Samstag, Oktober 5

Die Ukraine erhält einen neuen Aussenminister und viele weitere Führungsleute. Das wirft die Frage auf, ob das Land an einem politischen Wendepunkt angelangt ist. Doch dem ukrainischen Präsidenten geht es um etwas anderes.

Auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz häufen sich die niederschmetternden Nachrichten. Im Donbass rücken die Russen vor, und auf den verheerenden Raketenangriff in Poltawa mit mehr als fünfzig Todesopfern folgte am Mittwoch eine geradezu terroristisch anmutende russische Attacke auf ein Wohnviertel in der bisher weitgehend verschonten Stadt Lwiw. Die Bilder einer Familie, von der nur der Vater überlebte, während die Mutter und die drei Töchter unter den Trümmern ihres Hauses umkamen, sorgen für Entsetzen. Die Durchhaltekraft des ukrainischen Volkes wird mehr denn je auf die Probe gestellt.

In dieser Situation sorgt die Regierungsumbildung in Kiew für Aufsehen. Es ist die mit Abstand grösste Rochade seit der russischen Invasion vor zweieinhalb Jahren; auf mehr als einem Dutzend Spitzenposten gibt es Umbesetzungen. Im Ausland bekannte Persönlichkeiten wie Aussenminister Dmitro Kuleba nehmen den Hut, im Fall Kuleba kaum freiwillig. Wegbefördert wird auch der für die Rüstungsindustrie zuständige Minister, aus dessen Bereich noch vor kurzem Erfolgsmeldungen über neu entwickelte Langstreckenwaffen kamen.

Was also ist der Grund dafür, dass Selenski das Personalkarussell zum Drehen bringt? Ist es eine Panikreaktion, um von militärischen Misserfolgen abzulenken, steckt ein Machtkampf dahinter, oder handelt es sich um eine völlig normale Blutauffrischung in der Regierung? Noch lassen sich die Hintergründe nicht genau abschätzen. Aber manches ist doch erkennbar: Überstürzt hat Selenski nicht gehandelt, denn über eine Regierungsumbildung wurde seit Februar gemunkelt. Auch der Präsident selber gab entsprechende Signale. Es wäre deshalb falsch, von einer Regierungskrise zu sprechen und nicht überbrückbare Meinungsverschiedenheiten oder gar Zerfallserscheinungen im Kabinett zu vermuten.

Kein radikaler Umbau

Die These, dass es sich um einen in Demokratien normalen Vorgang handelt, hat einiges für sich. Einige der nun ersetzten Minister sassen schon lange auf ihren Posten, der Justizminister beispielsweise fünf Jahre, Kuleba trotz seinem jungen Alter von 43 Jahren fast ebenso lange. Präsident Selenski schob nach dem russischen Überfall personelle Veränderungen hinaus, um Stabilität zu signalisieren. Aber in jeder Regierung kommt es zu Verschleisserscheinungen, unter dem Druck eines Krieges erst recht. Selenski pflegt einen ganz anderen Führungsstil als sein Gegenspieler Putin im Kreml, der aus Furcht vor Veränderungen viele seiner Getreuen bis ins hohe Alter und oft mehr als ein Jahrzehnt lang auf demselben Posten belässt.

Hinzu kommt, dass Selenski mit seinen Personalentscheiden keine Tabula rasa macht. Mehrere der zurückgetretenen Führungsleute werden nicht in die Wüste gejagt, sondern erhalten andere oder erweiterte Aufgaben. Kuleba beispielsweise soll sich angeblich auf die Nato-Integration konzentrieren, während die für die EU-Beitrittsverhandlungen zuständige Vizeministerpräsidentin Olha Stefanischina zusätzlich das Justiz-Dossier erhält. Das ergibt Sinn, weil Rechtsstaatsreformen eine zentrale Herausforderung auf dem Weg in die EU darstellen. Bei drei weiteren Wechseln handelt es sich um Rochaden zwischen der Regierung und der mächtigen Präsidialverwaltung, was ein in Präsidialrepubliken typischer Karriereweg ist. Die grosse Umbildung hat deshalb bei genauerem Hinsehen keinen radikalen Charakter.

Sündenböcke als bequemer Ausweg

Trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack. Der Präsident hat es bis jetzt versäumt, seine Beweggründe klar zu formulieren und der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Welche Fehler sind geschehen, die personelle Konsequenzen erfordern? Selenski hat ein gutes Gespür für Unmut im Land, aber reagiert manchmal, indem er einfach Sündenböcke präsentiert. Die Absetzung des Chefs des staatlichen Stromkonzerns, der schwerlich für den mangelhaften Schutz vor russischen Luftangriffen auf die Energieversorgung verantwortlich gemacht werden kann, ist nur das neuste Beispiel. Irritierend war auch, dass Selenski kürzlich nach dem Absturz eines F-16 sogleich den Kommandanten der Luftwaffe entliess, obwohl die Ursache des Absturzes offiziell noch gar nicht ermittelt ist.

Aus einer innen- und machtpolitischen Logik ist dieses Vorgehen jedoch gut verständlich. Der ukrainische Präsident steht unter enormem Druck. Die Anspannung ist ihm anzusehen, die Frustration über Rückschläge im Kampf gegen die russischen Aggressoren ebenfalls. In dieser Situation will er seine Regierungsmannschaft zu äusserstem Einsatz antreiben. Niemand soll es sich auf einem Posten gemütlich machen, allen soll die Furcht vor einer Absetzung bei mangelnden Resultaten im Nacken sitzen. Auf diese Weise stärkt Selenski auch seine persönliche Macht; das ist klar. Aber er signalisiert zugleich, dass er seinem prowestlichen Kurs treu bleibt und dabei neue Kräfte aus der Reserve holt.

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