Samstag, September 28

Die Afroamerikaner waren vor vier Jahren Joe Bidens treuste Wähler. Dank ihnen feierte er im Südstaat Georgia einen historischen Sieg. Aber nun bröckelt auch dort die Unterstützung für ihn.

Kürzlich hielt Präsident Joe Biden an der Abschlussfeier des Morehouse College eine leidenschaftliche Rede. Den Ort für den Auftritt in Georgias Hauptstadt Atlanta wählte er bewusst: Die von afroamerikanischen Baptisten gegründete Privatuniversität ist die Alma Mater des legendären Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King. «Er war mein Held», erklärte Biden vor den überwiegend schwarzen Absolventen der Hochschule. Nach Kings Ermordung 1968 habe er seine Stelle in einer schicken Anwaltskanzlei aufgegeben, um sich als Pflichtverteidiger und als Bezirksrat für die Sache der Bürgerrechtsbewegung einzusetzen.

Biden zählte auf, wie bunt seine Regierung ist und wie viele Milliarden sie in afroamerikanische Universitäten oder Infrastrukturprojekte in schwarzen Wohngebieten investiert: «Wir brechen Türen ein, damit ihr hundert Mal mehr Möglichkeiten habt.» Doch trotz der Charmeoffensive kehrten einige Graduierte dem Präsidenten den Rücken zu. Aus Protest über den Krieg im Gazastreifen trugen einzelne ein Palästinensertuch über den Schultern und reckten eine Faust in den Himmel.

«Genozid contra Autoritarismus»

Auch James Woodall ist unzufrieden mit Biden. Der 30-jährige Demokrat, Bürgerrechtler und Priester predigt in einer Kirche fünf Fahrminuten vom Morehouse College entfernt. Die Strasse im Westen von Atlanta führt durch ärmliche Einfamilienhausquartiere. Nicht wenige der einfachen Holzhäuser sind verlottert. Da und dort sind Menschen zu sehen, deren Gang und deren Gesicht von einer Drogensucht gezeichnet sind. «Es gibt ein echtes Gefühl der wirtschaftlichen Erschöpfung», erzählt Woodall, der am Morehouse College Religionswissenschaft studierte und von 2019 bis 2021 in Georgia der jüngste Präsident der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP war.

Die Preise für Benzin, Essen oder Strom seien in den vergangenen Jahren massiv gestiegen, während die Löhne zwar zugelegt hätten, aber mit dieser Entwicklung nicht hätten mithalten können, meint Woodall. Biden und sein Wahlkampfteam feiern eine rekordtiefe Arbeitslosigkeit, Millionen von neu geschaffenen Stellen und rekordhohe Börsenkurse. Aber viele Leute brauchten zwei bis drei Jobs, um zu überleben: «Unsere Wirtschaft funktioniert nur für jene, die Millionen von Dollar auf dem Buckel der Arbeiterschaft verdienen.»

In Woodalls Augen sind die USA ein Imperium, das sich im Ausland fälschlicherweise als wirtschaftliches und demokratisches Vorbild gebärt: «In der Realität tun wir zu Hause nicht das Richtige.» Umso wütender ist er über Bidens beharrliche Unterstützung für Israel im Gaza-Krieg. Seine Solidarität gilt den Palästinensern. Jeden Sonntag seien die blutigen Ereignisse im Nahen Osten ein Thema im Gottesdienst, erzählt Woodall. Denn wie die Palästinenser hätten auch die Afroamerikaner in den USA für viele Jahrzehnte keinen Staat gehabt, um sich gegen ihre Unterdrücker zu wehren. Wenn er höre, wie einige in Israel die Palästinenser als Tiere oder Barbaren bezeichneten, erinnere ihn dies daran, wie Schwarze lange Zeit in den Südstaaten gesehen worden seien.

Die Wahl zwischen Joe Biden und Donald Trump im Rennen um das Weisse Haus beschreibt Woodall verkürzt als «Genozid contra Autoritarismus». Mehr und mehr Wähler würden im Herbst deshalb weder für Trump noch für Biden stimmen. «Und ich bin vermutlich einer von ihnen.»

Rassismus ist kaum noch ein Thema

Die Frustration und Apathie unter den Afroamerikanern könnte die Wahl im November entscheiden. In Georgia machen sie rund ein Drittel der Wählerschaft aus. Nur wenn viele von ihnen zur Urne gehen, kann Biden seinen historischen Triumph in Georgia wiederholen. Vor vier Jahren stimmten rund 90 Prozent der Schwarzen für ihn. Als erster Demokrat seit Bill Clintons Sieg 1992 konnte er dadurch die Wahl in dem konservativen Gliedstaat gewinnen – allerdings nur mit einem hauchdünnen Vorsprung von knapp 12 000 Stimmen.

Momentan zeichnen die Umfragen ein düsteres Bild für den Präsidenten: Gemäss einer neuen Erhebung der «New York Times» wollen derzeit lediglich 66 Prozent der Afroamerikaner in Georgia ihren Wahlzettel für Biden einlegen, 20 Prozent stehen hinter Trump. Insgesamt führt der ehemalige Präsident in den Umfragen mit einem Vorsprung von fünf Prozentpunkten.

Die Stimmung in Georgia und im ganzen Land war vor vier Jahren eine ganz andere. «Wir nannten den Sommer 2020 den Sommer der Abrechnung über die rassistische Diskriminierung», erzählt Wanda Mosley im Büro ihrer Organisation Black Voters Matter in Atlanta. Nicht Bilder aus Gaza, sondern Bilder der Gewalt gegen Schwarze in den USA trieben die Menschen damals auf die Strasse. Im Süden von Georgia erschossen weisse Privatpersonen im Februar 2020 einen afroamerikanischen Jogger, weil sie ihn für einen Dieb hielten. Später tauchte ein Video davon auf. Im Mai drückte ein weisser Polizist in Minneapolis sein Knie so lange auf George Floyds Nacken, bis er erstickte. «Die Leute sahen auf Facebook, wie Floyd starb», meint Mosley. Dieser Moment habe viele mobilisiert.

Auch in Atlanta demonstrierten Tausende gegen Rassismus und Polizeigewalt. Als wichtigsten Grund für Bidens grossen Erfolg in Georgia nennt Mosley jedoch den Aufbau eines grossen Netzwerks von Nichtregierungsorganisationen, die Wähler registrierten und mobilisierten. Während mehr als zehn Jahren seien dafür «enorme Anstrengungen» unternommen worden. Die Führungsfigur war dabei die Bürgerrechtlerin Stacey Abrams. 2018 verlor die Demokratin die Gouverneurswahl gegen den Republikaner Brian Kemp nur ganz knapp und zeigte auf, was in Georgia möglich ist. Ihre Organisation Fair Fight konnte in den drei Jahren danach über 100 Millionen Dollar an Spendengeldern aus dem ganzen Land einnehmen.

Black Voters Matter sei das fehlende Puzzleteil in diesem ganzen Netzwerk gewesen, meint Mosley. Ihre 2018 gegründete Organisation bringe afroamerikanische Wähler in den ländlichen Gebieten der Südstaaten zur Urne. Diese gingen oft nicht abstimmen, wenn sie nicht einen Telefonanruf bekämen oder jemand an ihre Türe klopfe. «Ich habe alle meine Zeit darauf verwendet, Führungspersonen in den Gemeinden zu finden, denen die Menschen vertrauen.»

Nach den Morden an Floyd und anderen Schwarzen seien ihnen 2020 besonders viele Spenden aus dem ganzen Land zugeflossen, erzählt Mosley. «Die Geldgeber wollten in das Thema der ethnischen Gleichberechtigung investieren. Sie wollten das Problem angehen.» Aber auch dies habe sich heute geändert. Grosse Teile dieser Finanzflüsse seien versiegt: «Sie sind verschwunden, ausgetrocknet. Es gibt sie nicht mehr.» Und das Fehlen dieser Ressourcen erschwere nun ihre Arbeit.

Abrams verlor ihrerseits 2022 ihre zweite Gouverneurswahl gegen Kemp deutlich. Im Januar musste Fair Fight – geplagt von Schulden – den Grossteil der Mitarbeiter entlassen.

Zweifel an der psychischen Gesundheit

Zu den enttäuschten Wählern des Präsidenten gehört auch Wanda Baynes. Nicht weit von Woodalls Kirche entfernt wartet die 67-Jährige im Schönheitssalon ihrer Tochter auf Kundschaft. Draussen an der Fassade des Backsteingebäudes hängen die Bilder berühmter Bürgerrechtler. Drinnen sind die breiten Coiffeurstühle vor den Spiegeln leer. Ihre Tochter verkaufe derzeit vor allem Echthaarperücken, erzählt Baynes. Auf die Wahl im Herbst angesprochen, klagt sie: «Die nationale Politik ging vor die Hunde. Ich habe die Wahl zwischen einem Kriminellen und einem gealterten Bürger, der mehr für andere Länder als für mein Land tut.» Biden habe zu viel Geld in die Ukraine geschickt. «Ich fühle mit den Ukrainern, aber ich lebe in Amerika.»

Über Trump meint Baynes: «Er hat mehr für mich persönlich getan als Biden.» Während der Pandemie habe ihre Tochter den Salon schliessen müssen. In dieser Situation hätten die Hilfsgelder aus Washington geholfen. Zwar verabschiedeten auch die Demokraten unter Biden 2021 ein weiteres Unterstützungspaket für die Wirtschaft. Aber die Zeit der Corona-Lockdowns war damals in Georgia vorbei, die Geschäfte kehrten zur Normalität zurück. Trotzdem wird Baynes auch nicht für Trump stimmen: «Er ist ein Straftäter.»

Ihre Tochter Khadijah liebäugelt hingegen mit Trump: «Unglücklicherweise stimmte ich für Biden.» Dieser habe die Leute während der Pandemie dazu gezwungen, sich impfen zu lassen. Das sei ihr grösstes Problem mit dem Demokraten. Und sie zweifle an Bidens mentaler Verfassung: «Er ist zu fragil, um Präsident zu sein.» Trump hingegen traue sie eher zu, mit den Wirtschaftsproblemen und den Kriegen in der Welt umzugehen. Er sei wie sie ein Unternehmer. «Ich fühle mich unwohler mit Biden im Amt als damals mit Trump.»

Die konvertierte Republikanerin

Ein prominentes Beispiel einer politischen Überläuferin ist Mesha Mainor. Die 39-jährige Abgeordnete in Georgias Repräsentantenhaus, die ein Leben lang Demokratin war, sorgte vor einem Jahr für lokale Schlagzeilen, als sie zur Republikanischen Partei wechselte. Nach ihrer Wahl 2020 habe sie bald festgestellt, dass «die Demokraten in komplettem Widerspruch dazu stehen, was gut für den schwarzen Normalbürger ist», erklärt die Physiotherapeutin in einem Café in Atlanta.

Der endgültige Grund für ihren Parteiübertritt war ein Gesetz über die freie Schulwahl. In ihrem Wahlbezirk in Atlanta könnten in einigen öffentlichen Schulen nur 2 bis 3 Prozent der Kinder so gut lesen, wie es auf dem Niveau ihrer Klasse erwartet werde, erzählt Mainor. Ihre eigene Mutter schickte sie deshalb nicht in die staatliche Schule an ihrem Wohnort. Sie benutzte die Adresse eines Cousins in einem wohlhabenderen Quartier, um ihre Tochter dort für den Unterricht einzuschreiben. «Dafür hätte sie ins Gefängnis gehen können.»

Weil die alleinerziehende Mutter diese gesetzliche Grauzone anderen Familien ersparen wollte, stimmte sie im vergangenen Jahr als einzige Demokratin für die freie Schulwahl. Nun könnten Familien Gutscheine von über 6500 Dollar pro Jahr und Kind beziehen, um eine private oder öffentliche Schule ihrer Wahl zu bezahlen. Bildung sei für alle Kinder das Wichtigste: «Sie bestimmt, ob aus ihnen erfolgreiche Bürger oder hoffnungslose Leute werden.»

Mühe bekundet Mainor auch mit dem Slogan «Defund the Police». Nach dem Mord an George Floyd forderten in den USA vor allem linke Demokraten und Aktivisten die Kürzung der Polizeibudgets. Doch diese Bewegung ist an der Realität der verbreiteten Kriminalität in den amerikanischen Grossstädten gescheitert. Bereits in seiner Rede zur Lage der Nation vor zwei Jahren sprach sich Biden gegen die Parole aus: «Finanziert die Polizei. Finanziert sie. Finanziert sie.»

Zu viel Geld für Migranten

Mainor sieht darin eine zu späte Kehrtwende: «Die Demokraten ändern ihre Story, weil ihre Politik für die Afroamerikaner nicht funktioniert und weil sie ihre Stimmen wollen.» Das Gleiche tue Biden nun mit der Einwanderungspolitik. Wenige Monate vor der Wahl versuche er die rekordhohe Migration an der Südgrenze mit verschärften Massnahmen einzudämmen. «Aber was hat er die drei Jahre zuvor getan?»

«Lassen Sie uns zur Grenze eine Umfrage machen», meint Mainor und ruft spontan einen Gast am Nachbartisch herbei. Er stellt sich als Jessean Banks vor, ein Assistenzprofessor für Psychologie an der historisch schwarzen Clark Atlanta University. «Die meisten Leute haben ein Problem damit, dass der Staat Ressourcen für die Migranten aufwendet. Sie bekommen eine Unterkunft und Geld. Die Afroamerikaner sagen sich: ‹Wir brauchen auch eine Unterkunft, wir brauchen auch Ressourcen›», erklärt Mainor. Dann fragt sie Banks, ob er dem zustimme. Und dieser meint: «Ich stimme dem komplett zu.»

Banks hat vor vier Jahren ebenfalls für Biden gestimmt. Aber nun sei er unentschlossen. Das grösste Problem für ihn sind seine Studienkredite. Für seine drei Abschlüsse habe er eine Schuld von über 100 000 Dollar angehäuft. Gleichzeitig studieren seine zwei Kinder nun an der Universität, und sein Haus ist mit einer Hypothek belastet. «Es ist schwer, aus diesem Loch herauszukommen.»

Biden hatte im Wahlkampf versprochen, Studienkredite im Gesamtwert von 400 Milliarden Dollar oder mindestens 10 000 Dollar pro Person zu streichen. Die konservative Richtermehrheit am Supreme Court stoppte dieses Vorhaben jedoch. Der Präsident versucht nun ein reduziertes Paket zur Schuldentilgung umzusetzen. Aber Banks ist trotzdem enttäuscht: «Er hat viel versprochen, was er nicht gehalten hat. Deshalb frage ich mich, ob ich ihn nochmals wählen soll.»

Obwohl Mainor mit den Demokraten gebrochen hat, verrät sie nicht, ob sie für Trump stimmen wird. Sie erwartet indes kein knappes Rennen in Georgia. «Trump wird gewinnen.»

Exit mobile version