In keinem anderen Land wird auf korrekte Umgangsformen so viel Wert gelegt wie in Japan. Für das weite Feld der Belästigung hat sich nun um das Wort «hara» ein ganzer Begriffskosmos entwickelt – es ist entlehnt vom englischen «harassment».

Lehnwörter aus dem Japanischen haben längst ihren festen Platz im deutschen Wortschatz gefunden. Kaum eine Textnachricht kommt noch ohne Emoji aus, wer gelassen durch den Tag geht, hat sein inneres Zen gefunden, und Animes kennt ohnehin jedes Kind. Auch weniger offensichtliche Begriffe wie der «Bonze» gehören dazu, hergeleitet von vermögenden Mönchen. Oder die Bezeichnung Kamikaze-Aktion, die im heutigen Sprachgebrauch für ein waghalsiges, selbst- und fremdgefährdendes Verhalten steht.

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Das japanische Wort «hara» hingegen dürfte höchstens Praktizierenden von Kampfsportarten oder traditioneller Sitzmeditation bekannt sein. Mit dem Schriftzeichen für «Bauch» geschrieben, bezeichnet es hier das Kraftzentrum in der Körpermitte. Auch im oft fälschlich verwendeten «harakiri» steckt es; wobei diese Form der rituellen Selbstentleibung in Japan eigentlich anders genannt wird, nämlich «seppuku». Aber eben, Wörter nehmen eine ganz besondere Eigendynamik an beim Überschreiten von Landesgrenzen.

Unangemessenes Verhalten sichtbar machen

Das Japanische zeigt sich von jeher offen für neue Wörter und Begriffe. Viele haben sich längst etabliert in der Mitte der Sprache, und ständig kommen neue dazu: Begriffe aus Mode, Pop-Kultur und Politik, aber auch Geistesströmungen und neue Perspektiven auf altbekannte Probleme.

Im geschäftlichen Umgang in Japan wird auf gute Umgangsformen und sauberes Auftreten grosser Wert gelegt. Doch die Gepflogenheiten in den Unternehmen sind noch häufig von vergangenen Sichtweisen geprägt, sprich: auf lebenslange Anstellung von zumeist männlichem Führungspersonal ausgerichtet. Ein Privileg, das für Angehörige der Gen Y und Z inzwischen unerreichbar erscheint.

Während Teile der älteren Generation den gesellschaftlichen Umgang und neue Umgangsformen beklagen, wächst unter jüngeren Beschäftigten das Bewusstsein für persönliche Grenzen – und damit auch der Wunsch, unangemessenes Verhalten sichtbar zu machen und sich aktiv dagegen zu wehren.

In diesem Zusammenhang hat sich der aus dem Englischen stammende Begriff «harassment» etabliert, und zwar in der abgekürzten Form schlicht als «hara». Angefangen hatte es irgendwann in den neunziger Jahren, als sexuelle Übergriffe bei der Arbeit nicht mehr länger totgeschwiegen, sondern thematisiert wurden. Weil diese Begriffe in der phonetischen Umschrift ausgesprochen sperrig sind, behilft man sich mit pragmatischen Abkürzungen: aus «sexual harassment» wurde also statt «sekushuaru harasumento» kurz «seku-hara».

Inzwischen existieren in Japan eine ganze Reihe von «hara»-Formen, von denen einige – wie das oben genannte «seku-hara» – sogar rechtlich anerkannt sind. Ebenfalls dazu gehört das in Firmen oft praktizierte «pawa-hara», das schikanierendes Verhalten durch Vorgesetzte bezeichnet. Das sogenannte «power harassment» ist keineswegs auf japanische Unternehmen beschränkt, wird aber dort durch die hierarchische Organisation begünstigt.

Eng damit verwandt ist auch das neuere «aru-hara», kurz für «alcohol harassment», die Belästigung durch den in Gruppen ausgeübten Trinkzwang an sozialen Anlässen. In vielen japanischen Firmen gehört das gemeinsame Trinken nach Feierabend nach wie vor zum festen Tagesablauf. Wer sich davor drückt, begibt sich ins soziale Abseits, was hinsichtlich der Karrierechancen nicht ratsam ist.

Von der Norm abweichendes Verhalten ist in Japan nicht gerne gesehen, denn wer sich als Einzelner Freiheiten herausnimmt, ohne Rücksicht auf diejenigen zu nehmen, die sich das nicht erlauben können, gilt rasch als dreist und macht sich unbeliebt. Und wer kennt es nicht: Wenn alle Bier, Sake oder Shochu-Schnaps trinken, gilt die alkoholfreie Variante nicht, und auch ein «genug» wird nicht immer akzeptiert oder wird mit dummen Sprüchen quittiert.

Eine weitere traurige Version der Belästigung – auch diese kommt keineswegs nur in Japan vor – ist das sogenannte «mata-hara», die Diskriminierung von Müttern am Arbeitsplatz und die unfaire Behandlung von Schwangeren. Denn selbstredend können diese aufgrund fehlender Betreuungsplätze oder Krippenzeiten nicht an den After-Work-Trinkrunden teilnehmen und müssen zudem den Arbeitsplatz pünktlich verlassen. Wer bei informellen Firmenevents fehlt, hat schlechte Karten beim Networking – und damit auch bei Beförderungen.

Eine perfide Form des Moralisierens

Selbstverständlich hat sich auch der alternative Ausdruck «pata-hara» etabliert, der das gleiche Phänomen für Väter bezeichnet, die ihre Vaterrolle nicht nur auf dem Papier und der Couch ausüben. In der immer älter werdenden japanischen Gesellschaft besteht Care-Arbeit zudem häufig auch in der Pflege betagter Angehöriger. Wer aufgrund deren keine Überstunden leisten kann und deshalb Nachteilen im Berufsleben ausgesetzt ist, erlebt «kea-hara».

Beim «mora-hara» hingegen handelt es sich um eine perfide Form des Moralisierens, bei dem das Gegenüber psychisch unter Druck gesetzt und so eingeschüchtert wird. Im Einzelhandel bezeichnet man mit «kasu-hara» die respektlose Haltung gegenüber dem Verkaufspersonal durch Kundschaft, die das Motto «Der Kunde ist König» übersteigert interpretiert und sich in Geschäften daneben benimmt. Nicht offiziell in allen gesellschaftlichen Kontexten zu finden ist zudem das geschlechtsspezifische «gen-hara», bei dem Personen aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt werden – subtil oder offen, systemisch oder individuell.

Und schliesslich gibt es natürlich auch «hara-hara», die Belästigung durch das ständige Benennen all dieser Diskriminierungsformen. Dieser Begriff wird gerne von jenen ins Spiel gebracht, die ihrem Unmut über die wachsende Sensibilität und die zunehmende Compliance-Kultur Luft machen möchten und sich darüber aufregen. Der japanische Ausdruck dafür ist übrigens «hara ga tatsu», was wörtlich «Der Bauch stellt sich auf» bedeutet. Bei dieser Rückkehr zur eingangs erwähnten Körpermitte wäre vielleicht an dieser Stelle nicht Aufregung, sondern ein wenig gepflegte Meditation der bessere Weg, um in der Gegenwart anzukommen.

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