Schimpansen auf tödlicher Mission, eingeschlagene Schädel in der Jungsteinzeit – das sind Hinweise auf den Ursprung des Krieges. Fest steht: Biologische Faktoren sind nicht allein ausschlaggebend.
Ob ihr, der Hochschwangeren, die Hände und Füsse zusammengebunden worden waren, bevor sie getötet wurde, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Und auch nicht, wie sie es gemacht haben. Eine Axt war es wohl nicht, vielleicht eher ein Messer. Sicher ist, dass die junge Frau und ihr ungeborenes Baby keines natürlichen Todes gestorben sind, ebenso wenig wie die 26 anderen Menschen, deren von Pfeilen und Keulen versehrte Körper im Uferschlamm versanken, an einem Tag vor 10 000 Jahren in Nataruk am Turkanasee in Kenya. Die Archäologen, die die Knochen ausgegraben haben, sind sich sicher: Es war kein zufälliges Zusammentreffen zweier Gruppen, das eskalierte. Es war ein geplantes Massaker. Es war Krieg.
Seit wann gibt es Krieg? Diese Frage stellen sich Archäologen, Anthropologen, Soziologen und Psychologen. Nataruk ist der älteste archäologische Nachweis gezielter Gruppengewalt, den wir kennen. Eine Antwort könnte also einfach sein: seit 10 000 Jahren.
Aber dass die Antwort wirklich am Ufer des Sees von Turkana liegt, in den zusammengebundenen Händen einer schwangeren jungen Frau, ist eher unwahrscheinlich.
Seit wann gibt es Krieg? Die Ethnologin Margaret Mead schrieb 1940 in einem Aufsatz: Krieg ist eine Erfindung, wie die Schrift oder gekochte Speisen, aber eine besonders schlechte. Das würde bedeuten: Krieg gibt es noch nicht so lange. Er ist eine kulturelle Erscheinung. Er ist erlernt.
Es ist die eine von zwei Denkschulen. Die andere geht davon aus, dass die Wurzeln des Krieges viel weiter zurückreichen und viel tiefer in uns hinein und dass diese Form der Interaktion einen evolutionären Vorteil bietet. Das würde bedeuten: Krieg ist Teil der menschlichen Natur. Er ist nicht erlernt, er ist angeboren.
I. Vor 50 Jahren: Krieg der Affen
Es war der Archäologe und Anthropologe Louis Leakey, der die Idee hatte, aus dem Verhalten heute lebender Primaten Erkenntnisse über die vor Millionen von Jahren lebenden ersten Menschen zu gewinnen. Eine der drei Frauen, die er in den 1960er Jahren dazu einstellte, war Jane Goodall.
Die ersten zehn Jahre, in denen Goodall die Schimpansen in Gombe in Tansania beobachtete, brachten sie zu der Annahme, die Schimpansen seien Menschen sehr ähnlich – aber friedlicher. Eine nettere Version von uns, so nennt sie es im Rückblick.
Aber dann bemerkte sie, dass eine Gruppe aus etwa fünfzig Schimpansen sich zu teilen begann. Sieben männliche Tiere sowie einige Mütter mit ihren Jungtieren spalteten sich im Verlauf von zwei Jahren komplett ab, auch räumlich. Und dann, an einem Januartag 1974, wurde die Forscherin Zeugin von etwas, an das sie selbst nicht geglaubt hatte und das ihr zuerst auch nicht geglaubt wurde: Mehrere Tiere aus der einen Gruppe griffen ein Mitglied der anderen Gruppe an, warfen es zu Boden, traten auf es ein, schlugen, schrien. Das Tier starb kurz darauf, vermutlich an den Verletzungen.
Die brutale Gewalt zwischen den Schimpansen setzte sich über vier Jahre fort. Am Ende waren alle männlichen Mitglieder der Untergruppe tot oder verschwunden. Die Sieger übernahmen das Territorium und die drei überlebenden weiblichen Tiere.
Dass Artgenossen um Reviere oder Paarungspartner kämpfen, mitunter bis zum Tod, ist bei den meisten Tieren normal. Was Goodall beobachtete, war aber etwas anderes. Hier koordinierten sich Mitglieder einer sozialen Gruppe, um gemeinsam ein Mitglied einer anderen Gruppe zu töten. Die Episode ist heute unter der Bezeichnung «Schimpansen-Krieg von Gombe» bekannt.
Goodalls Beobachtungen, die in den folgenden Jahrzehnten von anderen Forschern bestätigt wurden, waren ein Schock. Menschen und Schimpansen sind extrem eng miteinander verwandt, ihr letzter gemeinsamer Vorfahre lebte vor 6 bis 9 Millionen Jahren. Ist der Krieg also schon so lange bei uns? Dann, sagt die Evolutionsbiologie, muss die Fähigkeit zum Krieg einen Vorteil haben. Aber wenn wir evolutionsbiologisch auf Krieg programmiert sind – bedeutet das, dass alle Friedensbemühungen sinnlos sind?
«Eine biologische Neigung zu einem bestimmten Verhalten heisst nicht, dass es unvermeidlich ist», sagt Luke Glowacki. «Die meisten Wissenschafter, auch die prominentesten Primatenforscher, würden sagen, dass Krieg sowohl biologisch als auch kulturell ist: Er hat eine biologische Basis, aber soziale und kulturelle Institutionen können ihn drastisch verringern.»
Glowacki ist Anthropologe an der Universität von Boston in den USA. Demnächst erscheint sein neuster wissenschaftlicher Aufsatz, in dem er viele der Argumente beider Denkschulen zum Ursprung des Krieges zerlegt, weil sie auf selektiven Daten beruhen und nur berücksichtigen, was ihre These stärkt.
Ein solches Argument ist: Der Krieg der Schimpansen sage gar nichts über die menschliche Evolution. Denn Bonobos seien genauso eng mit uns verwandt wie Schimpansen – und bei diesen Menschenaffen sei so etwas wie in Gombe noch nie beobachtet worden, im Gegenteil, sie würden als sehr sozial und verschmust gelten.
Aber weder Schimpansen noch Bonobos, sagt Glowacki, seien Belege für den Ursprung dieses menschlichen Verhaltens. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Menschen, Schimpansen und Bonobos lebte vor mehr als 5 Millionen Jahren. Seitdem ist viel passiert, und radikale evolutionäre Veränderungen können in viel kürzeren Zeiträumen geschehen. Über das soziale Verhalten vor so langer Zeit lasse sich deshalb nichts ableiten.
«Der Grund, weshalb Schimpansen trotzdem ein interessantes Modell sind, ist: Sie sind eine der wenigen Arten mit dem gleichen Gewaltmuster wie Menschen», sagt Glowacki: «Mitglieder einer Gruppe spüren Mitglieder einer anderen Gruppe auf und töten sie.» Wahrscheinlicher, als dass wir dieses Verhalten vom letzten gemeinsamen Vorfahren geerbt haben, sei, dass es das Ergebnis ähnlicher evolutionärer Bedingungen sei.
Bonobos leben in Gebieten mit reichen Ressourcen, während Schimpansen viel mehr Konkurrenz bei der Nahrungssuche haben. Wenn Schimpansen ein grösseres Territorium beherrschen, haben sie mehr Nachwuchs, können also ihre eigenen Gene zahlreicher weitergeben. Aus den Ähnlichkeiten der Sozialstruktur bei Schimpansen und Menschen folgt: «Ein gewisses Mass an Krieg gab es schon unter den frühen Jägern und Sammlern, auch wenn er wahrscheinlich nicht, wie manche Forscher annehmen, unablässig stattfand», sagt Glowacki.
II. Vor 13 400 Jahren: Eingeschlagene Schädel
Bevor in den 1960er Jahren alles in den Fluten des Nasser-Stausees verschwand, dokumentierten Archäologen in aller Eile Tausende Fundstätten im Niltal. Eine davon war Jebel Sahaba im Norden des Sudans, 13 400 Jahre alt. Die Ausgräber fanden zwischen den Knochen der 61 Toten steinerne Pfeilspitzen und an den Knochen Verletzungen, wo die Pfeile eingeschlagen waren. Vielen gilt Jebel Sahaba als Massengrab aus einem der frühesten Kriege der Menschheit.
2021 nahmen Spezialisten sich die Überreste der Toten noch einmal vor. Sie fanden Kinder mit eingeschlagenen Schädeln und an 41 der 61 Skelette Wunden von Geschossen. Viele dieser Wunden waren verheilt, als das Individuum starb. Doch bis zu 64 Prozent der Menschen im Grab von Jebel Sahaba sind wohl gewaltsam ums Leben gekommen. Allerdings nicht alle zur gleichen Zeit, nicht in einer einzigen Schlacht oder bei einem einzigen Massaker. Die Gewalt, das zeigen auch die verheilten Wunden, zog sich offenbar durch das ganze Leben dieser Menschen. Die Knochen bezeugen: unruhige Zeiten. Aber kein einzelnes kriegerisches Ereignis.
Die besten, direktesten Hinweise auf Krieg in der Archäologie liefern nicht Waffen, die ja immer auch der Jagd auf Tiere dienten, sondern Knochen. Eingeschlagene Schädel oder im Brustkorb steckende Pfeilspitzen sind sprechende Zeichen von interpersoneller Gewalt; typische Verletzungen an den Unterarmknochen zeigen, ob das Opfer eine Abwehrbewegung gemacht hat. Spezialisten können auch erkennen, ob eine Wunde in zeitlicher Nähe zum Tod entstanden ist.
Von den Millionen Individuen der Altsteinzeit, also vom Erscheinen der ersten Frühmenschen vor etwa 3 Millionen Jahren bis zum Ende des Pleistozäns vor etwa 12 000 Jahren, sind weltweit nur ein paar hundert Knochen erhalten geblieben. Keiner weist gesicherte Spuren von Gewalt auf.
Natürlich hinterlässt längst nicht jede tödliche Verletzung Spuren an den Knochen; bei Pfeilen ist es laut Studien etwa jede dritte. Aber auch wenn sich ein eingeschlagener Schädel aus der Altsteinzeit finden würde: ein Mord ist, zumindest nach heutiger Definition, noch kein Krieg. Und selbst die Knochen von vielen Toten wie in Jebel Sahaba erzählen bei eingehender Betrachtung mitunter zwar eine Geschichte der Gewalt, aber nicht unbedingt von Krieg. Spätestens jetzt wird klar, dass man für die Suche nach dem ersten Krieg auch festlegen muss, was Krieg eigentlich ist.
III. Vor 7000 Jahren: Das Massaker
Bis in die 1980er Jahre scheint sich kaum ein Archäologe die Frage nach dem Krieg jemals gestellt zu haben. Dann stiess 1983 ein Hobbygärtner auf seinem Grundstück in Talheim bei Heilbronn in Baden-Württemberg auf menschliche Knochen. Die folgende archäologische Ausgrabung förderte die sterblichen Überreste von 34 Toten zutage, Männer, Frauen, Kinder, die Schädel mit steinernen Hacken eingeschlagen, von hinten, ohne erkennbaren Widerstand, kreuz und quer in ein Massengrab geworfen. Todeszeitpunkt: ungefähr 5080 v. Chr., am Ende der ersten Phase des Neolithikums, der Jungsteinzeit, als die Menschen in Mitteleuropa von Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern wurden. In Talheim wurde offenbar eine ganze Gemeinschaft dahingemetzelt.
Seit dem Fund von Talheim sind in Mitteleuropa noch weitere Massengräber aus dem Neolithikum aufgetaucht, in denen ebenfalls jeweils die massakrierte Bevölkerung eines Ortes lag.
Anders als heute, wo mit modernen Waffen auch eine Einzelperson ganz ohne kriegerischen Kontext Massenmorde begehen kann, gelten Massaker wie das von Talheim oder im viel älteren Fundort Nataruk in Kenya immer als kriegerischer Akt.
Denn damit Krieg überhaupt eine archäologische und anthropologische Kategorie sein kann, wird sehr umfassend definiert: Krieg ist, wenn Individuen als Gruppe organisiert Mitglieder einer anderen sozialen Gruppe angreifen und töten.
Allerdings gibt es auch andere Definitionen – und eine ganze Reihe von Meinungsunterschieden zwischen den eingangs erwähnten Denkschulen beruht auch einfach auf diesen unterschiedlichen Ansichten von dem, was Krieg ist.
Margaret Mead definiert Krieg als «anerkannten Konflikt zwischen zwei Gruppen als Gruppen, in dem jede Gruppe eine Armee (auch wenn diese Armee nur aus 15 Pygmäen besteht) ins Feld schickt, um, wenn möglich, Mitglieder der Armee der anderen Gruppe zu töten». Andere verlangen sogar noch viel weitergehende Ebenen der Organisation wie etwa Kommandostrukturen. Glowacki findet solche engen Definitionen «nicht besonders erhellend». Er ist Evolutionsanthropologe; für ihn muss eine Definition artenübergreifend funktionieren.
Damit unterscheidet sich die anthropologische Definition stark von dem, was wir heute unter Krieg verstehen: zwei Armeen, deren Angehörige nicht für nur sie persönlich betreffende Ziele in den Kampf ziehen, sondern auf Befehl von oben, meistens im Konflikt um Territorium beziehungsweise die politische Vorherrschaft über ein Gebiet. Die Soldaten – nicht nur, aber meistens Männer – sind dabei im Grunde Stellvertreter für den Rest der Bevölkerung und kämpfen mehr oder weniger explizit für sie und in ihrem Namen.
Das setzt voraus, dass es hierarchische Strukturen gibt und mehr oder weniger professionalisierte Kämpfer, die sich auf Schlachtfeldern begegnen.
Die längste Zeit der Geschichte aber waren die Menschen Jäger und Sammler. Diese Gesellschaften haben typischerweise keine stark ausgeprägten hierarchischen Strukturen. Ein Krieg nach dieser modernen Definition ist damit nicht denkbar.
Seit wann gibt es Krieg? Es kommt darauf an, was man unter Krieg versteht.
IV. Vor 3000 Jahren: Der moderne Krieg
Berge von Toten, vor allem Männer, Knochen mit Schussverletzungen, dazu Waffen – so sieht ein Schlachtfeld archäologisch aus. Und genau diese Dinge haben Archäologen an dem kleinen Flüsschen Tollense im Nordosten Deutschlands gefunden und auf 1250 v. Chr. datiert. Zwar sind die Funde teilweise im Verlauf der Zeit vom Fluss durcheinandergewirbelt und weggeschwemmt worden, und wo genau und über welchen Zeitraum sie unter die Erde gelangten, lässt sich nicht mehr erkennen. Trotzdem gehen Archäologen davon aus, dass an der Tollense gekämpft wurde, möglicherweise um einen Flussübergang, auf jeden Fall heftig. An einer Stelle lagen mindestens 70 Tote, fast ausschliesslich junge Männer, dazu Pferdeknochen, Pfeilspitzen aus Stein und Bronze.
Die Zeit um 1250 v. Chr. nennen Archäologen heute Bronzezeit, zumindest in Europa und dem Mittelmeerraum. Im Mittelmeerraum existierten zu dieser Zeit längst Grossreiche und Stadtstaaten, politische Gebilde, die teilweise jahrhundertelang um die Vorherrschaft rangen, entstanden und untergingen. Der König von Ägypten liess seine Truppen gegen die der Hethiter aus der heutigen Türkei kämpfen. Davon zeugen nicht archäologische Funde auf dem Schlachtfeld, sondern der erste erhaltene Friedensvertrag der Geschichte.
Aus dem heutigen Nordostdeutschland hingegen ist bis jetzt kein Grossreich bekannt, Schriftquellen gibt, es anders als im Mittelmeerraum, nicht.
Man muss davon ausgehen, dass nur ein Bruchteil der Toten gefunden wurde, und mithilfe von Schätzungen zur Tödlichkeit damaliger Waffen extrapolieren Archäologen eine Zahl von zwischen 2000 und 6000 an der Schlacht an der Tollense beteiligten Kämpfern. Viele der gefundenen Objekte stammen nicht aus der Region. Chemische Analysen der Knochen haben Hinweise erbracht, dass die toten Männer ebenfalls unterschiedlicher Herkunft waren. Viele von ihnen hatten verheilte Wunden. Deshalb vermuten manche Archäologen, dass es sich nicht um die Untertanen eines Herrschers handelte, die nolens volens in den Kampf ziehen mussten, sondern um trainierte Soldaten.
V. Heute: Die wirklich gute Erfindung
Luke Glowacki mag das Zitat von Margaret Mead, dass Krieg nur eine schlechte Erfindung sei. Seine Forschungsergebnisse sprechen allerdings dagegen, dass Mead recht hatte. Die Fähigkeit zum Krieg liegt wohl in unseren Genen; ob er ausbricht, hängt von sozialen Faktoren ab. Aber das Gleiche gilt für die Fähigkeit zur Kooperation; offenbar war es evolutionär vorteilhaft, beide Fähigkeiten gleichzeitig zu besitzen und sie je nach Situation zu nutzen.
Was erst mit der Zeit hinzugekommen ist, sind kulturelle Institutionen, um Konflikte beizulegen. Das kann ein Justizsystem sein, die Vereinbarung von Busszahlungen für getötete Familienmitglieder oder gemeinsame Rituale, etwa das Begraben des Kriegsbeils bei einigen der indigenen Gruppen Nordamerikas. Vor etwa 100 000 Jahren habe sich all dies entwickelt, vermutet der Evolutionsbiologe. Nicht der Krieg, sagt Glowacki, etwas anderes sei es, was der Mensch erfunden habe, und es sei etwas wirklich Gutes: den Frieden.