Der frühere argentinische Zentralbankpräsident überprüft 4200 Gesetze darauf, ob sie abgeschafft, reformiert oder beibehalten werden sollen. Wie macht er das? Ein Gespräch mit einem Insider.
Zwei Jahre lang traf sich der frühere argentinische Zentralbankpräsident Federico Sturzenegger jeden Samstag mit Ökonomen, Juristen und Verwaltungsexperten. Über die Treffen mussten die Teilnehmer Stillschweigen bewahren. Ihr Ziel war ein Plan zur umfassenden Deregulierung von Wirtschaft und Staat. 4200 Gesetze und 2000 internationale Abkommen durchforstete Sturzenegger mit seinem Team.
Er bereitete den Plan für die bürgerliche Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich vor. Doch diese schied bereits im ersten Wahlgang aus. Da machte Sturzenegger sein Projekt öffentlich: Ein Video zeigt den Ökonomen in einer spartanisch eingerichteten Bibliothek vor zwei Papierstapeln. Er deutet auf den kleineren Stapel, so hoch wie zwei Schuhkartons: «Das sind die Gesetze, die sofort abgeschafft werden müssen – etwa 300.»
Dann wendet er sich dem zweiten, deutlich höheren Stapel zu, blättert ihn mit beiden Händen durch und sagt mit ernster Miene: «Das sind die Gesetze, die neu geschrieben werden müssen.» Alles müsse von Grund auf geändert werden, um die Privilegien abzuschaffen, die sich durch den Staat eingenistet hätten, sagt er.
Präsident Milei postete auf X einen Kommentar zu dem Video: «Das interessiert mich.» Ein paar Tage später traf er sich mit Sturzenegger. Es wurde ein fünfstündiges Arbeitstreffen. Danach war Sturzenegger Mileis Mann für Deregulierung. Er erhielt den Auftrag, seinen Plan für wirtschaftliche Liberalisierung, Vereinfachung von Vorschriften, Sparmassnahmen und Entbürokratisierung eins zu eins umzusetzen.
Vorfahren aus dem Appenzellerland
Sturzeneggers Vorfahren sind aus dem Appenzellerland nach Argentinien ausgewandert. Er studierte Volkswirtschaft in Argentinien und den USA, promovierte am MIT und lehrte unter anderem in Harvard. Seine populärsten Forschungsarbeiten, unter anderem zu Wechselkursen und Staatsschulden, werden oft zitiert.
Der Deregulierungszar gibt kaum Interviews. Doch ein Gespräch mit einem Insider, der seit Jahren eng mit Sturzenegger zusammenarbeitet und hohe Regierungsämter bekleidete, gibt wertvolle Einblicke. Der Ökonom möchte nicht namentlich genannt werden, um freier kommentieren zu können.
Sturzenegger sei ein Getriebener, der sich auf einem Kreuzzug befinde, so der Ökonom. Für den Deregulierer sei der argentinische Staat von Partikularinteressen kooptiert. Unternehmer, Gewerkschafter und Politiker hätten sich Privilegien verschafft und saugten seit Jahrzehnten die Ressourcen des Staates ab. Wenn man sich die Liste der reichsten Argentinier anschaue, stünden an der Spitze dieselben Familien wie vor fünfzig Jahren. Damit wolle Sturzenegger Schluss machen.
Sturzenegger legte sofort los: Zehn Tage nach Mileis Amtsantritt – also kurz vor Weihnachten 2023 – veröffentlichte die Regierung ein Paket von Notstandsdekreten, den wichtigsten ersten Massnahmen und Haushaltkürzungen, darunter die Abschaffung von Ministerien und die Entlassung von 33 000 Staatsbediensteten.
Kurz vor dem Jahreswechsel legte die Regierung ein weiteres Gesetzespaket vor, das «Grundgesetz für die Freiheit der Argentinier». Dieses wurde wegen seines Umfangs «Ley Ómnibus» genannt. In beide Pakete seien Sturzeneggers Ideen stark eingeflossen, heisst es. Mitte des Jahres verhängte der Kongress für ein Jahr den Ausnahmezustand in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie. Seither kann Sturzenegger seine Gesetzesänderungen per Dekret umsetzen.
Reformen finden weltweit Beachtung
Mileis Staats- und Wirtschaftsreformen finden inzwischen weltweit Beachtung. Das liegt auch an der Wahl von Donald Trump, der mit dem Unternehmer Elon Musk auch in den USA die Bürokratie abbauen und den Staatseinfluss zurückdrängen will. Milei behauptet, sein Plan sei ein Vorbild für Elon Musk. Tatsächlich hat sich Milei dreimal mit diesem getroffen. Es gebe auch Kontakte zwischen Musk und Sturzenegger, heisst es aus Regierungskreisen. Carlos Pagni, ein einflussreicher Kommentator in Argentinien, spottet: «Milei fühlt sich jetzt wie ein globaler Prophet.»
Tatsächlich ist aber wenig bekannt darüber, wie langfristig und akribisch die Deregulierung in Buenos Aires vorbereitet wurde und wie radikal und diszipliniert sie jetzt umgesetzt wird. Wie eine Maschine produziert Sturzeneggers Team täglich neue Gesetzesänderungen, die mit der Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten.
Anfang Dezember etwa wurde dort verkündet, dass Arzneimittel künftig auch über digitale Plattformen vertrieben werden dürfen. Ausserdem wurden Steuervergünstigungen für 23 Industrieparks gestrichen. Universitäten müssen künftig alle Investitionen öffentlich ausschreiben und dürfen Aufträge nicht mehr intern vergeben. Die nationale Kommission für Mikrokredite soll aufgelöst werden. Die Gehälter und Kosten der Behörde sollen die Zahl der vergebenen Kredite bei weitem übertroffen haben.
Importe von Konsumgütern sind künftig bis zu einem Wert von 400 Dollar steuerfrei. Eine vierköpfige Familie kann nun Waren im Wert von bis zu 8000 Dollar pro Jahr zollfrei im Internet bestellen. Damit will die Regierung die hohen Preise im Inland senken – für die wenigen verbliebenen Unternehmen der lokalen Konsumgüterindustrie dürfte die Massnahme das Aus bedeuten.
Per App können die Bürger störende Gesetze melden
Über die App «Reportá la burocracia» kann die Bevölkerung melden, wo sie die Bürokratie nervt und wie sie das ändern würde. «Helfen Sie uns, Regeln zu identifizieren und abzuschaffen, die den freien Handel und den Wettbewerb behindern», heisst es dort. Innerhalb weniger Tage sollen 2500 Vorschläge eingegangen sein.
Auch skurrile Bestimmungen tauchen im Amtsblatt auf: Künftig sollen nur noch besonders arme Menschen kostenlose Medikamente erhalten – wer kein Einkommen angibt, aber eine Jacht oder ein Privatflugzeug besitzt, bekommt ebenfalls keine Medikamente umsonst.
Obwohl nur eine Minderheit der Abgeordneten und Senatoren im Kongress Mileis Partei La Libertad Avanza angehört, gelang es ihm dank seiner grossen Popularität und dem Verhandlungsgeschick seines Fraktionschefs, seine Gesetze im Kongress durchzubringen. Diese können nur mit Mehrheiten im Senat und in der Abgeordnetenkammer abgelehnt werden.
Es sei eine beachtliche politische Leistung Mileis, die Staatsausgaben um ein Viertel gekürzt zu haben, sagt der befragte Ökonom. Keine Regierung zuvor habe es gewagt, die zentrale Ursache des jahrzehntelangen Inflationsproblems so radikal anzugehen.
Die entscheidenden Ausgabenkürzungen erreichte das Duo Sturzenegger – Milei durch den Stopp aller öffentlichen Bauten, das Einfrieren der Transfers an die Provinzen und die Streichung von Subventionen für Strom, Erdgas und Transport. Auch die verzögerte Anpassung der Renten an die Inflation war wichtig, um das Staatsdefizit zu senken. Die rund sechs Millionen Rentner bekämen heute real wieder so viel wie vor einem Jahr, weil die Inflation zurückgegangen sei, so der Ökonom. Von Januar bis heute hätten sie aber kumuliert deutlich weniger bekommen als im Vorjahr.
Beamte sollen auf ihre Eignung geprüft werden
Sturzenegger kündigte nun eine zweite Phase der Staatsreformen an: 40 000 Beamte sollen in den nächsten drei Monaten Prüfungen ablegen, ob sie die Kriterien für ihren Job erfüllen. Geprüft werden Mathematik, Logik, Denk- und Lesefähigkeit sowie Kenntnisse im öffentlichen Recht. In drei Stufen, je nach Position.
Noch vor kurzem wäre das undenkbar gewesen. Die Gewerkschaften der öffentlichen Angestellten hätten sich heftig gewehrt und zum Streik aufgerufen. Doch nun fürchten sie, dass sich unter Milei die öffentliche Meinung gegen sie wenden könnte – und halten sich mit Protesten zurück.
Sturzenegger weiss, dass seine Zeit knapp ist
Laut Alfonso García Mora von der Weltbanktochter International Finance Corporation sind die mikroökonomischen Reformen ebenso wichtig für den Erfolg der Regierung wie die Inflationsbekämpfung: «Diese Massnahmen schaffen mehr Wettbewerb und ermöglichen den Bürgern den Zugang zu einer breiteren Palette von Produkten und Dienstleistungen.» Mittelfristig seien Reformen im Staatsapparat wichtig, um eine neue Dynamik in der Wirtschaft auszulösen – die Inflationsbekämpfung allein reiche dafür nicht aus.
Für Sturzenegger sei die Schlüsselrolle bei der Staatsreform eine späte Genugtuung, sagt der Insider. Denn unter dem Mitte-rechts-Präsidenten Mauricio Macri, der ab 2015 erfolglos eine liberale Staatsreform versuchte, wurde Sturzenegger als Notenbankchef entlassen. Er wollte eine strenge Geldpolitik verfolgen, um die Inflation zu senken. Macri hingegen setzte auf eine Lockerung der Inflationsziele, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Die Entlassung des Notenbankchefs wird seitdem immer wieder mit dem Scheitern der Regierung Macri in Verbindung gebracht. «Unter Milei hat Sturzenegger nun die politische Rückendeckung für eine viel umfassendere Reformagenda, als sie damals möglich war.»
Inzwischen ist Sturzenegger auch Minister. Es heisst, er könne jedes Büro eines Kabinettsmitglieds betreten, ohne anzuklopfen, so einflussreich sei er. Aber er weiss auch, dass seine Zeit knapp ist: Das Notstandsgesetz läuft am 8. Juli 2025 aus. Dieses Datum soll Sturzenegger gross an seine Bürotür gepinnt haben.

