Dienstag, Oktober 8


Serien-Tipp

Der 2019 verstorbene Modeschöpfer und langjährige Chanel-Kreativdirektor Karl Lagerfeld liess ungern hinter seine sorgfältig konstruierte Fassade blicken. Eine neue Serie wagt den Versuch.

Man kann den grossen Karl Lagerfeld auch fünf Jahre nach seinem Tod kaum ignorieren. Letzte Woche wurde in seiner Heimatstadt Hamburg eine Strasse nach dem Modeschöpfer benannt – eine etwas unspektakuläre, aber trotzdem. Und diese Woche ist die Miniserie «Becoming Karl Lagerfeld» auf der Streaming-Plattform Disney+ erschienen. Auf den ersten Blick setzt sie dem Designer ein flüchtigeres Denkmal als das blau-weisse Strassenschild neben der Kleinen Alster. Die Serie handelt mit und von Gefühlen und spielt in einer Sphäre, die es nur für kurze Zeit gab und auch damals nur für eine exklusive Runde: die Pariser Modewelt in den siebziger Jahren.

Eine Arbeiterbiene in roten Stiefeln

Der von Daniel Brühl gespielte Karl Lagerfeld, damals 38 Jahre alt (oder 35 oder 40, die Meinungen der Protagonisten gehen auseinander), regiert zwar etwas abseits von dessen Zentrum. Er verantwortet noch kein Modehaus als alleiniger Kreativdirektor und schwirrt wie eine bärtige Arbeiterbiene mit Skizzen in der Hand und Foulard um den Hals von einem Prêt-à-porter-Atelier zum nächsten. Die prestigeträchtigere Haute Couture ist ihm zu verstaubt. Der Mann, den man heute für den Ur-Snob hält, nennt damals andere Leute Snobs und meint es nicht etwa als Kompliment.

In seinem penibel eingerichteten Daheim geistert derweil seine stets enttäuschte «Mutti» umher. Geld mag Lagerfeld dank seinen vielen Engagements haben, aber Ruhm und Ehre fehlen ihm. Dass sie ihm zustehen, daran scheint er trotz der professionellen Rivalität mit dem psychisch angeschlagenen Modegott Yves Saint Laurent (gespielt von Arnaud Valois) nicht zu zweifeln.

Karl Lagerfelds Ziele sind also klar. Und seine Stiefel, mit denen er den mit bunten Neonlichtern ausgestatteten Nachtklub «Le Sept» eines Abends im Jahr 1972 betritt, sind glänzend, rot und kniehoch. Bei dem Anblick ist der 21-jährige Jacques de Bascher, ein Dandy und angehender Autor mit Ausstrahlung im Überfluss (gespielt von Théodore Pellerin), hin und weg. Erst noch in der Kirche, betet er nun an Lagerfelds Altar. In Lederhosen und mit Augenzwinkern.

Von Manipulation und Rausch

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden ist das pochende Herz der Serie. Sex gibt es keinen, dazu ist Lagerfeld nicht bereit, aber an Verlangen mangelt es nicht. Doch der allmähliche Aufstieg Lagerfelds enthüllt dessen Verlustängste und manipulative Tendenzen. Jacques de Bascher taumelt derweil von einer Party zur nächsten, immer auf der Suche nach dem nächsten Rausch. Er findet ihn, zumindest eine Zeitlang, in einer Affäre mit Yves Saint Laurent.

Spannender als jede Fiktion

Die Affäre ist das beste Beispiel dafür, dass die Realität der Modewelt manchmal spannender ist als jede Fiktion. Kein Wunder, erscheinen Filme und Serien darüber derzeit im Akkord, von «Cristóbal Balenciaga» bis «The New Look», der Serie, die von Christian Dior und Coco Chanel handelt. Wie viele von ihnen setzt auch «Becoming Karl Lagerfeld» auf eine Mischung aus wahren Eckdaten und Anlässen, exakt replizierten Kleidern und frei erfundenen Dialogen und Szenen. Inspiriert wurde die sechsteilige Serie von der Lagerfeld-Biografie «Kaiser Karl» (2019 erschienen) der französischen Journalistin Raphaëlle Bacqué, die als Produzentin mitwirkte. Regie führten Audrey Estrougo und Jérôme Salle.

Das funktioniert nicht immer. Aussergewöhnliche Charaktere wie Andy Warhol, die italienische Autorin Anna Piaggi, der kalte Stratege Pierre Bergé und auch Yves Saint Laurent können in der Serie wie Karikaturen wirken. Mehr als ihre Oberfläche bekommt man selten zu sehen.

Die wahre Liebe Lagerfelds

Aber wie gut Daniel Brühl und Théodore Pellerin ihre Rollen spielen! Ihr Hin und Her ist das, was einen immer wieder in die Handlung hineinzieht. Im Originalton mit Untertiteln bekommt man Brühls Lagerfeldsches Französisch zu hören, seine abgehackte Art, einmal gar ein glorios herausgerutschtes «Scheisse». Was man dem deutschen Schauspieler im Trailer noch nicht ganz abnimmt, wird mit der Zeit schlicht zur Realität.

Pellerin hingegen erfüllt seinen de Bascher mit derart viel Charisma, dass Widerstand zwecklos ist. In späteren Jahren wurde der 1989 an Folgen einer Aids-Erkrankung gestorbene Dandy oft als einzige wahre Liebe Lagerfelds beschrieben. Man versteht sehr gut, warum.

Becoming Karl Lagerfeld | Ab 7. Juni exklusiv streamen | Disney+

Und die Mode? War nicht sie die andere wahre Liebe Karl Lagerfelds? Wäre es so gewesen, man merkt es in «Becoming Karl Lagerfeld» kaum. Vielmehr ist sie ein Instrument, der Schlüssel zum Erfolg. Mode habe nichts mit Frauen zu tun, erklärt Lagerfeld seinem de Bascher an einem Defilee: «Sie ist eine Art, den Zeitgeist zu verkörpern, das wahre Wesen der Gesellschaft widerzuspiegeln.» Eine Aussage, die trotz tadelloser Garderobe der Kostümdesignerin Pascaline Chavanne leider kaum untersucht wird.

Es wäre schön, würde das nachgeholt. Laut einer Interviewaussage hat Daniel Brühl einen Vertrag unterschrieben, der die Tür zu weiteren Staffeln offen lässt.

«Becoming Karl Lagerfeld» ist ab dem 7. Juni 2024 auf Disney+ zu sehen. Originalsprache der Miniserie ist Französisch mit etwas Deutsch, Italienisch und Spanisch.

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