Bald wird ein neuer Papst gewählt. Im schönsten Wahllokal der Welt, der Sixtinischen Kapelle. Vor Michelangelos Vision vom Ende der Zeiten geben die Kardinäle ihre Stimme ab.

Der Papst ist tot, die Wahl steht an. In den nächsten Tagen werden die stimmberechtigten Kardinäle zum Konklave zusammentreten. Wer es als Papst verlassen wird, weiss niemand. Aber der Ablauf der Prozedur steht fest, bis ins kleinste Detail. Den Anfang macht eine feierliche Messe im Petersdom. Dann ziehen die Kardinäle in protokollarisch festgelegter Reihenfolge durch die Sala Regia im Apostolischen Palast des Vatikans in die Sixtinische Kapelle. Die Tür wird verschlossen, die Wahl beginnt.

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Seit rund vier Jahrhunderten wird der Papst in der Sixtinischen Kapelle gewählt. Zunächst mit wenigen Ausnahmen, seit 1878 immer. Schon im Mittelalter fand die Wahl meistens in Rom statt. Oft allerdings auch dort, wo der vorherige Papst gestorben war: in Terracina, Cluny, Ferrara oder Viterbo. Und wenn in Rom, dann nicht immer am gleichen Ort, sondern in verschiedenen Kirchen: in der alten Sankt-Peters-Kirche oder in der Lateranbasilika. Nur während des Exils der Päpste im 14. Jahrhundert wurde in Avignon gewählt.

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts etablierte sich ein strengeres Wahlprozedere. Und vor allem: das Konklave. Nach dem Tod von Papst Clemens IV. brauchten die Kardinäle drei Jahre, um sich auf einen Nachfolger zu einigen. Gregor X., der schliesslich gewählt wurde, ordnete an, dass die Kardinäle während der Wahl künftig keinen Kontakt zur Aussenwelt haben dürfen. War nach drei Tagen kein Papst gewählt, wurden die Essensrationen gekürzt. Solange das Verfahren nicht entschieden war, hatten die Kardinäle keine Einkünfte. Bis die Wahl feststand.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fand das Konklave regelmässig in Rom statt – mit wenigen Ausnahmen, etwa während der Besetzung des Kirchenstaats durch Napoleon. Zunächst meistens in der Cappella Paolina, die unweit der Sixtinischen Kapelle im Apostolischen Palast liegt. Im 17. Jahrhundert etablierte sich die Sixtina als Ort der Papstwahl. Und zwar im Rahmen einer weiteren Reform. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatte es Bestrebungen gegeben, die Wahl von politischen Einflüssen zu befreien. Ohne durchschlagenden Erfolg. 1621 ordnete Papst Gregor XV. die Papstwahl grundlegend neu.

Das Gewissen der Kardinäle

Jeder Kardinal sollte frei wählen. Ohne von politischen Vorgaben beeinflusst zu sein. Oder von Loyalitäten, die sich aus familiären Verbindungen ergaben. Das Verfahren wurde streng formalisiert. Die Kardinäle stimmten nicht mehr mündlich ab, sondern schriftlich. Die Wahl war geheim. Und – auch das ordnete Gregor XV. an – sie sollte in der Sixtinischen Kapelle stattfinden. Unter dem monumentalen Wandbild von Michelangelos «Jüngstem Gericht»: dem Bild, das zeigt, wie die sündigen Menschen am Ende der Zeiten Rechenschaft ablegen müssen über ihr Leben. Das sollte jedem Kardinal die Folgen einer falschen Gewissensentscheidung drastisch vor Augen führen.

Bei der Wahl mussten die Kardinäle einzeln in die Mitte der Kapelle treten. Jeder hatte seine Stimme vor dem Altar abzugeben. Mit Blick auf den von der sündigen Menschheit umgebenen Jesus Christus, der die Guten in den Himmel und die Bösen in die Hölle wies. Bevor er seinen Wahlzettel in einen Kelch warf, der als Wahlurne diente, musste er die rituelle Eidesformel sprechen: «Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden sollte.»

So, wie es Gregor XV. entschied, ist es geblieben. Bis heute wählen die Kardinäle den neuen Papst unter dem Bild von Michelangelos Höllensturz. Und sie sprechen dabei die gleichen Worte. In den 1990er Jahren erliess Papst Johannes Paul II. Reformen für das Konklave. Aber er hielt ausdrücklich daran fest, dass die Wahl in der Sixtinischen Kapelle stattfinden sollte. Unter Michelangelos Bild, schrieb er, könnten die Kardinäle «die inneren Eingebungen des Heiligen Geistes» in idealer Weise aufnehmen: «Hier trägt alles dazu bei, das Bewusstsein der Gegenwart Gottes zu fördern, vor dessen Angesicht jeder eines Tages treten muss, um gerichtet zu werden.»

Ein Mahnmal also. Das «Jüngste Gericht» ist das grösste und eindrücklichste Wandbild in der Sixtina. Und das letzte, das Michelangelo vollendete. Fast sechzig Jahre nachdem die Kapelle eingeweiht worden war. 1471 hatte Papst Sixtus IV. den Auftrag für den Bau gegeben. Sobald der Rohbau fertig war, stellte er Maler an, die den schlichten Raum zu dem machten, was er nach Sixtus’ Willen sein sollte: ein Saal mit prunkvollen Bildern, die die Geschichte der Kirche verherrlichten. Die besten Maler der Zeit wurden angestellt: Botticelli, Perugino, Ghirlandaio und Luca Signorelli.

Gewalt, Kampf und Mord

Den Längsseiten entlang ziehen sich zwei Bilderzyklen. Auf der einen Seite Moses, der das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft ins Gelobte Land führt. Auf der anderen wird das Leben Jesu geschildert, von der Taufe über die Versuchung und die Berufung der ersten Apostel bis zum letzten Abendmahl. Eine Szene sticht heraus: Petrus wird von Jesus zum Stellvertreter Christi auf Erden eingesetzt. Als Zeichen dafür bekommt er die Schlüssel zum Himmelreich.

Ein Vierteljahrhundert nachdem die Wandfresken entstanden waren, gab der Nachfolger von Papst Sixtus, Julius II., den Auftrag, auch die Decke der Kapelle mit Fresken zu versehen. Er beauftragte nicht irgendjemanden, sondern Michelangelo Buonarroti. Anfang dreissig, sehr selbstbewusst und eigensinnig, hatte sich Michelangelo bereits mit einigen Werken als führender Bildhauer und Maler bewiesen. Als einer, der neue Wege ging. Keiner, der einfach Bestellungen entgegennahm und ausführte. Einer, der wusste, was er wollte.

Michelangelo arbeitete wie ein Besessener. Vier Jahre lang malte er an den Deckengemälden in der Sixtinischen Kapelle. Auf einem schwankenden Gerüst auf dem Rücken liegend, die Bilder so nahe vor Augen, dass er mit der ungewohnten Perspektive nur schwer zurechtkam. Sein Zyklus ergänzt die Fresken der Längswände. Aber auf sehr eigenwillige Art.

Die Deckengemälde erzählen die Geschichte der Menschheit von der Erschaffung der Welt bis zur Sintflut. Dazwischen stehen Bilder von Propheten, in deren Gesichtern sich das Grauen vor den Übeln spiegelt, die die Menschen einander antun. Und die Furcht vor dem, was sie bis zum Ende der Zeiten noch alles erwartet. Ergänzt wird das Ganze durch nackte Jünglingsgestalten und Szenen aus dem Alten Testament, in denen es um Gewalt, Kampf und Mord geht.

Der zerbrochene Schlüssel

Michelangelos Fresken wirken wie ein sarkastischer Kommentar auf die Bilder von Botticelli, Perugino und Signorelli, die die Geschichte der Kirche als Erfolgsgeschichte erzählen. In seiner düsteren Sicht ist die Schöpfung ein gewaltiger Fehlschlag. Die Menschen halten sich nicht an Gottes Gebote und werden dafür bestraft. Niemand entkommt. Die von der Flut Überraschten klammern sich an die Arche und versuchen vergeblich, ins Innere zu gelangen. Und nicht einmal die Strafe Gottes bringt die Menschen zum Umdenken: Noah liegt betrunken am Boden. Von diesem Mann ist nichts mehr zu erwarten.

Im «Jüngsten Gericht», das er fast drei Jahrzehnte nach der Decke malte, trieb Michelangelo die Kritik noch weiter. In der Mitte des Bildes, wo Christus mit drohender Geste über die sündige Menschheit richtet, ist der Schlüssel wieder zu sehen, den Petrus auf Peruginos Bild erhalten hat. Er gibt ihn an Christus zurück. Aber zerbrochen.

Petrus gibt das Pfand nicht so zurück, wie er es bekommen hat. Er hat ihm keine Sorge getragen, die Kirche ist angeschlagen. Unter dem rechten Arm des richtenden Christus duckt sich eine junge Frau: Ecclesia, die personifizierte Kirche. Vielleicht versucht sie schuldbewusst, selbst der Verdammung zu entgehen. Für die Kardinäle, die den nächsten Papst wählen, hat das monumentale Wandbild im schönsten Wahllokal der Welt eine klare Botschaft: Jeder Mensch muss sich eines Tages für sein Tun verantworten. Und auch die Kirche wird vom Zorn des Weltenrichters nicht verschont.

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