Freitag, Oktober 11

An ihm führt im Schweizer Radsport kein Weg vorbei. Olivier Senn rettete etwa die Tour de Suisse vor dem Aus. Gleichzeitig hat er die eigenen Vorteile fest im Blick.

Zweimal stellte sich Olivier Senn nach Muriel Furrers Tod den Medienvertretern. Beide Male rang der sportliche Leiter der Rad-WM in Zürich nach Worten, um seine Anteilnahme am Schicksal der tödlich verunfallten Nachwuchsfahrerin auszudrücken. Beide Male sah er sich mit Fragen konfrontiert, auf die auch er grösstenteils keine Antworten hatte.

Die wichtigsten Fragen sind immer noch offen: Wie war es möglich, dass Furrer so lange unentdeckt im Wald oberhalb von Küsnacht liegen blieb? Warum wird bis heute nicht vollumfänglich über die tragischen Umstände ihres Todes informiert? Wäre dieser zu verhindern gewesen?

Im Gegensatz zu Senn machten sich die Vertreter der öffentlichen Hand vor der Kamera rar, obwohl dieser überwiegend mit öffentlichen Geldern finanziert wurde. Etwa zwei Drittel des 22-Millionen-Franken-Budgets stammten von Stadt und Kanton Zürich sowie dem Bund, nur etwa ein Drittel von privaten Sponsoren.

Während sich die Politiker wegduckten, war es wieder einmal Senn, der sich exponierte und angreifbar machte. Bereits im Juni 2023, nach dem tödlichen Sturz des Radprofis Gino Mäder in einer Abfahrt am Albulapass an der Tour de Suisse, hatte er umstrittene Entscheide zu begründen. Damals wie jetzt wurde die Veranstaltung fortgesetzt. Nach der tragischen Duplizität der Ereignisse kommen Fragen auf: Wer ist dieser Mann, bei dem fast alle Fäden des Schweizer Radsports zusammenlaufen? Wie wurde er so mächtig? Und ebenfalls: Wie lukrativ ist es, diesen Risikosport zu veranstalten? Profitiert Senn hauptsächlich von Steuergeldern?

Interessenkonflikt bei der Vergabe der WM

Eine Grundprämisse ist zum Verständnis notwendig: Im internationalen Radsport ist nur die Tour de France ein dauerhafter kommerzieller Erfolg. Ihrem Veranstalter, der Amaury Sport Organisation (ASO), geht es blendend. Alle anderen Organisatoren, einschliesslich des Weltverbands UCI, sind permanent um halbwegs ausgeglichene Bilanzen bemüht. Das bedeutet: Obwohl eine der dominantesten Figuren der schweizerischen Radsportszene, ist Senn international kein Goliath, sondern neben der ASO nur einer von vielen Davids.

Als die UCI 2018 an ihrem Kongress in Innsbruck die Rad-WM für 2024 vergab, war die Konkurrenz für die Schweiz überschaubar. Landesverbände stehen nicht Schlange, einen Anlass zu organisieren, der im Schatten der Tour de France und auch mancher Frühjahrsclassiques steht. Dass Swiss Cycling schliesslich den Zuschlag erhielt, war absehbar.

Für die Vergabe der Rad-WM erhebt die UCI eine Gebühr, deren exakte Höhe im Fall der Schweiz vertraulich ist. Aus dem aktuellen Bewerbungsdossier für die Rad-WM 2028 geht hervor, dass der Weltverband mittlerweile eine Gebühr von 8,5 Millionen Franken verlangt. Wegen verschiedener Sonderfaktoren – notfallmässige Übernahme der WM 2020 von Italien, Integration der Wettbewerbe für Menschen mit körperlichen Behinderungen– wurde Swiss Cycling beziehungsweise dem Zürcher OK ein grosszügiger Rabatt gewährt. Die Höhe der Gebühr dürfte sich im tiefen einstelligen Millionenbereich bewegt haben.

Jedenfalls machte der Radweltverband UCI mit der WM in Zürich nicht den grossen Reibach. Wie aus dem letzten Jahresbericht der UCI hervorgeht, wird in nichtolympischen Jahren jeweils ein Jahresverlust von 5,5 Millionen Franken budgetiert. Erst in Olympiajahren werden diese Verluste jeweils durch die Einnahmen aus den Sommerspielen kompensiert.

Deutlich umkämpfter als die WM-Vergabe an die Schweiz war anschliessend der landesinterne Wettbewerb um den eigentlichen Austragungsort: Bern und Zürich waren interessiert, beide wurden von den politischen Behörden unterstützt. Hier kam erstmals Senn ins Spiel. Er bot sich Zürich für die Bewerbung als Berater an – unentgeltlich. Gleichzeitig war er bereits damals Vorstandsmitglied von Swiss Cycling, das über den Austragungsort entschied.

Es liegt auf der Hand, Senn einen Interessenkonflikt zu unterstellen. Er entgegnet auf Anfrage, er sehe diesen nicht und bestreite ihn. Bei der WM-Vergabe durch Swiss Cycling sei er im Raum gewesen, habe sich jedoch weder geäussert noch an der Abstimmung teilgenommen. Es habe volle Transparenz geherrscht und er habe den Entscheid zu keinem Zeitpunkt beeinflusst. Darüber hinaus weist er darauf hin, auch die Berner Kandidatur in sportlichen Fragen beraten zu haben.

Die Vertreter der Berner Kandidatur hingegen empfanden ihre Niederlage als Affront. Ihr Ärger hallt bis heute nach. Der damalige Projektleiter Fränk Hofer ist überzeugt, aus sportlicher Sicht das weitaus bessere Dossier vorgelegt zu haben: «Im Gegensatz zu Zürich lagen für die Streckenführung bereits sämtliche Bewilligungen vor, inklusive Passage vor dem Bundeshaus.» Auch der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause gab sich seinerzeit in den Medien «konsterniert und irritiert». Er tönte an, dass wohl nicht sportliche Kriterien den Ausschlag gegeben hätten, sondern finanzielle.

Olivier Senn kommt zweimal zum Zug

Für die Organisation des Anlasses entstand in Zürich ein Verein. Im Vorstand sassen neben je zwei Vertretern von Stadt und Kanton auch zwei Vertreter von Swiss Cycling – und Senn wurde der erste Angestellte des Vereins. Seine Unterstützung bei der Bewerbung machte sich bezahlt: Zusätzlich zu seiner eigenen Teilzeit-Anstellung sicherte er seiner Firma das Mandat, sich an der WM um sportliche Fragen sowie um Branding und Marketing zu kümmern.

Senn kassierte somit für seine Tätigkeit über zwei Kanäle Steuergelder. Der Radsport-Manager sagt dazu, alle Entscheide durch den Vereinsvorstand seien «im vollen Wissen über all seine vergangenen und aktuellen Tätigkeiten» gefallen. Zur vollständigen Darstellung gehört ausserdem: Ohne den Fiskus wären sportliche Grossanlässe hierzulande undenkbar. Öffentlich-private Partnerschaften sind in der Schweiz in diesem Kontext Usus. Abgebucht wird das als Standortmarketing, und jene Politiker, die sich am vehementesten für die Verwendung der öffentlichen Gelder eingesetzt haben, dürfen vor den Kameras nette Worte verkünden.

Im Fall der Zürcher Rad-WM waren das in erster Linie der Stadtrat Filippo Leutenegger, der Regierungsrat Mario Fehr oder die Stadtpräsidentin Corine Mauch. Im schwierigsten Moment des Grossanlasses, nach dem Tod von Muriel Furrer, war von ihnen nicht mehr viel zu hören, abgesehen von der einen oder anderen Wortmeldung auf sozialen Medien.

Stattdessen veranlassten Stadt und Kanton Zürich das, was die öffentliche Hand in einer solchen Situation meistens veranlasst: Sie gaben eine Studie in Auftrag, welche die ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen der Rad-WM untersuchen soll.

Bereits an der Fussball-Europameisterschaft 2008 oder an den Leichtathletik-EM 2014 wurden die Ausgaben mehrheitlich vom Fiskus übernommen. Auch für die Frauenfussball-EM im kommenden Jahr haben die politischen Instanzen von Stadt und Kanton Zürich, wo fünf Spiele ausgetragen werden, über 20 Millionen Franken bereitgestellt – deutlich mehr als für die Rad-WM mit neun Renntagen.

Zu erwarten ist, dass spätestens an der Uefa Women’s Euro 2025 Zürichs Politiker, die nach Muriel Furrers Unfalltod verstummten, ihre Stimme wieder finden werden.

Andere Veranstalter fühlen sich übergangen

Es gibt in der Schweiz neben Senn einen weiteren umtriebigen Radsportveranstalter, der über ein Netzwerk verfügt, das bis in hohe Managerkreise reicht: Joko Vogel. Der 55-jährige Zürcher hat mit dem Ultra-Radrennen Tortour einen über die Landesgrenzen hinaus populären Breitensport-Event ins Leben gerufen.

Auch Vogel versteht es, der Konkurrenz dank seiner Nähe zu Swiss Cycling ein Schnippchen zu schlagen. Ein Beispiel mit interessanten Parallelen zu den Zürcher Rad-WM: Vogel überzeugte einst den nationalen Verband, sich um die Radquer-WM 2020 zu bewerben. Nach der Zusage durfte er den Anlass in Dübendorf selbst organisieren. Erfahrene Schweizer Radquer-Veranstalter zeigten sich irritiert, dass sie übergangen wurden.

Im Juni 2019 taten sich Senn und Vogel zusammen und gründeten das Joint Venture «Cycling Unlimited». Aus Sicht anderer einheimischer Veranstalter entstand ein Konstrukt, in dem sich Macht bündelte. Wahr ist aber auch: «Cycling Unlimited» entstand aus einer akuten Notlage heraus.

Das für die Tour de Suisse zuständige Joint Venture Infront-Ringier wollte seinerzeit per sofort die Verantwortung für das Etappenrennen loswerden, obwohl ein Rechtevertrag bis 2029 bestand. Der Grund liegt auf der Hand: Die Landesrundfahrt ist wenig lukrativ, ihre Ausrichtung ein ökonomischer Balanceakt. Zumal in diesem Fall die Veranstalter selbst mehrere hunderttausend Franken in die Streckensicherung investieren müssen.

Durch die Gründung von «Cycling Unlimited» wurde ein drohendes Aus der kriselnden Tour de Suisse vermieden. Anteilseigner wurden Senn, Vogel, Swiss Cycling sowie die Sportmarketing-Firma Infront, später kam der belgische Veranstalter Flanders Classics hinzu. Senn und Vogel profitierten dank einem Darlehen von Infront von einem Sicherheitsnetz, um das sie andere Veranstalter beneideten. Doch gleichzeitig gilt: Als die Tour de Suisse auf der Kippe stand, war zu ihnen keine Alternative in Sicht. Das Rennen zu übernehmen, war auch mit Darlehen ein Wagnis.

Seit 2021 gibt es neben der Landesrundfahrt der Männer auch eine Tour de Suisse Women. Möglich wurde die Lancierung, weil der Mitbesitzer Swiss Cycling öffentliche Gelder zur Anschubfinanzierung bereitstellte. Andere Organisatoren monierten hinter vorgehaltener Hand, ihre Anlässe hätten im Gegensatz zu «Cycling Unlimited» keine Aussicht auf Steuergelder. Eine gewisse Ungleichbehandlung ist nicht von der Hand zu weisen.

Von einer allmächtigen Organisation kann aber kaum die Rede sein, zumal «Cycling Unlimited» jüngst eine Schwächung erfuhr. Im Juni, drei Monate vor der Rad-WM, gab Vogel seine Rolle als Co-CEO auf. Er bleibt Anteilseigner und Verwaltungsrat, doch auch sein populärer Breitensport-Anlass Tortour wurde aus dem Portfolio des Joint Venture entfernt. Vogel reduziert sein Engagement im Velobereich und wendet sich neuen Projekten zu. Beispielsweise ist er an einem Startup beteiligt, welches die Analyse und das Scouting im Sport mithilfe künstlicher Intelligenz revolutionieren will. In der Zukunftstechnologie steckt das grosse Geld eher als in einer Tour de Suisse oder in Rad-WM.

Bis anhin kein Strafverfahren

Zumindest mit juristischen Vorwürfen sehen sich die Veranstalter der Titelkämpfe in Zürich bis anhin nicht konfrontiert. Die Zürcher Staatsanwaltschaft führt im Zusammenhang mit Furrers Tod weiterhin kein Strafverfahren, auch nicht gegen Unbekannt. Vielmehr wird eine umfassende Untersuchung zur Klärung der Todesursache vorgenommen, wie das bei aussergewöhnlichen Todesfällen üblich ist.

Losgelöst davon kündigt Senn an, in unmittelbarer Zukunft keinen weiteren Grossanlass anzuvisieren. «Die beiden letzten Jahre waren sehr anstrengend, nicht zuletzt wegen der Todesfälle», sagt er. Für alle bei Cycling Unlimited sei es wichtig, jetzt zuerst einmal durchatmen zu können. «Auch hochmotivierte Angestellte sind Menschen, man darf sie nicht überfordern. Wir freuen uns, uns nächstes Jahr auf die Tour de Suisse und die Tour de Suisse Women sowie das Alpenbrevet konzentrieren zu können.»

Nach den tragischen Tagen von Zürich verschieben sich, zumindest vorübergehend, die Prioritäten.

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