Mittwoch, Januar 22

Eine Lageanalyse entlang der ukrainischen Operationslinien.

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Der Golf von Amerika, Panama und der Mars schon, aber die Ukraine ist kein Thema in Donald Trumps Inaugurationsrede. Er wolle ein Friedenspräsident sein, hat er ausgerufen, aber dann doch nicht gesagt, was er unter Frieden verstehe. Frieden durch Stärke? Die Formel ist bei Ronald Reagan entlehnt, bei Trump klingt sie eher nach einem Recht des Stärkeren. Statt eine Richtung vorzugeben, spricht Trump auch an seiner Inaugurationsrede vor allem in geopolitischen Rätseln.

Den westlichen Partnern bleibt die Kunst der Orakel-Deutung, auch dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, der die Rede Trumps aus Kiew anhören musste. Eine Einladung nach Washington erhielt er nicht. Am Dienstag wird Selenski dafür in Davos am WEF erwartet. Über die sozialen Netzwerke versuchte er optimistisch zu bleiben. Die Ukrainer seien bereit, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, um einen Frieden zu erreichen – «einen gerechten Frieden», fügte er an.

Der russische Präsident Wladimir Putin sandte am Tag der Inauguration die Botschaft nach Washington, er sei zu direkten Gesprächen bereit. Doch der Nachsatz aus Moskau gibt gleich auch den Tarif bekannt: Das Wichtigste von Gesprächen sei, die Ursachen des Konflikts zu beseitigen – gemeint sind wohl die Westorientierung und die Souveränität der Ukraine. Putin scheint auch weiterhin auf den ursprünglichen Kriegszielen zu beharren.

Ein Abnützungskrieg auf mehreren Operationslinien

Nikolai Patruschew, der ehemalige Chef des Inlandgeheimdienstes FSB und ein enger Vertrauter Putins, wiederholte schon vor gut einer Woche in einem Interview mit der Zeitung «Komsomolskaja Prawda» die Propaganda-Schlagworte einer «Entnazifizierung» und «Demilitarisierung» des Nachbarlandes. Zudem dachte er laut darüber nach, dass die Ukraine und auch die Republik Moldau in diesem Jahr als selbständige Staaten aufhören könnten zu existieren.

Hat Patruschew vielleicht doch einen Hinweis auf mögliche Verhandlungen gegeben und gleich die Maximalforderung platziert? Oder hat er den Diplomaten die Türe vor der Nase zugeknallt? Eindeutige Antworten gibt es in diesen Tagen der Ungewissheit kaum, auch auf dem Gefechtsfeld nicht. Der russische Vormarsch ist langsam und kostet pro Tag 1000 tote Soldaten. Ein militärischer Exploit in der Übergangsphase seit der Wahl Trumps gelang dem Kreml ebenfalls nicht.

Auch dazu gibt es eine ganze Reihe von möglichen Erklärungen: Entweder fehlt der russischen Armee die Kraft für einen militärischen Coup – oder Moskau sieht keinen Grund für eine Planänderung. Der Abnützungskrieg scheint zu funktionieren: am Boden in der Ukraine, aber auch bei den westeuropäischen Wählerinnen und Wählern, denen die russische Propaganda die Vorteile eines faulen Friedens einhämmert.

Um aus den verworrenen Informationen ein etwas schärferes Lagebild zu erhalten, lohnt sich der Blick auf den operativen Bauplan der Kriegsführung: die Ebene zwischen den strategischen Entscheiden der Politik und den konkreten, taktischen Bewegungen auf dem Gefechtsfeld. Denn die Ukraine führt den Abwehrkampf gegen die russische Invasion nicht nur am Boden, sondern auch auf dem Meer, in der Luft, tief hinter den Linien oder mit Informationen als Waffe.

Das Ziel Kiews bleibt, die Souveränität wiederherzustellen und die russischen Besatzer zu vertreiben. Der Weg dazu führt – militärisch ausgedrückt – über folgende Operationslinien:

Am erfolgreichsten kämpfte die Ukraine bisher im Schwarzen Meer, auf der maritimen Operationslinie: Der erste, überraschende Schlag gelang der Ukraine nicht einmal zwei Monate nach der Invasion am 13. April 2022 auf dem Schwarzen Meer: Die Armee versenkte das russische Flaggschiff «Moskwa», nach ukrainischen Angaben mit einem koordinierten Angriff aus der Luft. Zuerst soll die Besatzung mit Bayraktar-Drohnen abgelenkt worden sein, dann wurden zwei Neptun-Marschflugkörper abgefeuert, die das Schiff so stark beschädigten, dass es sank.

Die Ukraine vermochte damals ein deutliches Zeichen dafür auszusenden, dass sie trotz kritischer Lage immer noch handlungsfähig war. Unterdessen ist die russische Schwarzmeer-Flotte weitgehend vernichtet. Die Ukraine kann relativ frei Getreide exportieren, die Häfen werden aber weiterhin ständig aus der Luft angegriffen. Russland hat aber die Kontrolle über die ukrainische Küste inklusive der Krim verloren, was einen strategischen Rückschlag bedeutet.

Eine Schlüsselrolle spielt die Türkei: Der Bosporus ist für russische Kriegsschiffe weiterhin gesperrt. Das Schwarze Meer ist deshalb militärisch isoliert. Umso wichtiger wären die russischen Basen an der syrischen Küste. Doch seit dem Machtwechsel in Damaskus vor Weihnachten hat die Türkei ihren Einfluss in Syrien verstärkt: Ankara hat deshalb auch mitzureden dabei, ob die russische Flotte weiterhin in Tartus präsent ist oder eben nicht.

Keine aktive Verteidigung mehr seit der Kursk-Offensive

Diese Entwicklung ist ganz im Sinn Kiews, weil die imperialen Ansprüche des Kremls zurechtgestutzt werden. Russland wirkt nicht als globale Grossmacht, sondern höchstens als Regionalmacht. Eine ähnliche Absicht verfolgt Kiew bei seinen Angriffen in die Tiefe des russischen Staatsgebiets: Mit jedem Treffer im Inneren Russlands wird der Widerspruch zwischen der russischen Propaganda und der Wirklichkeit verstärkt. Die russische Armee ist nicht in der Lage, die eigene Bevölkerung und die kritischen Infrastrukturen gegen die angeblich unterlegene Ukraine zu schützen.

Vor zehn Tagen attackierte ein Schwarm von 200 ukrainischen Langstreckendrohnen russische Industrieanlagen, darunter eine Erdölraffinerie in der Stadt Saratow, rund 700 Kilometer vom unbesetzten Teil der Ukraine entfernt. Erstmals wurden Flugkörper des Typs Peklo («Hölle») eingesetzt, welche die Ukraine selbst entwickelt hat. Gleichzeitig feuerte die ukrainische Armee Atacms-Lenkwaffen und Storm-Shadow-Flugkörper auf Ziele in Russland ab. Insgesamt gelangen Treffer in mindestens sieben russischen Provinzen.

Die harte Währung in möglichen Verhandlungen bleiben aber die Geländegewinne am Boden. Seit der Überraschung von Kursk im vergangenen Sommer ist die ukrainische Armee in der Defensive und kaum mehr in der Lage, sich aktiv zu verteidigen, also auch Gegenoffensiven zu unternehmen.

Der Vorstoss auf russisches Gebiet hatte zunächst einen ähnlichen Effekt wie die Luftangriffe auf Ziele im Innern Russlands.

Weil aber die Reserve an Bodentruppen erschöpft ist, vermochte der Generalstab den Schwung nicht für eine Folgeaktion an einem anderen Frontabschnitt zu nutzen. So bleibt Kursk ein Pfand, das Kiew als allfällige Verhandlungsmasse einsetzen kann, inklusive der Messstation, bevor die Bratstwo-Gaspipeline die ukrainische Landesgrenze überquert.

Gegenwärtig konzentrieren sich die Kämpfe auf die Region Donezk. Russland begann die Offensive in Richtung Pokrowsk bereits im vergangenen Juli, also exakt vor einem halben Jahr. Unterdessen ist ein Zangenangriff auf den Eisenbahnknotenpunkt erkennbar, dazu weiter südwestlich ein Kessel bei Kurachowe:

Aus den neusten Daten, die in offenen Quellen zur Verfügung stehen, lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten:

  • Raum: Am 13. Januar sollen die russischen Truppen südwestlich von Pokrowsk die Eisenbahnlinien beim Dorf Kotline erreicht haben. Die ukrainischen Truppen haben aber weiterhin zwei Strecken zur Verfügung, um Nachschub herbeizuführen. Die Kohlenmine weiter nördlich hat offenbar kürzlich den Betrieb eingestellt. Den Kessel westlich von Kurachowe dagegen vermögen die ukrainischen Truppen zu halten, weil die Gewässer und das überbaute Gebiet den Gegner bis jetzt aufgehalten haben. Die russischen Sturmangriffe scheinen weiterhin an den kleinsten Hindernissen zu scheitern.
  • Kraft: Die russische Armee hat ihre Truppen wieder klassisch in Divisionen (12 000 Soldaten) eingeteilt, denen Brigaden (5000 Soldaten) und Regimenter (3000 Soldaten) unterstellt sind. Damit können die Angriffe über die Breite der Front besser koordiniert werden, es fehlt aber die Flexibilität. Die ukrainische Armee ist dagegen mit ihren Brigaden und unterstellten Bataillonen (500 bis 800 Soldaten) agiler bei Gegenangriffen, hat aber in der Verteidigung den Nachteil einer kleinteiligeren Organisation. Das erschwert die Führung und die Logistik. Das Kräfteverhältnis dagegen ist – mindestens auf dem Papier – bemerkenswert ausgeglichen: Die Angreifer haben zwar mehr Verbände im Einsatz als die Verteidiger, aber nicht drei- oder viermal mehr, wie eigentlich bei einer Offensive nötig. Es fehlt den russischen Truppen die Überlegenheit, um effektiv durchzubrechen.
  • Zeit: Innerhalb eines halben Jahres konnten die russischen Besatzer rund zehn Kilometer vorstossen. Das entspricht 55 Metern pro Tag. Geht die Offensive in dieser Geschwindigkeit weiter, braucht die russische Armee noch 12 bis 15 Wochen, bis sie Pokrowsk eingenommen oder mindestens umfasst hat. Es ist allerdings möglich, dass der ukrainische Coup bei Kursk die russische Offensive verlangsamt hat. Die russische Armee musste auch Truppen aus dem Donbass verlegen, um die Ukrainer aufzuhalten.

Die Analyse der Lagekarte zeigt am Boden ein weniger dramatisches Bild, als politisch kolportiert wird. Die ukrainische Armee scheint sich allerdings gegenwärtig in einer Phase einer inneren Unruhe zu befinden. Aus der neu aufgestellten 155. Mechanisierten Brigade sind noch während der Ausbildung in Frankreich 1700 Soldaten desertiert. Der Verband ist mit westlichem Material ausgerüstet und müsste eigentlich als Gesamtsystem eingesetzt werden: die Aufklärer ganz vorne, im Zentrum die Kampfverbände und etwas weiter hinten die Artillerie mit dem schweren Feuer.

Trotzdem wurden mehrere Tausend frisch rekrutierte Soldaten nach einer Kurzausbildung und in ad hoc-Formationen einfach an die Front geschickt. Statt den taktischen Vorteil zu nutzen, riskierte die Armeeführung den sinnlosen Tod junger Ukrainer. Nach einem ähnlichen Muster wurden unter anderem Flugzeugmechaniker zur Verstärkung der Bodentruppen in einen Kampfeinsatz abkommandiert. Präsident Selenski hat reagiert und solche Umteilungen verboten.

Deshalb sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Kriegsführung, zumal auch die persönliche Resilienz auf die Probe gestellt wird. Die Ukrainerinnen und Ukrainer erleben den dritten Kriegswinter in Folge. Russland hat den Beschuss kritischer Infrastrukturen derart intensiviert, dass die Luftverteidigung überlastet ist. Ein Grossteil der Stromproduktion fällt immer wieder aus, ebenso die Mehrheit der Wärmekraftwerke. Es ist bemerkenswert, dass es dem ukrainischen Netzbetreiber dennoch gelingt, eine minimale Stromversorgung neu herzustellen.

Achillesferse Luftverteidigung

Auch weiterhin hat es der Kreml auf die Moral und den Wehrwillen der ukrainischen Bevölkerung abgesehen – die Russen haben unterdessen die Lücken in den modernen, westlichen Systemen erkannt, welche die Ukraine zur Luftverteidigung einsetzten. Mit Shaed-136-Kamikazedrohnen werden die Sensoren verwirrt und der Luftraum mit möglichen Zielen gesättigt. Erst dann kommen die grösseren Systeme zum Einsatz. In Frontnähe setzen die Russen Gleitbomben ein, im Rest des Landes Hyperschallraketen, Marschflugkörper und Drohnen.

Zudem stellen sich auch Fragen zum Nachschub. Im letzten Jahr entschied das amerikanische Verteidigungsministerium, die PAC-3-Lenkwaffen für das Patriotsystem nur noch an die Ukraine zu liefern, um den eigenen Minimalbestand nicht zu gefährden. Die Schweiz und andere Länder müssen auf die bestellten Lenkwaffen zur Abwehr von Marschflugkörpern warten. Die Luftverteidigung ist nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa zu einer Achillesferse geworden.

Doch die Europäer verdrängen sowohl ihre eigene Wehrlosigkeit in der neuen Weltunordnung als auch die Risiken, falls die Ukraine den Krieg verliert. Zu Beginn des Zeitalters Trump II vermag Kiew der russischen Aggression noch standzuhalten und versucht, den Gegner vor allem hinter den Linien zu treffen und zu schwächen.

Doch eine zentrale Herausforderung bleibt der Informationskrieg. Selenski muss es gelingen, mindestens die demokratischen Länder auf der Seite der Ukraine zu behalten, um doch noch einen gerechten Frieden zu erreichen. Die ukrainische Bevölkerung und auch die Armee sind auf die europäische Solidarität angewiesen, unabhängig davon, ob die USA als Partner ausfallen werden oder nicht.

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