Sonntag, Oktober 27

In der Bildung und im Arbeitsmarkt wurden die sogenannt rückständigen Kasten in Indien gefördert. Das führte zu einer grossen sozialen Reform und zugleich zu einem unerwünschten Wettbewerb der Rückständigkeit.

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, als ich entdeckte, dass ich einer Kaste angehörte. Ich war zehn Jahre alt und vertrat meine Schulklasse bei einem Theaterprojekt. Wir spielten einen Einakter, in dem auch Rishi Kapoor auftrat. Er war der jüngere Sohn des Matinee-Idols und Produzenten Raj Kapoor und wurde später selbst ein erfolgreicher Leinwandstar. Ich hatte mitgespielt und ein humorvolles Gedicht vorgetragen und die Aufführung unter grossem Beifall meiner Klasse moderiert. Der jüngere Kapoor, wir nannten ihn Chintu, war entweder fasziniert oder verwirrt, denn er suchte mich am nächsten Morgen in der Schule auf.

«Tharoor», fragte er mich am Kopfende der Treppe, «welcher Kaste gehörst du an?» Ich schaute den grossen Mann erstaunt an. «Ich – ich weiss es nicht», stammelte ich. Mein Vater, der nie etwas über die Religion, geschweige denn über die Kaste sagte, hatte sich nicht die Mühe gemacht, mich über solche Dinge aufzuklären.

«Du weisst es nicht?», fragte Chintu. «Was soll das heissen, du weisst es nicht? Jeder kennt seine eigene Kaste.» Ich gab schamhaft zu, dass ich es nicht wusste. «Du meinst, du bist kein Brahmane oder so?»

Ich konnte mich nicht einmal dazu bekennen, dass ich ein Etwas war. Chintu Kapoor sprach in der Schule nie wieder mit mir. Aber ich ging an diesem Abend nach Hause und holte mir eine Erklärung von meinen Eltern, deren eklektische Liberalität mich in solcher Unwissenheit gelassen hatte. Sie erzählten mir von den verschiedenen indischen Gemeinschaften, die als Kasten bezeichnet werden. Und nein, wir waren keine Brahmanen, sondern Nairs, eine obere Kaste, die es nur im Bundesstaat Kerala gibt. So verdanke ich dem späteren Filmhelden Rishi Kapoor meine erste Lektion über meine genealogische Vergangenheit.

Ich wuchs im Glauben auf, dass die Kastenzugehörigkeit keine Rolle spielt, heiratete ausserhalb meiner Kaste und habe zwei Kinder, denen das Kastenwesen völlig gleichgültig ist. Und selbst als ich in die heisse Welt der indischen Politik eingetreten war, versuchte ich, die Leute, die ich traf oder mit denen ich zusammenarbeitet, nicht nach ihrer Kaste zu beurteilen. Ich habe einen Koch eingestellt, ohne nach seiner Kaste zu fragen. Dasselbe gilt für mein übriges Haus- und Büropersonal, und ich habe alle möglichen Leute in meinem Haus bewirtet, ohne dass mir der Gedanke an eine Kastenzugehörigkeit auch nur in den Sinn gekommen ist.

Tausende von Gruppierungen

Wie «Hindu» und «Curry» ist auch «Kaste» ein Wort, das von Aussenstehenden erfunden wurde, um zu beschreiben, was Inder intuitiv verstehen. Eine umstrittene Theorie besagt, das Kastensystem sei von hellhäutigen Ariern erfunden worden, die um 1500 v. Chr. in Nordindien einfielen, um die dunklen Einheimischen zu unterdrücken. Ein Vers des zwischen 1500 und 1000 v. Chr. verfassten «Rig Veda» verankert das ursprüngliche vierteilige Kastenwesen: Als Gott den Menschen erschuf, entstand aus seiner Stirn der gelehrte, priesterliche Brahmane, aus seinen Armen der Krieger Kshatriya, aus seinen Schenkeln der Bauer und Händler Vaishya und aus seinen Füssen der Arbeiter und Handwerker Sudra.

Jede Kaste war ihrerseits in Tausende von Unterkasten verästelt. Die Unberührbaren lagen sogar jenseits dieser Klassifizierung und waren daher buchstäblich Ausgestossene. Eine Gruppe von Ausgestossenen, die Parayans in Südindien, ging als «Paria» in unseren Wortschatz über.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Beruf zum bestimmenden Faktor der Kaste. Angehörige derselben Kaste übten in der Regel denselben Beruf aus, heirateten und assen innerhalb ihrer Kasten und neigten dazu, auf andere herabzublicken. Die Regeln wurden im Laufe der Zeit immer strenger: Brahmanen durften keine Speisen essen, die von Nicht-Brahmanen zubereitet worden waren; Unberührbare, die Abfälle entsorgten, mit Leder zu tun hatten oder Kadaver beseitigten, durften kein Wasser aus Brunnen schöpfen, die den oberen Kasten vorbehalten waren. Brahmanen mussten ein Bad nehmen, wenn der Schatten eines Unberührbaren auf sie gefallen war. In einigen Bundesstaaten durften nur Männer aus der oberen Kaste ihre Schnurrbärte nach oben zwirbeln, ein Pferd oder einen Ochsenkarren reiten oder einen Turban tragen.

Angehörige der niedrigeren Kasten wurden notorisch ausgebeutet. Ausserdem lehrte man sie, dass ihr minderwertiger Status Teil der natürlichen Ordnung der Dinge sei, dass jedoch gutes Verhalten dazu führen könnte, im nächsten Leben in eine höhere Kaste wiedergeboren zu werden. Das war natürlich ein durchschaubares Mittel zur Disziplinierung.

Enorme Fortschritte

Weder Reformbewegungen innerhalb des Hinduismus noch die christlichen Missionare konnte etwas gegen dieses Unwesen erreichen. Die portugiesischen Kirchen in Goa hatten angeblich zwei Türen, eine für Christen aus der Brahmanenkaste, die andere für Konvertiten aus einer niedrigeren Kaste. Und wenn man sich die Regeln und Verbote und die dadurch entstandenen Vorurteile und Diskriminierungen vor Augen führt, versteht man leicht, warum sich Mahatma Gandhi und die aufgeklärteren indischen Nationalisten leidenschaftlich gegen die Ungerechtigkeiten des Kastensystems einsetzten.

Gandhi kämpfte insbesondere gegen die Unberührbarkeit, und der an der Columbia University ausgebildete Rechtsanwalt und Staatsmann B. R. Ambedkar, selbst ein Unberührbarer (heute als Dalit bekannt), verbot die Unberührbarkeit, als er die Verfassung des freien Indiens ausarbeitete. Doch die Unberührbarkeit hat sich hartnäckig gehalten, auch wenn ihr Einfluss auf die gebildeten städtischen Inder nachlässt.

Eine Umfrage des National Council of Applied Economic Research hat ergeben, dass 30 Prozent aller Hindus und ein kleinerer Prozentsatz von Indern anderer Glaubensrichtungen immer noch die Unberührbarkeit praktizieren. Sie verweigern den Dalits den Zutritt zu ihren Küchen oder Esstischen und erlauben ihnen nicht, Koch- oder Essgeschirr anzufassen.

Immerhin heisst es heute in einem grossen Teil der Heiratsanzeigen in den englischsprachigen Zeitungen Indiens, dass «die Kaste kein Hindernis» für eine im Übrigen geeignete Verbindung sei. Längst sind andere Kriterien wichtiger. «Wenn man eine Ärztin heiraten kann, kümmert sich niemand um ihre Kaste», erklärte mir ein Mann.

Es ist kaum mehr möglich, die Kastenzugehörigkeit eines Passanten zu erkennen, der sich auf der Strasse an einem vorbeidrängelt, oder auch die des Kochs, der das Essen in einem Restaurant zubereitet. Mehr als die Kaste sind Bildung und Einkommen für die heutigen Ungleichheiten verantwortlich. Das Stigma der Kaste verschwindet in den öffentlichen Räumen der indischen Städte schneller als das der Ethnie in den Vereinigten Staaten. Der indische Soziologe André Beteille sagte einem amerikanischen Interviewer einmal: «Ihre Schwarzen sind sichtbar. Unsere nicht.»

Das urbane Indien hat riesige Fortschritte bei der Verwirklichung von Nehrus Traum von einer weniger kastenorientierten Gesellschaft gemacht. In einigen südlichen Bundesstaaten werden sogar Dutzende von Nicht-Brahmanen-Priestern in deren Tempeln eingesetzt, unter ihnen auch Dalits in Tempeln, wo man früher Brahmane sein musste, um eine solche Position zu bekleiden.

Unvorstellbare Gewaltausbrüche

Trotz dieser Entwicklungen und des verfassungsrechtlichen Schutzes bestehen die Ungleichheiten zwischen den oberen Kasten und den ehemaligen Unberührbaren fort. Ausserdem werden über 90 Prozent der Ehen immer noch von den Eltern arrangiert, fast immer innerhalb derselben Kaste. Ebenso wenig ist die auf dem Kastenwesen beruhende Diskriminierung verschwunden. Trotz fast acht Jahrzehnten Freiheit, gut ausgebildeter und aufgeklärter Verwaltungsbeamter und politisch korrekter Rhetorik auf allen Ebenen versklavt die Kaste nach wie vor die Dorfgesellschaft.

Jede Woche geht eine neue Horrorgeschichte durch die nationale Presse. Eine Dalit-Frau wird entkleidet und nackt durch die Strassen ihres Dorfes geführt, weil ihr Sohn es gewagt hatte, einen Thakur aus einer höheren Kaste zu bestehlen. Ein hochgeborenes Jat-Mädchen verliebt sich in einen unberührbaren Jungen und wird dabei erwischt, wie sie mit ihm durchbrennen will. Sie und ihr Komplize, ein anderer Unberührbarer, werden gefangen, geschlagen, vor ihren Familien gefoltert, gehängt und anschliessend verbrannt. Das Mädchen wird nicht sofort von der Schlinge getötet und ist noch am Leben, als das Feuer angezündet wird; sie versucht herauszukriechen, wird aber in die Flammen zurückgestossen.

In einem Dorf werden zweiundzwanzig rebellische Unberührbare bei einem Massaker durch die obere Kaste erschossen. In einer anderen Siedlung werden vierhundert Dalit-Familien aus ihren Hütten vertrieben, weil sie es gewagt haben, den gesetzlichen Mindestlohn für ihre Arbeit zu fordern.

Dies sind keine Einzelfälle, denn jedes Jahr werden Dutzende solcher Vorfälle gemeldet. Aber sie sind auch kein Grund, am sozialen Wandel im ländlichen Indien zu zweifeln. Sie zeigen, dass Widerstand möglich ist, aber sie beweisen nicht die Unmöglichkeit von Veränderungen. Die Opfer dieser Verbrechen waren allesamt Menschen, die es gewagt hatten, die Verbote der Traditionalisten herauszufordern, die versucht hatten, das tote Gewicht der Jahrhunderte abzuwerfen. In dem Masse, in dem die politische Partizipation auch demokratischen Einfluss mit sich bringt, fordern die unteren Kasten mehr soziale Gleichheit. Auf jeden, der scheitert, kommt ein Dutzend anderer, sich ihrer Fesseln entledigen.

Gleichzeitig muss man erkennen, dass es sich bei den beschriebenen Vorfällen nicht einfach um gewöhnliche kriminelle Handlungen handelt. Der grössere Schrecken liegt darin, dass sie von Menschen begangen werden, die sonst keine Straftaten begehen würden, aber davon überzeugt sind, dass sie mit ihren Verbrechen nicht gegen die gesellschaftlichen Werte verstossen, sondern sie aufrechterhalten.

Kampf gegen die Ungerechtigkeit

Ende der 1990er Jahre führte der Anthropological Survey of India eine umfassende Erhebung über die 4635 Kasten mit ihren Unterkasten durch. Eines der auffälligsten Ergebnisse der Studie ist das Ausmass, in dem die Verbindung zwischen Kaste und Beruf im unabhängigen Indien aufgebrochen wurde. Vor nicht allzu langer Zeit waren nur etwas mehr als zwei Prozent der Gemeinschaften des Landes im öffentlichen Dienst des Landes vertreten. Im Zeitpunkt der Erhebung waren es fast 70 Prozent.

Die Entschlossenheit des unabhängigen Indiens, die jahrtausendelange Ungerechtigkeit gegenüber seinen sozialen Unterschichten auszugleichen, führte dazu, dass den Gruppen der Dalits und der Ureinwohner von Anfang an die Zulassung zu Schulen und Hochschulen garantiert wurde. Das trug zur zunehmenden Alphabetisierung bei. Zudem wurden, entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, 25 Prozent aller Stellen in der Regierung, im öffentlichen Dienst und in der Industrie für sie reserviert. Als Besonderheit sicherte man ihnen ausserdem eine garantierte Vertretung im Parlament zu, wo 85 von 545 Sitzen für die Vertreter der Dalits und Ureinwohner reserviert sind.

Die Angehörigen der Dalits und Ureinwohner gehören zu den schwächsten wirtschaftlichen und untersten sozialen Schichten der indischen Gesellschaft. Sie leben in abgesonderten Gebieten in Dorfgemeinschaften und leiden unter Diskriminierung und Unterdrückung.

Die jüngsten Nutzniesser von Fördermassnahmen, die «Other Backward Classes (in Indien mit seiner Vorliebe für Akronyme sind sie als OBC bekannt), sind so zahlreich wie die Dalits und Ureinwohner zusammengenommen. Die OBC sind die drängenden unteren und mittleren Kasten der indischen Gesellschaft, deren Anspruch auf Quoten und ähnliche Vergünstigungen 1990 von einer Minderheitsregierung genehmigt und 1992 vom Obersten Gerichtshof in einem bahnbrechenden Urteil bestätigt wurde. Das hatte eine ebenso heftige wie kurzlebige Welle von Protesten und Selbstverbrennungen der oberen Kasten ausgelöst. Heute sind die OBC-Quoten in der Praxis wirksam und die Proteste sind verstummt.

Falsche Nutzniesser

Dennoch gibt es Probleme. Vielleicht kamen die Fördermassnahmen fast zwangsläufig nur einer Minderheit von Dalits zugute. Nicht alle konnten daraus einen Nutzen ziehen. Das unabhängige Indien hat die Entstehung privilegierter Gruppen innerhalb ehemals unterprivilegierter Gruppen erlebt, da die Söhne und Töchter wohlhabend gewordener und einflussreicher Führer der untersten Schichten aufsteigen konnten. Hindus der oberen Kaste nehmen es den Nachkommen von Kabinettsministern der unteren Kaste zunehmend übel, dass sie Nutzniesser von Quoten und niedrigeren Eintrittsschwellen an Universitäten und in Behörden sind. Denn es werden damit Nachteile ausgeglichen, die sie selber nie erfahren haben.

Selbst der Oberste Gerichtshof hat sein Unbehagen über die Privilegien geäussert, in deren Genuss die Eliten der unteren Gesellschaftsschichten kommen. Es ist unvermeidlich, dass eine Gegenreaktion einsetzt, bei der Angehörige der vorderen Kasten die Ungerechtigkeit von auf Dauer gestellten Fördermassnahmen beklagen. Zurecht fragt man sich, ob es vernünftig ist, dass die Tochter eines hohen Regierungsbeamten aus einer rückständigen Kaste von Quoten profitieren soll, während der Sohn seines Fahrers oder Angestellten aus einer höheren Kaste im Wettbewerb um die begrenzten allgemeinen Plätze steht.

Einige plädieren dafür, Quoten und Zugangserleichterungen nicht mehr an die Kastenzugehörigkeit, sondern nur noch an wirtschaftliche Kriterien zu knüpfen, so dass die Ärmsten aller Kasten in den Genuss der Vorzugsbehandlung kämen und nicht mehr die Bessergestellten einiger Kasten. Die derzeit begünstigten Kasten wehren sich jedoch vehement mit dem Argument, dass eine solche Änderung die soziale Diskriminierung ausser acht lässt, die mit dem Stigma einer niederen Kaste, insbesondere der Unberührbarkeit, einhergeht: Gleichgültig wie wohlhabend eine Dalit-Familie ist, so geben sie zu bedenken, viele Inder der oberen Kasten würden ihr keinen Respekt zollen, solange ihre Mitglieder nicht beispielsweise Regierungsposten bekleiden.

Als ich einmal öffentlich gemacht hatte, dass mich meine Eltern ohne Kastendünkel erzogen hätten und ich mir einer Zugehörigkeit nicht bewusst war, erinnerte mich eine Dalit-Bloggerin sarkastisch daran, dass schon das Vergessen der Kaste ein Privileg sei. Kein Dalit, so betonte sie, könne sich jemals den Luxus leisten, sich seiner Identität nicht bewusst zu sein. Und wenn er es tue, dann würde die Umwelt ihn nur zu gerne daran erinnern.

Kritiker argumentieren, dass Quoten als Mittel zur Förderung von Unterprivilegierten den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zugunsten der Chancengleichheit und der Gleichheit vor dem Gesetz zuwiderläuft. Es ist nie einfach, besondere Chancen für ausgewählte wenige mit Chancengleichheit für alle in Einklang zu bringen. Die Quoten werfen in manchen Fällen auch ernsthafte Fragen zu ihrer Angemessenheit auf. Die Reservierung von Parlamentssitzen für Dalits und Indigene ist eine Sache, sagen die Kritiker; das Vorhalten von Plätzen in medizinischen Hochschulen für unterqualifizierte Anwärter eine ganz andere.

Nicht alle staatlichen Einrichtungen eignen sich gleichermassen für das Argument, dass Repräsentation wichtiger ist als Effizienz: Während die Legislative natürlich für die Bevölkerung, die sie regiert, repräsentativ sein muss, gilt das Gleiche nicht unbedingt für ein Forschungslabor (die Regierung betreibt mehrere) oder ein öffentliches Krankenhaus. Es gibt keine einfache Antwort auf diese Debatte, von der allein die politische Sphäre ausgespart bleibt. Alle politischen Parteien sind davon überzeugt, dass Vorrechte für bestimmte Gruppen in der Wahlarithmetik unantastbar sind.

Wettlauf der Rückständigen

Indiens Minderheitenschutz garantiert Ergebnisse, nicht nur Chancen, und die Akzeptanz des Modells ist im Lande so gross, dass der Ruf nach weiteren Quoten immer lauter wird und immer mehr Gruppen eigene Ansprüche geltend machen. Durch die Hinzufügung der sogenannt rückständigen Klassen ist die Gesamtzahl der reservierten Stellen der Bundesbehörden und in den bundesstaatlichen Regierungsinstitutionen nun auf die von der Justiz als maximal zulässig erachteten 50 Prozent gestiegen. In mehreren Bundesstaaten sind die lokalen Quoten sogar noch höher und reichen etwa im Bundesstaat Tamil Nadu bis zu rund 69 Prozent.

Das Problem hat sich durch die zunehmende Bedeutung der Kaste als Faktor bei der Mobilisierung von Wählern noch verschärft. Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, hatte gehofft, dass das Kastenbewusstsein nach der Unabhängigkeit verschwinden würde, aber das Gegenteil ist eingetreten. Da die Kaste ein so starkes Fundament der Selbstidentifikation war, erwies sie sich in der indischen Wahldemokratie auch als nützliches Instrument der politischen Mobilisierung: Wenn ein Inder seine Stimme abgibt, wählt er allzu oft seine Kaste. Darum erwies sich die Gewährung von Vergünstigungen für verschiedene Kasten für Indiens Politiker als wichtiger Stimmenfänger. Die Kandidaten werden von ihren Parteien gezielt mit Blick auf die Loyalität der Kasten ausgewählt, auf die sie sich berufen können. Das hat dazu geführt, dass in Indien sozialer Aufstieg untrennbar mit dem Streben nach politischem Ansehen verbunden ist.

Die «unteren» Kasten haben ihre zahlenmässige Stärke in der indischen Wählerschaft genutzt, um politische Ämter zu erlangen: In den Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh beispielsweise haben Koalitionen der Unterprivilegierten, einschliesslich der Muslime und der Unberührbaren, die Macht auf Kosten der alten Brahmanen- und Thakur-Eliten übernommen. Die Inder der oberen Kaste haben sich zum ersten Mal seit Jahrtausenden als Untergebene und Bittsteller gegenüber denjenigen wiedergefunden, die sie traditionell als Dienstboten betrachteten.

Die traditionell von der oberen Kaste dominierten nationalen Parteien, insbesondere der Kongress und die hinduchauvinistische Bharatiya Janata Party (BJP), haben sich der Realität der Wahlarithmetik gebeugt und eine präzedenzlose Zahl von Mitgliedern niedriger Kasten in Führungspositionen befördert. «Fragen Sie nicht, welche Partei nach den Wahlen regieren wird», sagte der frühere Premierminister V. P. Singh nach den Wahlen von 1996 zu Journalisten. «Schauen Sie die Menschen innerhalb aller Parteien an, und Sie werden feststellen, dass ein tiefgreifender sozialer Wandel stattgefunden hat.»

Das Quotensystem hat freilich auch unerwünschte Nebenwirkungen. So wurden wir Zeugen des unerquicklichen (und unfreiwillig komischen) Schauspiels von Kasten, die sich gegenseitig in ihrer vermeintlichen Rückständigkeit zu übertrumpfen versuchen. Inzwischen gibt es unter den niederen Kasten einen Wettbewerb, wer ausreichend rückständig ist, um in den Genuss der Fördermassnahmen zu kommen.

Das paradoxe Ergebnis dieser politisch gesteuerten und gewollten sozialen Revolution ist ein Phänomen, das sich die Führer des antibritischen nationalistischen Kampfes nie hätten vorstellen können und das dennoch unvermeidlich zu sein scheint: die Zunahme des Kastenbewusstseins und des Kastentums in der gesamten indischen Gesellschaft. Dalit-Politiker sind in einer noch nie da gewesenen Zahl von Bundesstaaten an die Macht gekommen, mit einer Reihe von OBC- und Dalit-Ministerpräsidenten; es gab auch zwei Dalit-Präsidenten Indiens, und gegenwärtig ist eine Frau aus einer indigenen Gruppe im höchsten Amt des Landes tätig.

Die rückständigen Gemeinschaften kontrollierten die Bundesregierung zum ersten Mal von 1996 bis 1998, als im 21-köpfigen Kabinett des Premierministers der Vereinigten Front, H. D. Deve Gowda (selbst ein Angehöriger einer Unterkaste der Vokkaliga, der als Kind Schafe hütete und seine Lektionen bei Kerzenlicht lernte), nur zwei Mitglieder der oberen Kasten sassen. Heute stellt sich Premierminister Narendra Modi stolz als Mitglied einer «rückständigen» Gemeinschaft dar und wirbt oft mit dieser Begründung um die Unterstützung der Wähler.

Ein angeheirateter Onkel von mir, der kurz vor der Unabhängigkeit geboren wurde, hat es ironisch ausgedrückt: «Zur Zeit meiner Grosseltern bestimmte die Kaste ihr Leben: Sie assen, verkehrten, heirateten, lebten nach den Regeln der Kaste. Zur Zeit meiner Eltern, während der nationalistischen Bewegung, wurden sie von Gandhi und Nehru ermutigt, die Kaste abzulehnen; wir legten unsere von der Kaste abgeleiteten Nachnamen ab und erklärten die Kaste zu einem sozialen Übel. Als ich aufwuchs, war mir die Kastenzugehörigkeit daher nicht bewusst; sie spielte in der Schule, bei der Arbeit und in meinen sozialen Kontakten keine Rolle; das Letzte, woran ich dachte, war die Kastenzugehörigkeit eines Menschen, den ich traf. Jetzt, in der Generation meiner Kinder, hat sich der Kreis geschlossen. Die Kaste ist plötzlich wieder von grosser Bedeutung. Ihre Kaste bestimmt Ihre Möglichkeiten, Ihre Aussichten, Ihre Beförderungen. Du kannst nicht vorwärts kommen, wenn du nicht ein Rückständiger bist.»

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