Vor dem Duell gegen die SSC Napoli herrscht Chaos im Verein. Der Coach Xavi Hernández hat genug von der Schönrednerei – Barças Spielweise hat sich erschöpft.
Kürzlich flogen in der VIP-Loge des FC Barcelona die Canapés durch die Luft. Joan Laporta hatte aus Wut einige Serviertabletts mit Frühlingsrollen umgeschmissen. Laporta ist Präsident des Klubs, was ihn so erzürnte, waren die stümperhaften Abwehrfehler beim 3:3 gegen den Tabellenvorletzten Granada. Sowie der Umstand, dass eine Gruppe von Zuschauern derweil den Vereinschef beleidigte.
Wenn der Volkszorn die Führungsetage erreicht, muss oft der Trainer weichen. In Barcelona aber hat sich der Trainer bereits selbst entlassen. Als vor gut drei Wochen gegen Villarreal sogar ein 3:5 resultierte, erklärte Xavi Hernández nach Unterredungen mit Vertrauten den Rücktritt – aber erst zum Saisonende. Laporta wurde von diesem Entschluss überrascht, nahm den ungewöhnlichen Deal aber zähneknirschend an. «Ich lasse mich darauf ein, weil es Xavi ist»: Eigengewächs, Katalane und Spielmacher der legendärsten Barça-Mannschaft.
Sollte das anstehende Champions-League-Achtelfinalduell gegen die SSC Napoli verlorengehen, dürfte allerdings nicht einmal Xavi zu halten sein. Angesichts von acht Punkten Rückstand auf Real Madrid und des Ausscheidens im spanischen Cup gilt der Europacup als letzte Chance, die Saison würdig zu beenden.
Napoli, der Tabellen-Neunte der Serie A, ist noch schlimmer beieinander – auch in der Trainerfrage. Am Montagabend wurde Walter Mazzarri durch Francesco Calzona ersetzt. Der ehemalige Assistent der Napoli-Granden Maurizio Sarri und Luciano Spalletti sowie gegenwärtige Nationaltrainer des EM-Teilnehmers Slowakei wird in den nächsten Monaten eine Doppelfunktion wahrnehmen. Calzona ist beim abgestürzten Champion bereits der dritte Coach in dieser Saison.
Francesco Calzona es nuestro nuevo entrenador.
¡Bienvenido Mister!
💙 #ForzaNapoliSempre pic.twitter.com/zm05Tk9LG1
— Oficial SSC Napoli (@sscnapoliES) February 19, 2024
Statt der Weiterentwicklung folgte der Rückfall
Meister wurde 2023 auch Barça, das trug Xavi angesichts der Turbulenzen und Geldprobleme im Verein viel Kredit ein. Doch statt der versprochenen Weiterentwicklung gab es diese Saison einen Rückfall. Das von Xavi trainierte Barça erweist sich als unfähig zu dem, was der FC Barcelona des Spielers Xavi am besten konnte – einen Match zu kontrollieren. So ist es permanent den Launen des Schicksals ausgeliefert. Das 2:1 am Samstag beim Tabellen-17. Celta de Vigo war insofern typisch, eine ausgeglichene Partie entschied Robert Lewandowski in der siebenten Minute der Nachspielzeit durch einen im zweiten Versuch verwerteten Zufallspenalty.
Xavi, 44, deutete den glücklichen Sieg danach zum Beweis um, dass er mit der Ankündigung seines Rücktritts auf Ende Saison hin die gewünschte Befreiung der Spieler erreicht habe. Er sprach von einem «guten Barça», einer «beachtlichen Partie» und einem «Schritt nach vorn». Und sorgte damit mal wieder für viel Spott und Stirnrunzeln. Seine Schönrednerei enttäuschender Auftritte gehört zum Soundtrack der Saison. Barças Krise besteht nicht zuletzt im Unterschied zwischen Diskurs und Realität.
Der Trainer selbst wiederum beklagte in den letzten Wochen mehrfach, «dass unsere Arbeit nicht gewürdigt wird». Of sieht er müde aus, weit mehr gealtert, als die zweieinhalb Jahre als Barça-Coach vermuten lassen würden. Xavi ist einst mit viel Optimismus angetreten, doch längst ist er bei Bitternis und Fatalismus gelandet. «Grausam» sei es, Trainer im FC Barcelona zu sein, klagte er gegen das notorisch schwierige Medienumfeld. «Du bekommst täglich das Gefühl vermittelt, dass du nichts wert bist.» Was er auch tue, es sei nie genug: «Wenn ich so eine Stimmung erzeugt habe, dann muss ich gehen.»
Ein verstörter Heilsbringer, gescheitert am Verein, den er liebt – zur Erklärung gehören aber auch externe Faktoren: der Umzug ins stimmungsarme Olympiastadion wegen der Renovierung des Camps Nou; eine Verletzungsplage bei Schlüsselspielern; Schiedsrichterpech in diversen Matches; schliesslich: die Personalpolitik.
Im Sommer verlor das Team Hirn (Sergio Busquets), Muskeln (Franck Kessié) und Esprit (Ousmane Dembélé). Dafür wurden der ablösefreie Ilkay Gündogan sowie die Leihspieler João Cancelo und João Félix verpflichtet. Grosse Namen, doch sosehr der daueroptimistische Laporta auch von einer Verbesserung des Kaders sprach: In Wahrheit konnte sich der klamme Klub einfach keine hochkarätigen Transfers leisten. Xavi trug das loyal mit, fand aber insbesondere für die Nachfolge Busquets’ keine Lösung.
Der letzte Überlebende des grossen Barça sorgte auf seiner Position vor der Abwehr für die Bewahrung jenes Stils, der ohne ihn nicht mehr funktioniert. Das manifestiert sich im Passspiel nach vorn, dem ohne Busquets’ unscheinbare Effizienz die Agilität fehlt. Noch eklatanter aber zeigt es sich in der Defensive, in der Busquets durch Antizipation gegnerische Konter unterband und die Zwischenräume zu den Aussenverteidigern beschützte. 34 Gegentore hat Barça nach 25 Ligaspielen bereits erhalten. In der vergangenen Meistersaison waren es zum gleichen Zeitpunkt nur acht.
Durch einen Kreuzbandriss des dynamischen Youngsters Gavi verlor Xavi im November den einzigen Mittelfeldspieler, der das Team kompakt zusammenhielt. Gündogan und Frenkie de Jong fehlen dafür taktische Disziplin und Selbstaufopferung. In der Abwehr wiederum leidet das Team unter der unvermuteten Fehleranfälligkeit des französischen Nationalspielers Jules Koundé, im Angriff wirkte Lewandowski bis zu einem jüngsten Formanstieg nur noch wie eine Fälschung der einstigen Tormaschine. Als Lichtblick bleibt da mal wieder nur ein Ausnahmetalent aus der eigenen Jugend – der erst 16-jährige Flügelstürmer Lamine Yamal war jüngst Barças stärkster Akteur.
Will Deco eine neue Spielweise etablieren?
So chaotisch, wie es auf dem Platz zugeht, klingt es aber auch aus der Führungsetage. Dort sorgte die Verpflichtung des früheren Barça-Spielers Deco als Sportdirektor und starker Mann im Sommer für den Abgang der Xavi-Vertrauten Mateu Alemany und Jordi Cruyff. Zuletzt überraschte Deco mit einem Interview im portugiesischen Magazin «Luz», in dem er erklärte, die «Methode» Barças sei «erschöpft», man müsse «ein für alle Mal mit der Vergangenheit brechen» und «ein neues Paradigma» etablieren.
In einem Verein, der diese Methode seit Johan Cruyffs Zeiten aus einem Guss in allen Nachwuchsteams anwendet, kam das quasi einer Bürgerkriegserklärung gleich. Xavi, Sinnbild des Paradigmas, erfuhr von den Äusserungen während der Pressekonferenz nach dem Granada-Spiel. Als weiter oben die Frühlingsrollen flogen, stand ihm die Verblüffung mal wieder ins Gesicht geschrieben: «Zu mir sagt Deco so etwas nicht.» Später nahm der Interviewer mit einem Mea culpa den Äusserungen die Schärfe: «Deco hat nicht die Absicht, Methode oder Paradigma zu ändern.» Dabei erfuhr der Sportdirektor durchaus auch Zustimmung. «Ohne die 40 Saisontore von Messi steht die DNA in Unterwäsche da», schrieb ein Kolumnist der «Mundo Deportivo».
Wenn bei Barça grundsätzliche Stildebatten geführt werden, dann steht der Klub am Scheideweg. Als umso richtungsweisender gilt die Frage des Xavi-Nachfolgers. Der Traumkandidat Jürgen Klopp ist nach seinem angekündigten Sabbatical wohl nicht verfügbar, doch Laporta gilt generell als Fan der deutschen Trainerschule und lässt genau beobachten, ob aus dem Bayern-DFB-Trainerkarussell nun Hansi Flick, Thomas Tuchel oder Julian Nagelsmann abfällt.
Favorit ist derzeit aber wohl der Italiener Roberto de Zerbi von Brighton, den die gewichtige Stimme von Pep Guardiola mehrfach zum grössten Trainertalent der Premier League adelte. Sollte eine Entlassung von Xavi noch während der Saison erfolgen, stünde der gegenwärtige Trainer von Barças zweiter Mannschaft, der ehemalige Abwehrchef Rafael Márquez, bereit.
Wer auch immer sein Nachfolger wird – Xavi hat ihm schon prophezeit, dass er sich auf Schmerz und Frust gefasst machen muss: «Dem Nächsten wird es wie mir ergehen.»