Ng Han Guan / AP
Nach sechs Stunden Ausnahmezustand ist der Spuk in Seoul vorbei. Doch die Bevölkerung will wissen, wie es zu diesem Angriff auf die Demokratie kommen konnte.
Die Sonne strahlt am Mittwochmorgen über Südkoreas Hauptstadt Seoul. Die Temperaturen sind mit 5 Grad Celsius angenehm. Auf den Strassen schlängeln sich die Autos, Menschen gehen zur Arbeit. Alles geht seinen gewohnten Gang. Nur im öffentlichen Nahverkehr erregt eine ältere Frau Aufsehen, als sie ein Schild in die Höhe streckt und den sofortigen Rücktritt von Präsident Yoon Suk Yeol fordert. Die Passagiere blicken kurz auf und ignorieren sie gleich wieder.
Ein derangierter Präsident sitzt am Boden und rätselt
Kaum noch etwas erinnert an die vergangene Nacht, als sich in Südkoreas Politik die Ereignisse überschlugen: Yoon rief um 22 Uhr 23 das Kriegsrecht aus, Soldaten drangen in das Parlament ein, kurz danach zogen sie wieder ab. Der Präsident beugte sich schliesslich um 4 Uhr 26 morgens dem Willen der Nationalversammlung und setzte das Kriegsrecht wieder aus. Alles erscheint an diesem Mittwochmorgen wie schemenhafte Erinnerungen an einen schlechten Traum.
Die linksliberale Zeitung «Hankyoreh» fasst die Ereignisse in einer Karikatur zusammen: Yoon sitzt ohne Schuhe unter einem Baum auf dem Boden. Vor ihm liegen leere Soju-Flaschen und -Büchsen. Er schüttelt sich, ist derangiert, vor ihm liegt ein Papier, auf dem «Bekanntmachung des Kriegsrechts» steht, und der Präsident fragt sich: «Was ist vergangene Nacht geschehen?»
Im Herzen Seouls, auf dem Gwanghwamun-Platz, wo die grossen Demonstrationen stattfinden, hat sich am Mittwochvormittag eine kleine Menschenmenge versammelt. Rund 150 Menschen von jung bis alt halten Fahnen und Plakate in die Höhe, auf denen sie den Rücktritt Yoons fordern. Es werden kurze Reden gehalten, in denen die Demokratie beschwört und das Ende der Präsidentschaft Yoons gefordert wird. Einer von ihnen ist der 18-jährige Park Kyeom Do, der eigens aus der Provinz Gyeonggi, die Seoul umgibt, angereist ist.
Der junge Mann, der nach der Schule Geschichte studieren will, steht der Regierung von Yoon wie das Gros seiner Landsleute kritisch gegenüber. Vor dem missglückten Staatsstreich stellten dem Präsidenten gerade noch etwa 20 Prozent der Befragten ein gutes Zeugnis aus. Nach der vergangenen Nacht dürften seine Popularitätswerte noch weiter in den Keller sausen.
Selbst die konservativen Blätter, die bisher loyal waren, kritisieren ihn scharf. Sie sprechen von einer «nationalen Schande» und «politischer Selbstzerstörung», um dann Yoons Urteilsvermögen und seine Fähigkeiten, als Präsident zu agieren, infrage zu stellen.
Sie sprechen dem jungen Demonstranten Park aus der Seele, auch wenn er sonst mit den Konservativen wenig anfangen kann. Er wirft Yoon und seiner Regierung vor, dass sie mit allem, was sie tun, das Land zurückwerfen. Südkorea solle offen für verschiedene Menschen und ein guter Ort zum Leben sein, sagt Park. Er spielt damit auf den Umstand an, dass sich die koreanische Gesellschaft noch immer damit schwertut, etwa Homosexualität anzuerkennen. Konservative sehen darin eine Krankheit.
Park will in den kommenden Wochen weiterkämpfen, bis Yoon aus dem Amt vertrieben ist: «Er ist ein Krimineller, der grosses Chaos angerichtet hat. Dafür muss er bestraft und ins Gefängnis gesteckt werden.» Darauf setzt auch die Opposition, die am Mittwoch einen Antrag auf Amtsenthebung von Präsident Yoon wegen der Verhängung des Kriegsrechts gestellt hat. Auch der Gewerkschaftsbund will so lange streiken, bis Yoon zurücktritt. Es wird damit gerechnet, dass sich am kommenden Wochenende die Proteste gegen den Präsidenten intensivieren werden, sollte er bis dann nicht abtreten.
Die Regierungspartei entschuldigt sich zutiefst
Der Oberste Gerichtshof erklärte, das Prozedere, das er bei der Ausrufung des Kriegsrechts angewandt hatte, prüfen zu wollen. Auch die konservative Partei Yoons, die People Power Party, setzt sich vom Präsidenten ab. Der Parteichef Han Dong Hoon, mit dem sich Yoon überworfen hat, sagte, die Regierungspartei entschuldige sich zutiefst bei der Öffentlichkeit für diese peinliche Situation. Und hochrangige Mitarbeiter von Yoon wie der Stabschef und sein Sicherheitsberater haben am Mittwoch ihren Rücktritt eingereicht.
Die Rolle des Militärs bleibt im Unklaren. Bei der Erstürmung des Parlaments setzte Yoon zwar Spezialeinheiten ein, um allein durch ihre Präsenz seinen Willen zu demonstrieren, das Kriegsrecht durchzusetzen. Allerdings wirkten die Soldaten überfordert. In die Menge, die sich hinter einer Tür verbarrikadiert hatte, spritzten sie mit Feuerlöschern. Und während ihres Abzugs verbeugten sich einige Soldaten vor den Demonstranten, um sich zu entschuldigen.
Derweil wird allmählich klar, was sich im Vorfeld der vergangenen Nacht im engsten Zirkel von Yoon abgespielt hat. Als treibende Kraft wird der 66-jährige Verteidigungsminister Kim Yong Hyun angesehen. Er soll Yoon zur Ausrufung des Kriegsrechts angestachelt haben. Auch Innenminister Lee Sang Min soll eine Schlüsselrolle in dem Komplott gespielt haben.
Die drei Politiker eint eine gemeinsame Vergangenheit. Sie gingen auf die Chungdam-High-School in Seoul, und die Bande sind seit jenen Jahren intakt geblieben. Welches Eigenleben die «Chungdam-Fraktion» hat, zeigt der Umstand, dass Yoons Kabinett vorab nicht von der Ausrufung des Kriegsrechts informiert worden war. Selbst der Regierungschef Han Duck Soo war in die Planungen nicht eingebunden.
Nichts aus der Vergangenheit gelernt
Die grosse Frage in Südkorea bleibt, was sich Yoon von der Massnahme erhofft hatte. War er wirklich so naiv, dass sich die koreanische Gesellschaft erstmals seit 44 Jahren wieder der Ausrufung des Kriegsrechts widerstandslos beugen würde?
Er hätte es eigentlich besser wissen müssen, wie intakt die südkoreanische Zivilgesellschaft und ihr Wille sind, sich gegen die politische Elite des Landes aufzubäumen. 2016 und 2017 demonstrierte sie so lange friedlich gegen die verhasste Präsidentin Park Geun Hye, bis sie schliesslich durch ein Amtsenthebungsverfahren ihren Posten verlor und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Der leitende Generalstaatsanwalt war der jetzige Präsident Yoon Suk Yeol.