegen zu erfahren, wie es unseren Freunden ging und ob sie in Sicherheit waren. Es war schrecklich.

Nach dem Krieg gab es im Westen ein bisschen Anteilnahme für Israel, aber vor allem Solidarität mit den Palästinensern. Und der Antisemitismus flammte wieder auf. Haben Sie damit gerechnet?

Überrascht war ich nicht. Das Muster lässt sich schon lange beobachten. In den vergangenen Jahren hat es nach jedem Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza einen Anstieg des Antisemitismus gegeben. Nach einer gewissen Zeit flacht das dann wieder ab und pendelt sich auf einem höheren Niveau ein. Nach dem Konflikt von 2021 war es schon so. Aber es hatte nicht im Entferntesten das Ausmass dessen, was nach dem 7. Oktober geschah.

In Ihrem Wohnort London gab es Massendemonstrationen mit 300 000 Teilnehmern, die zum Teil islamistische Parolen und antisemitische Parolen verbreiteten. Orthodoxe Juden mit Kippa wurden auf der Strasse attackiert. Wie sicher fühlen Sie sich in der Stadt?

Auf der Strasse fühle ich mich sicher. Ich trage keine Kippa, bin also nicht als Jude erkennbar. Aber ich war als Beobachter bei den Anti-Israel-Demonstrationen und auch bei Gegendemonstrationen. Da drohte man mir offen mit Gewalt. Zuerst machten sie Gesten wie diese (fährt mit Finger über Kehle). Jetzt formen sie mit den Fingern ein Dreieck. Das ist eine klare Drohung, das Zeichen der Hamas. Und dann schreien sie einen an, dass man ein «Kindermörder» und «Völkermörder» sei. Nicht alle Teilnehmer sind so, aber es ist auch keine kleine Minderheit. Und niemand hält sie auf.

Sie konstatieren eine Zunahme des Antisemitismus. Aber hat sich nach dem 7. Oktober nicht etwas Grundlegendes geändert?

Ja, ich glaube auch. In den USA und in Europa wird offener Antisemitismus immer mehr akzeptiert. Im Nahen Osten war er schon immer verbreitet, aber in Europa war es nach dem Zweiten Weltkrieg inakzeptabel, antisemitisch zu sein. Ausser bei der extremen Rechten. Seit dem 7. Oktober ist der Antisemitismus offener, auch wenn er sich oft als Israelkritik tarnt. Und er ist nicht propalästinensisch, sondern pro Hamas. Das ist etwas ganz anderes.

Viele Leute rechtfertigen ihre Ablehnung von Israel damit, die israelische Armee habe überreagiert. Ist das angesichts von Zehntausenden Toten in Gaza nicht nachvollziehbar?

Ich glaube, die Reaktionen im Westen hängen damit zusammen, dass zwei Faktoren zusammenkommen. Zum einen der Islamismus als politische Bewegung. Durch die Migration aus dem Nahen Osten und zum Teil aus Afrika sind Muslime in den Westen gekommen, die antisemitisch sind. Sie prägen das Klima mit, in Deutschland, in England. Diese Menschen haben viel weniger Hemmungen, ihren Antisemitismus offen zu zeigen. Als zweiter Faktor kommt dazu, dass sich der intellektuelle Hintergrund der Debatten geändert hat: durch den Aufstieg der Identitätspolitik, der Critical Race Theory und des Postkolonialismus. Zentral ist dabei die Idee, dass es eine Hierarchie der Unterdrückung gibt. Dass die Weissen per se privilegiert sind – und dass auch die Juden privilegiert sind. Der Krieg in Gaza war der Katalysator, um das alles freizusetzen. Aber es war bereits angelegt und dient jetzt als Argument, um antisemitische Positionen zu begründen.

In der Linken ist Antisemitismus kein neues Problem. Es gab den stalinistischen Antisemitismus, den Antisemitismus der 68er. Die neue Linke sprach schon in den 1970er Jahren von Völkermord in Palästina.

Das stimmt, aber es hat eine Verschiebung stattgefunden. Nach dem Sechstagekrieg 1967 wurde der Antisemitismus immer wichtiger. Und ich glaube, seit 2023 stehen wir nochmals an einem anderen Punkt: Es ist salonfähig geworden, nicht nur Israel zu kritisieren, sondern zu sagen, es gebe ein grundsätzliches Problem mit den Juden.

Sie sind Ökonom, haben als Wirtschaftsjournalist gearbeitet und Bücher über Wirtschaftsthemen geschrieben. Was hat Sie dazu bewogen, sich schreibend mit Antisemitismus zu befassen?

Ich habe mich schon früh für den Nahen Osten interessiert. Als ich etwa sieben Jahre alt war, 1967, brach der Sechstagekrieg aus. Ich habe damals nicht wirklich verstanden, worum es ging, aber ich habe begonnen, die Entwicklungen genau zu verfolgen. In den 1980er Jahren habe ich dann erste Texte geschrieben für verschiedene Publikationen.

Heute betreiben Sie eine Website, «Radicalism of Fools» heisst sie. Wie kamen Sie darauf?

Der Titel ist die Abwandlung eines Zitats von August Bebel, einem der Mitbegründer der SPD im 19. Jahrhundert. Er hat den Antisemitismus als «Sozialismus der dummen Kerls» bezeichnet. Ein Teil der Sozialisten betrachtete die Juden als Inbegriff des Kapitalismus. Alle Probleme, die es gab, lasteten sie den Juden an. Das habe ich aufgenommen, weil es noch heute viele Menschen gibt, die so denken. Ich will nicht über Sozialismus reden, sondern über Radikalismus. Und über die Weltanschauung, die dahintersteckt.

Wie sieht die aus?

Für diese Leute ist die Welt klar in Gut und Böse geteilt. Die Juden sind für sie die Personifizierung des Bösen. Und zwar alles Bösen, das es gibt. Das kann der Kapitalismus sein, den sie ablehnen, die Finanzwelt, der sie misstrauen, der Imperialismus, der Kolonialismus, was auch immer. Überall entdecken sie Juden, die dahinterstecken. Das ist die Essenz des Antisemitismus. Dieses Phänomen versuche ich besser zu verstehen und ihnen zu widersprechen.

Kann man mit Argumenten gegen Verschwörungstheorien kämpfen?

Man muss Antisemitismus nicht unterdrücken, sondern bekämpfen. Es geht um mehr als nur um Verschwörungstheorien. Es ist eine Art, die Menschen zu sehen, Juden zu sehen.

Die Juden als Sündenböcke . . .

Nein, ich würde das nicht als Sündenbockdenken bezeichnen. Sündenböcke sind Menschen, auf die man das Böse projiziert, um die Gesellschaft davon zu reinigen. Aber für die Antisemiten liegt das Böse im Wesen der Juden. Sie verkörpern das Böse.

Das lässt sich über die Jahrhunderte verfolgen. Woher kommt dieser Hass?

Judenhass ist jahrhundertealt, das stimmt. Aber der Antisemitismus, mit dem wir es heute zu tun haben, ist etwas, was meiner Meinung nach erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Mit den modernen Rassentheorien, die zeigen wollten, dass Juden biologisch anders sind. Man sah sie nicht als Menschen mit einer anderen Religion, sondern als andere Art von Menschen, denen man mit Hass begegnete. Das war auch eine Reaktion auf die Emanzipation der Juden seit dem 16. Jahrhundert, die Juden mehr in die Gesellschaft integrierte.

Und weshalb flammt er im 21. Jahrhundert wieder auf?

Ich denke, es hängt damit zusammen, dass wir in einem sehr entpolitisierten Klima leben . . .

. . . entpolitisiert? Im Moment scheint eher alles politisiert zu werden.

Ja, viele Menschen sind bequem geworden. Anstatt darüber nachzudenken, was politisch vor sich geht, was falsch läuft und wie man das ändern könnte, sehen sie eine Welt von Gut und Böse. Und auf einmal ist alles ganz einfach. Die meisten Leute sind überfordert mit einer komplexen Welt. Sie wollen eine Welt, die sich leicht verstehen lässt. Das ist, was ich unter unpolitisch verstehe.

Unter denen, die diese simplen Schwarz-Weiss-Erklärungen propagieren, gibt es viele Intellektuelle. Die propalästinensischen Proteste konzentrierten sich an den Universitäten. Ein Widerspruch?

Es waren nicht die Universitäten generell, an denen die Proteste aufflammten. Es waren die Eliteuniversitäten: Columbia, Harvard, Pennsylvania, die Ivy-League-Unis. An den kleinen Provinz-Universitäten und Colleges gab es kaum Proteste. Das ist auch nicht überraschend, denn an den Elite-Instituten lehren die wichtigen Exponenten der Critical Race Theory und des postkolonialen Denkens. Die Studierenden waren durchdrungen davon.

In den Medien gibt es eine Tendenz, Fanatiker wie Hassan Nasrallah zu verharmlosen. Die «New York Times» zum Beispiel hat geschrieben, Nasrallah habe einen Staat propagiert, in dem Muslime, Juden und Christen gleichberechtigt seien. Wie erklären Sie sich diese Naivität?

Journalisten, die so etwas schreiben, sind oft von Identitätspolitik durchdrungen. Israel ist für sie der Unterdrücker, und der Hizbullah und die Hamas vertreten für sie die Unterdrückten. Ich verstehe nicht, weshalb sich manche Journalisten nicht einmal die Mühe machen, sich über die Ideologie dieser Organisationen zu informieren. Sie sagen ja offen, was sie wollen. Die Gründungscharta der Hamas ist ein Aufruf zur Tötung von Juden und für die Errichtung eines Gottesstaates. Nasrallah dachte ganz ähnlich.

Der Konflikt im Nahen Osten ist in den letzten Tagen eskaliert, alles deutet auf einen grossen Krieg hin. Gibt es noch Hoffnung auf Frieden?

Es ist bedauerlich, aber kurz- oder mittelfristig sehe ich keine Lösung. Es wird keinen Frieden geben, solange die islamistischen Bewegungen Hamas und Hizbullah existieren. Meine einzige Hoffnung ist, dass es in Iran zu einem Aufstand der Bevölkerung kommt. Iran spielt in diesem Konflikt eine Schlüsselrolle. Wenn das Regime der Mullahs destabilisiert und gestürzt würde, könnte das sehr viel bewegen.

Es gibt die These, dass Benjamin Netanyahu den Konflikt braucht, um an der Macht zu bleiben. Und dass er deshalb so viele Menschen sterben lässt. Was halten Sie von dieser Theorie?

Ich kenne dieses Argument, finde es aber nicht überzeugend. Ich kann in Israel nicht wählen, unterstütze keine bestimmte Partei, aber ich denke, es geht in erster Linie um das Überleben und die Zukunft Israels. Netanyahu hat grosse Fehler gemacht. Er hat zugelassen, dass sich die Hamas vor dem 7. Oktober ausbreiten konnte, und er hat unterschätzt, was sie tun würde oder was sie tun könnte.

Netanyahu ist nur dank einer Koalition mit religiösen Fundamentalisten an der Macht, die Palästinenser auslöschen wollen. Ist es da nicht nachvollziehbar, wenn manche die israelische Regierung und die Hamas gleichsetzen?

Es gibt extreme Kräfte in der israelischen Regierung, keine Frage. Sie sagen Dinge, die man verurteilen muss. Aber ich glaube nicht, dass es eine moralische Äquivalenz zwischen der Hamas und Israel gibt. Die Hamas will Juden töten, sie will Israel zerstören. Das ist der Kern ihrer Doktrin. In der zionistischen Bewegung sind solche Ideen ein Randphänomen. Und sie sind auch in Israel nicht die vorherrschende Meinung.

Zur Person

PD

Daniel Ben-Ami

rib. · Der Journalist und Autor Daniel Ben-Ami hat sich als Verfasser von Büchern zu Wirtschaftsthemen einen Namen gemacht. Etwa mit «Cowardly Capitalism» (2001), in dem er gegen die herrschende Vorstellung des «Kasino-Kapitalismus» die Haltung vertrat, übertriebene Vorsicht von Banken und Investoren sei für die Gesellschaft die weitaus grössere Gefahr als übermässiges Risiko. Seit 2012 betreibt er die Website «Radicalism of Fools» (www.radicalismoffools.com) als Diskussionsforum über Antisemitismus. Ben-Ami lebt in London.

Exit mobile version