Das Massaker der Hamas vom Oktober 2023 war ein Massenmord. Aber es war auch ein Massenraub. Ein lange vorbereiteter Akt in einem über Jahrzehnte entwickelten Plan.
In den vergangenen Wochen inszenierte die Hamas die Rückführung der israelischen Geiseln oder ihrer sterblichen Überreste als gigantische Volksfeste. Musik, Fahnen und feiernde Menschenmengen begleiteten die zynischen Shows. Sie zeigten: Die Macht der Hamas fusst nicht nur auf militärischer Gewalt, sondern auch auf dem Einbezug der Bevölkerung des Gazastreifens in ein gemeinsames Unternehmen.
Das zeigte sich auch am 7. Oktober: Nach dem Terrorakt der Hamas folgte eine zweite Welle, an der neben verschiedenen Terrororganisationen auch Tausende Zivilisten teilnahmen. Sie plünderten in den Grenzgemeinden, mordeten, vergewaltigten und verschleppten israelische Zivilisten. Die Aufnahmen der Entführung der Bibas-Familie zeigen deutlich: Auch Shiri Bibas-Silberman und ihre beiden Kinder wurden in der zweiten Welle von bewaffneten Zivilisten entführt, die sie später grausam ermordeten.
Der 7. Oktober war nicht nur ein Massenmord, sondern auch ein Massenraub. Teile der Bevölkerung schlossen sich zu einer Raubgemeinschaft zusammen: Autos, Spielzeuge und alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde in den Gazastreifen mitgenommen. Die weiblichen Geiseln wurden, wie schon beim Islamischen Staat, versklavt und in Wohnhäusern «gehalten». Doch in Zukunft winkte noch viel grössere Beute.
Das in Dokumenten und Reden immer wieder ausgedrückte Ziel der Hamas, Israel zu zerstören, war keine blosse Rhetorik, sondern fusste auf konkreten Plänen. 2014 setzte die Hamas ein Komitee ein, um die neue Ordnung nach der Vernichtung Israels zu planen: die sogenannte «Behörde des letzten Versprechens» (arabisch «Haiat Waad al-Akhira»). Geleitet wurde die Behörde von Issam M. A. Adwan, einem Akademiker und ehemaligen Hamas-Verantwortlichen für Flüchtlingspolitik.
Die Wannseekonferenz der Hamas
Adwan war als Professor an der Al-Quds Open University angestellt und lehrte dort Zeitgeschichte. Die Universität ist Mitglied internationaler Forschungsnetzwerke, zählt Zehntausende von Studenten und unterhält Einrichtungen im Gazastreifen und im Westjordanland. Der Gaza-Campus wurde während des Krieges zerstört. Adwan war ein ganz normaler Akademiker: Er schrieb Beiträge für Fachzeitschriften, lehrte und hielt öffentliche Vorträge.
Daneben plante er die Zerstörung Israels – und führte dies auf seiner Universitäts-Website als Teil seiner wissenschaftlichen Leistungen auf. So erfährt man aus dieser Liste, dass die «Behörde des letzten Versprechens» bereits 2017 eine Konferenz durchführte, die sich mit dem Ende Israels beschäftigte. Ein Zentrum, das der Verbreitung seiner Forschung dient, wurde ebenfalls 2017 gegründet und hat seinen Sitz in der Türkei.
Im September 2021 präsentierte die Nachkriegsbehörde ihre Pläne für die Zeit nach der Zerstörung Israels an einer öffentlichen, von der Hamas finanzierten Konferenz. Der Energieminister des Gazastreifens, Kanaan Obeid, leitete die Konferenz und hielt die Eröffnungsrede. Er datierte den Anfang der Hamas-Nachkriegsplanung zwanzig Jahre zurück in die Zeit nach der israelischen Räumung des Gazastreifens: «Die Befreiung des Gazastreifens von der Besatzung im Jahr 2005 war eine Erfahrung der Befreiung, und wir haben daraus eine Lehre gezogen – insbesondere als die Ressourcen der [israelischen] Siedlungen verlorengingen.»
Man plante also die Übernahme Israels minuziös, um sicherzustellen, dass die israelischen Güter dieses Mal in den Dienst des neuen islamistischen Staates Palästina gestellt werden könnten. Dafür hatte man Verzeichnisse israelischer Wohnungen und Institutionen, darunter Bildungsstätten, Schulen, Tankstellen, Kraftwerke und Abwassersysteme, erstellt, wie Obeid in seiner Rede erklärte. Die Hamas bereitete also einen organisierten Raub an jüdischem Eigentum vor, wie man ihn seit dem Holocaust nicht mehr gesehen hatte.
Die «Agenten» Israels
Die Konferenz präsentierte zwanzig Empfehlungen zur Regelung der Nachkriegsordnung. Sie reichen von der Aussen- über die Währungspolitik bis zum Umgang mit der jüdischen Bevölkerung. Ein Rat zur Befreiung Palästinas würde den neuen Staat während der Übergangsphase leiten bis zur Wahl der neuen Regierung des Präsidenten. Die Unabhängigkeitserklärung, die nach der Zerstörung Israels veröffentlicht würde, sollte die arabischen, islamischen und regionalen Elemente der palästinensischen Identität betonen. Souveränität würde der neue palästinensische Staat über das gesamte Gebiet Israels, des Westjordanlands und Gazas ausüben.
Doch was sollte mit der jüdischen Bevölkerung geschehen? Sie sollte weitgehend vertrieben, unterworfen oder getötet werden. Im Umgang mit jüdischen Siedlern im Land Palästina – für die Hamas sind alle israelischen Juden Siedler – empfahl die Konferenz die Unterscheidung zwischen «Kämpfern, die bekämpft werden müssen, Flüchtigen, die in Ruhe gelassen oder wegen Verbrechen rechtlich verfolgt werden können, und Friedlichen, die sich ergeben und die geduldet werden können oder denen Zeit zum Verlassen gegeben wird».
Ein besonderes Anliegen war den Planern, einen Braindrain zu verhindern. Jüdische Experten aus den Bereichen Medizin, Hightech und Rüstung sollten «für eine gewisse Zeit festgehalten» und gezwungen werden, am Aufbau der neuen, islamistischen Ordnung zu arbeiten. Anstelle der israelischen Bevölkerung sollten die Nachkommen der 1948 geflohenen Palästinenser wieder im Land angesiedelt werden – mithilfe der internationalen Gemeinschaft. Juden, die trotz allem beabsichtigten, im Land zu bleiben und sich der neuen Ordnung zu unterwerfen, sollten als diskriminierte Minderheit, sogenannte Dhimmis, eine Kopfsteuer bezahlen.
Ankündigung des 7. Oktobers
Der Architekt des 7. Oktobers, Yahya Sinwar, übernahm die Schirmherrschaft der Konferenz. Weil er nicht persönlich anwesend sein konnte, wurden seine Grussworte verlesen: «Wir unterstützen diese Konferenz, weil sie mit unserer Einschätzung übereinstimmt, dass der Sieg nahe ist.» «Die vollständige Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Fluss» sei «das Herzstück der strategischen Vision der Hamas». Im Nachhinein liest sich das wie eine Ankündigung des 7. Oktobers.
Weitere hochrangige Funktionäre der Hamas wie Mahmud az-Zahar oder des Islamischen Jihad besuchten die Konferenz. Dies unterstreicht, dass es sich bei den an der Konferenz präsentierten Plänen nicht nur um ein akademisches Planspiel handelte, sondern um eine echte Vision.
Die Ausrichtung der Konferenz im September 2021 war kein Zufall. Während des kurzen Krieges im Mai 2021 hatte die Hamas erstmals Raketen auf Jerusalem abgefeuert, und in israelischen Städten kam es zu Unruhen unter den arabischen Israeli. Während Israel glaubte, die scharfe militärische Reaktion habe die Hamas abgeschreckt, war genau das Gegenteil der Fall. Die Hamas war überzeugt, das Ende Israels stehe kurz bevor. Yahya Sinwar, der seit 2017 die Hamas im Gazastreifen anführte, förderte fortan Planungen zur Invasion von Israel. Daraus entstand der Plan «Die Mauern von Jericho», von dem die israelischen Nachrichtendienste bereits seit 2022 wussten und der am 7. Oktober umgesetzt wurde.
Die Indizien waren also mehr als deutlich. Viele Reden der Konferenz wurden kurze Zeit später auf Youtube hochgeladen. Auch die arabische Presse berichtete ausführlich, und das Middle East Research Institute übersetzte den Konferenzbericht ins Englische. Aber weder Israel noch die westlichen Länder glaubten wirklich daran, dass die Hamas, die seit den 1980ern die Zerstörung Israels predigte, dies auch konkret plante.
Raubgemeinschaft
Die Nachkriegspläne der Hamas unterstreichen: Das Hamas-Regime stützte sich nicht nur auf die Organisation selbst, sondern auch auf die Unterstützung und Einbindung der breiten Bevölkerung. Diese konnte erwarten, vom Mord an den Israeli und ihrer Vertreibung zu profitieren – wie sie es nach dem 7. Oktober tatsächlich für kurze Zeit tat. Zu diesem Zweck hatte die Hamas umfassende Informationen über israelisches Eigentum gesammelt.
Anders gesagt: Die Hamas verwandelte Gaza in eine riesige Raubgemeinschaft. Diese Art von Gesellschaft, wie sie auch im nationalsozialistischen Deutschland existierte, bezeichnete der Historiker Götz Aly als «sozialen Volksstaat». Er musste zwingend auf einen Akt der Massengewalt hinauslaufen.
Auch zivile Institutionen, wie Universitäten, waren in die Planung des Völkermordprojekts involviert. Die Entstehung des Volksstaates im Gazastreifen, der zivile und militärische Strukturen umfasste, wäre kaum erklärbar ohne die massive internationale Hilfe, die seit dem Hamas-Putsch 2007 ohne wirksame Kontrolle in den Gazastreifen floss.
Daniel Rickenbacher ist Historiker, Publizist und Kommunikationsberater. Er forscht unter anderem zu den Beziehungen der Schweiz zum Nahen Osten.