Nach der Verschiebung des Ramstein-Gipfels tourt der ukrainische Präsident durch Europa, in der Hoffnung, dass ihn seine Verbündeten nicht im Stich lassen. Das wird kein einfaches Unterfangen.
Es ist ein ungleicher Kampf, den der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski gerade führen muss. Der eine Gegner heisst Russland und versucht mit ungeheurem militärischem Aufwand, sein Land zu zerstören. Der andere nennt sich «Milton», hat Florida schwer verwüstet und dafür gesorgt, dass US-Präsident Joe Biden seine Deutschlandreise und den Ramstein-Gipfel am Samstag absagen musste.
In den zurückliegenden zwei Tagen hat Selenski versucht, die Folgen dieser möglicherweise verheerenden Entwicklungen für sein Land abzuschwächen. Auf einer eilig anberaumten Tour nach London, Paris, Rom und Berlin warb er für mehr militärische Unterstützung durch die Europäer. Sie könnte dringend nötig sein, da sich dreieinhalb Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA das Zeitfenster für weitere Waffenhilfen durch die Regierung in Washington allmählich schliesst.
Es ist unklar, was Joe Biden dem ukrainischen Präsidenten am Samstag in Ramstein angeboten hätte. Selenski selbst wollte dort den Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Unterstützerstaaten seinen «Siegesplan» darlegen. Mehrfach hatte er erklärt, dass es darum gehe, Russland nach Möglichkeit zu zwingen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden. Dies aber setze weitere militärische Stärke und die Hilfe der westlichen Partner voraus. Dazu gehört für Selenski die Freigabe weitreichender Präzisionswaffen, um damit Ziele im russischen Hinterland angreifen zu können.
Wenn es schlecht läuft, bekommt Selenski aus Washington die Waffen und die Einsatzerlaubnis erst, wenn die neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat. Das kann bis zum Frühjahr dauern und hängt nicht zuletzt vom Wahlausgang ab. Donald Trump hat bereits damit gedroht, die Ukraine-Hilfe zu stoppen. Umso mehr könnte Selenski jetzt auf seine europäischen Partner angewiesen sein.
EU bringt 35-Milliarden-Kredit auf den Weg
In Berlin traf er am Freitag allerdings auf einen Gastgeber, der seine direkte Ukraine-Hilfe nicht ausbauen, sondern reduzieren will. Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 4 Milliarden Euro eingestellt, um die Ukrainer in ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen. Das ist nur grob die Hälfte des diesjährigen Budgets (7,5 Milliarden Euro). Kritik an der Kürzung wies Scholz mit dem Verweis auf einen geplanten 50-Milliarden-Dollar-Kredit der G-7 für die Ukraine zurück.
Dieses Vorhaben hat in dieser Woche eine wesentliche Hürde genommen. Der Rat der Europäischen Union beschloss ein 35-Milliarden-Euro-Darlehen für die Ukraine. So berichteten es mehrere Medien. Das Geld ist Teil des G-7-Kredits. Weitere Beträge sollen aus den USA, Japan und Kanada kommen. Zins und Tilgung werden den Plänen gemäss aus den «windfall profits» stammen, also den Zinseinnahmen aus russischem Staatsvermögen, das die EU eingefroren hat.
Die G-7-Staaten hatten den 50-Milliarden-Dollar-Kredit im Juni auf ihrem Gipfel in Italien beschlossen. Zu dieser Staatengruppe gehört neben Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Japan, Kanada und den USA auch die Europäische Union als Ganzes. Der deutsche Finanzminister Christian Lindner von den Liberalen hatte im Sommer die Erwartung geäussert, dass die Ukraine mit diesem Geld künftig einen wesentlichen Teil ihres militärischen Bedarfs decken werde.
Die Ukraine braucht dringend Luftverteidigungssysteme
Ob das wirklich so sein wird, dürfte nicht zuletzt von den militärischen Entwicklungen in den kommenden Monaten abhängen. Mit dem Winter könnten zwar die Kämpfe an der Front im Donbass abflauen. Doch die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass die russischen Luftangriffe auf die Energie-, die Wärme- und die Wasserversorgung sowie kriegswichtige Industrie umso härter weitergehen.
Was die Ukrainer daher in erster Linie brauchen, sind moderne Luftverteidigungssysteme einschliesslich Abwehrraketen. Vor allem die USA und Deutschland haben davon bereits einige geliefert. Inzwischen sind es drei Patriot- und fünf Iris-T-Systeme allein aus der Bundesrepublik, die zum Schutz von Kiew und anderen ukrainischen Städten gegen Raketen, Drohnen und Marschflugkörper eingesetzt werden. Ein weiteres Iris-T-System soll noch in diesem Jahr vom Hersteller Diehl an die Ukraine gehen.
So hat es der deutsche Kanzler Olaf Scholz am Freitag auch beim Treffen mit Selenski gesagt, verpackt in zwei «militärische Unterstützungspakete». Das eine im Umfang von 600 Millionen Euro sei bereits an die Ukraine ausgeliefert worden und habe neben dem fünften Iris-T-System auch Kampf- und Schützenpanzer, Panzerhaubitzen, Artilleriemunition und Drohnen enthalten. Wohlgemerkt: Diese Waffen sind bereits überwiegend in der Ukraine vor Ort. Die Absicht, sie zu liefern, war lange bekannt. Und die von Selenski so dringend geforderten weitreichenden Präzisionswaffen, etwa Taurus, sind nicht dabei.
Scholz kündigte in Berlin zudem ein weiteres Unterstützungspaket im Umfang von 1,4 Milliarden Euro an – gemeinsam mit Belgien, Dänemark und Norwegen. Es enthält unter anderem das sechste Iris-T-System sowie weitere Panzer, Fahrzeuge und Geschütze. Scholz forderte das Europäische Parlament auf, nach der mutmasslichen Entscheidung des Europäischen Rats nun den Weg für den europäischen Anteil an dem 50-Milliarden-Dollar-Kredit der G-7-Staaten schnell freizumachen. Dem Vernehmen nach sollen die ersten Teile des Kredits bereits Anfang des kommenden Jahres ausgezahlt werden.
Es mangelt nicht nur an Geld
Doch Geld allein hilft der Ukraine nicht. Selbst wenn sie genügend hätte, müssten die benötigten Waffen und die Munition erst produziert werden. Das braucht Zeit, zumal die europäische Rüstungsindustrie nicht – wie die russische – auf Kriegswirtschaft läuft. Bei Artilleriegranaten hatte sich das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland jüngst zwar auf 1:3 verbessert. Noch im Frühjahr war es deutlich nachteiliger für die Verteidiger. Doch die gegenwärtige Produktion etwa von Flugkörpern für Iris-T und Patriot kann weder den enormen Bedarf der Ukraine noch den anderer Staaten decken.
Daher ist Selenski davon abhängig, dass ihm die europäischen Partner nach wie vor auch Waffen und Munition aus den Beständen der eigenen Streitkräfte zur Verfügung stellen. Die Bereitschaft dazu sinkt allerdings mit jedem weiteren Kriegsmonat. Schon heute tut sich Deutschland schwer, die Ausrüstung wiederzubeschaffen, die von der Bundeswehr an die Ukraine gegangen ist.
Die Bundesregierung verweigert das dafür benötigte Geld. Zugleich sichert sie der Nato zusätzliche Truppen einschliesslich der erforderlichen Ausrüstung zu. Das lässt den Schluss zu, dass Selenski im kommenden Jahr kaum mit grösseren Waffenlieferungen aus Beständen der deutschen Streitkräfte rechnen kann, selbst wenn die USA erst einmal ausfallen sollten.
Deutschland ist dabei kein Einzelfall. In Frankreich, Grossbritannien und Italien sieht es nicht besser aus. Auch diese Länder halten nach Jahrzehnten des Truppenabbaus ihre Ausrüstung und die Munitionsbestände zusammen. Selenski muss darauf hoffen, dass die europäische Rüstungsproduktion schneller anläuft. Die Unternehmen klagen allerdings über einen Mangel an verlässlichen und langfristigen Aufträgen.
Russen wollen Kapitulation der Ukraine
Derweil scheint Russland keine Abstriche bei seinen Kriegszielen zu machen. Während Selenski Verhandlungsbereitschaft signalisiert, will sich Putin nicht auf Gespräche mit der ukrainischen Seite einlassen. Dabei hat er die russische Bevölkerung an seiner Seite.
Mehr als die Hälfte der Russen wollten zwar, dass der Krieg ende und Verhandlungen begönnen, sagte der Meinungsforscher Lew Gudkow vom Moskauer Lewada-Zentrum am Freitag im Deutschlandfunk. Wenn seine Mitarbeiter die Bürger allerdings fragten, worum es bei den Verhandlungen gehen sollte, antworte die grosse Mehrheit, die Ukraine müsse kapitulieren.
In der russischen Gesellschaft, so Gudkow, bestehe der «Wunsch nach der totalen Niederlage der Ukraine». Es gebe dort keinerlei Mitleid mit den Ukrainern und auch kein Schuldbewusstsein. Der Krieg werde so lange dauern, bis Putin die Ressourcen ausgingen.