Donnerstag, Oktober 3

Porträt eines Suchenden.

Um 21 Uhr 41 wählt Severin auf seinem Smartphone sein letztes Lied. «Dreamer» heisst es, ein amerikanischer Folksong. Begleitet einzig von einer Akustikgitarre, besingt Drayton Farley mit wehmütiger Stimme das Schicksal eines Menschen, der aus der Spur geraten ist. Der jeden Glauben verloren hat und droht am Leben zu zerbrechen. Und der doch nicht aufgibt, weil er Zuflucht in seinen Träumen findet.

If I can dream forever then I never wanna die
I was born to be a dreamer in this hard-up kind of life
If I can dream forever, go ahead and blind my eyes
’Cause these dreams are all I have and all these dreams I have are mine

Vielleicht wählt Severin das Lied, weil es sein Leben beschreibt. Er hat gerade seinen Job verloren, ihn plagen grosse Sorgen, er ist Vater geworden und weiss trotz aller Freude nicht, ob er diese Verantwortung tragen kann. Der 31-Jährige befindet sich am Ufer des Rheins, des Flusses, der ihn sein ganzes Leben begleitet hat. In einer kleinen Lichtung hat er seine Hängematte zwischen zwei Bäumen aufgespannt.

Den Song wird er nicht mehr zu Ende hören. Ein Mann, dem er in dieser Nacht zum ersten Mal begegnet, prügelt ihn mit einem Holzscheit zu Tode. Severins leblosen Körper lässt er am Rheinufer liegen. Genau ein Jahr ist das nun her.

Severins Tod wird bald zur Schlagzeile. Medien schreiben vom «Wildcamper-Mord», einem «rätselhaften Kriminalfall». Viel wird in den kommenden Monaten über den Fall geschrieben, darüber, was den Täter zu diesem sinnlosen Akt getrieben haben mag. Menschen haben eine Faszination für Täter, vor allem wenn sie ihre Opfer zufällig wählen. Weil das Böse fasziniert, weil Zufallstaten so unbegreiflich sind. Die Opfer gehen dabei häufig vergessen.

In dieser Geschichte geht es deshalb um Severin.

Wer war der junge Mann, dessen Träume am 8. Juni 2023 am Rheinufer endeten? Und was macht das mit einer Familie, wenn ein Sohn, Bruder, Partner, Vater und Freund mit brutaler Gewalt aus ihrer Mitte gerissen wird?

Der Vater und der Bienenstich

Severin wächst in einer unkonventionellen Familie auf. Der Vater Martin und die Mutter Marie-Louise lernen sich 1987 bei der Arbeit kennen. Die beiden sind Sozialpädagogen in einem Behindertenheim. Sie sind noch keine dreissig, als sie Eltern werden. Die Buben Kevin, Demian und Severin kommen im Abstand von eineinhalb Jahren zur Welt. Severin ist der Jüngste.

Noch vor seiner Geburt zieht die Familie aus der Schweiz in eine kleine süddeutsche Gemeinde in der Nähe des Bodensees. Dort haben sie ein 400-jähriges Riegelhaus gefunden, das sie eigenhändig renovieren.

Geld hat die Familie nie viel, aber das steht auch nicht im Vordergrund. Sie sind gemeinsam unterwegs, besuchen Festivals in der Gegend und verbringen viel Zeit in der Natur, am liebsten am Rhein. Und vor allem bereisen sie die Welt. Ihr gelber VW-Bus mit dem roten Feuerwehranhänger geniesst in der Nachbarschaft Kultstatus. Mit dem Gefährt, das einst einem Pöstler gehörte, fahren sie in die Türkei, nach Griechenland, Syrien und Jordanien.

Diese Reisen prägen die Kinder. Severin wird später immer wieder mit Rucksack und Hängematte aufbrechen, um in einem abgelegenen Tobel im Appenzellischen zu übernachten oder dem Rhein entlang nach Basel zu wandern.

Der Rhein hat für die Familie eine geradezu mystische Bedeutung. Der Vater verbringt seine Kindheit am Hochrhein, seine Vorfahren stammen vom Niederrhein an der Grenze zu den Niederlanden. Und auch Severin und seine Brüder verbringen im Sommer fast jede freie Minute am Fluss.

Und am Rhein geschieht es auch, dass Severin zum ersten Mal dem Tod begegnet. Da feiert er gerade seinen 3. Geburtstag. Es ist der 6. Mai 1995. Die Familie will zu ihrem Lieblingsort: der Badewiese in Hemishofen bei Stein am Rhein. Der Fluss fliesst hier türkisfarben an Trauerweiden und Kiesstrand vorbei.

Als Severin über die Wiese rennt, sticht ihn eine Biene. Der Bub erleidet einen allergischen Schock. Er läuft blau an, droht zu ersticken. Der Vater Martin hievt ihn über die Schulter, rennt zum Wagen und rast ins zehn Kilometer entfernte Spital.

Die Ärzte können ihn gerade noch retten.

Doch nach dem allergischen Schock versagen plötzlich auch noch Severins Nieren. Warum, werden die Ärzte nie herausfinden. Für den kleinen Severin beginnt eine lange Leidenszeit.

Nach dem Nierenversagen ist sein Immunsystem lebensgefährlich geschwächt. Die Eltern sind gezwungen, Severin von anderen Kindern zu separieren. Er wird ein Jahr später in den Kindergarten eingeschult, darf nicht mit Freunden spielen, leidet unter der Isolation. In der Uniklinik in Freiburg wird über eine Nierentransplantation diskutiert. Doch es findet sich eine Alternative: ein hochdosiertes Medikament aus den USA, das damals in Europa noch nicht zugelassen ist.

Martin ist überzeugt, dass das Medikament Severin verändert: «Er war vorher schon sehr offen. Aber das Medikament hat seine Hemmschwelle auf null gesetzt. Es war fast penetrant, wie er auf Wildfremde zuging. Er war völlig angstfrei. Es gab Tage, da sagten wir uns, heute gehen wir mit dem Buben nicht unter die Leute.»

Es ist, als wollte Severin die verlorene Zeit aufholen, als wollte er alles in sich aufsaugen. In der Schule schart er die Kinder um sich, in der Freizeit ist er ständig unterwegs. Mit Eltern und Lehrern will er alles ausdiskutieren.

Dieses Charisma und diese Präsenz behält er bis ins Erwachsenenalter. Seinem Vater ist eine Reise in die Türkei in Erinnerung geblieben: «In Kurdistan gingen wir in eine Kneipe, einer spielte da mit einer Gitarre ein paar Lieder, aber sonst war tote Hose. Da ging Severin auf die Strasse und machte Werbung für die Kneipe. Innert zehn Minuten hatte er den Laden voll. Er nahm seine Trommel hervor, die Stimmung war der Wahnsinn. Die Wirtin wollte ihn behalten und adoptieren. Die machte das Geschäft ihres Lebens.»

Der Bruder und das verschwundene Gedicht

Kevin ist der älteste der drei Brüder. Er muss schon früh Verantwortung übernehmen. 2007 trennen sich die Eltern. Als der Vater Martin aus dem Riegelhaus auszieht, ist Severin 15-jährig. Eine Zeitlang bleibt die Mutter Marie-Louise noch mit den Buben unter einem Dach, dann zieht auch sie aus. Mit 17 Jahren lebt Severin allein mit seinen älteren Brüdern. Die Eltern wohnen mit ihren neuen Partnern zusammen.

Abwechslungsweise schauen die Eltern bei den Söhnen nach dem Rechten. Der grosse Bruder Kevin, damals 20, ist der WG-Chef. Sein kleiner Bruder nutzt die gewonnene Freiheit.

«Ich komme müde von der Arbeit nach Hause, will nur ins Bett, und natürlich ist genau dann wieder Halligalli, die Bude voller Leute», erzählt Kevin. «Ich dachte mir oft, sollen sich doch die Eltern darum kümmern. Ich habe mir diese Rolle ja nicht ausgesucht. Aber da war auch ein Verantwortungsgefühl gegenüber den Eltern und dem Haus. Also war ich manchmal der Spielverderber. Das war schon herausfordernd für die Beziehung unter uns Brüdern.»

In der Schule macht Severin nur das Nötigste, verbringt seine Tage lieber am Ufer des Bodensees. Aber irgendwie schafft er die 10. Klasse und schliesst dann ein Berufsorientierungsjahr an.

Für den älteren Bruder ist es nicht immer einfach mit Severin, der stets im Mittelpunkt stehen will und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gleichzeitig kann er aber sehr einfühlsam sein.

Kevin erinnert sich an den Morgen nach seiner Hochzeit: «Wir sassen verkatert im Garten. Plötzlich holt Severin ein Büchlein heraus und sagt: ‹Ich hab noch etwas für euch zwei.› Dann trägt er dieses Gedicht vor. Über unsere Beziehung, unsere Familie. Es war magisch. Keiner hat damit gerechnet. Wir wollten das Gedicht unbedingt haben. Aber er lachte nur und vertröstete uns auf später. Nach seinem Tod haben wir überall gesucht und die Polizei danach gefragt. Aber dieses Büchlein, in das Severin seine Gedanken notierte, ist bis heute nirgends aufgetaucht. Vielleicht liegt es irgendwo auf dem Grund des Rheins.»

Die Mutter und der Grenzgänger

Als Severin volljährig wird, zieht er zu seiner Mutter Marie-Louise nach St. Gallen. In Roggwil bei Arbon beginnt er eine Lehre als Gartenbauer. Doch mit der Hierarchie hat er ein Problem. Und als der Lehrbetrieb ihn für eine Weile ins Berner Seeland schicken will, bricht Severin die Ausbildung nach einem Jahr ab. Um nichts in der Welt will er von seinen Kumpels weg.

Nach dem Zivildienst in sozialen Institutionen nimmt er beruflich einen neuen Anlauf. Er will sich um körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen kümmern. Deshalb beginnt er in Trogen eine Ausbildung zum Fachmann Betreuung. Seine Art nützt ihm dabei. Marie-Louise sagt: «Er fand Zugang zu Menschen, an die andere nicht herankamen. Er hat sich nicht immer ans Handbuch gehalten. Sein Umgang war locker, fast provokativ.»

Bei den Vorgesetzten sorgt seine Art auch für Konflikte. «Er hatte schon als Kind Mühe, sich einzureihen. Seine Brüder waren in Vereinen, er konnte das nie, das war ihm zu eng. Das blieb auch im Berufsleben so. Seine Chefs sagten mir, sie hätten gekämpft mit ihm. Aber er war auch der Lehrling, zu dem sie die engste Beziehung hatten.»

Seine Arbeit liegt Severin, sie frisst ihn aber auch auf. Er leidet darunter, dass so viel Zeit für Administratives im Büro draufgeht statt für die Betreuung. Vor allem aber ist die Arbeit extrem herausfordernd. «Er hatte es mit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zu tun, die teilweise extrem verhaltensauffällig sind. Diese Arbeit bringt dich jeden Tag an die Grenze. Severin hat sich ganz auf diese Menschen eingelassen, aber er lief immer Gefahr auszubrennen.»

Und Severin führt auch einen Kampf mit sich selbst. «Das Thema, ob er überhaupt in der Welt sein will, das war immer da bei ihm», sagt Marie-Louise. «Nicht, dass er an Suizid gedacht hätte, das glaube ich nicht. Aber er war ein Grenzgänger, der das Gefühl hatte, nirgends so richtig dazuzugehören.»

Die beste Freundin und die Dämonen

2015 beginnt Severin die Berufsschule in St. Gallen. Es ist der erste Schultag, Severin kommt ins Klassenzimmer – Zylinder auf dem Kopf, barfuss und mit halb aufgeknöpftem Hemd. Einer Mitschülerin fällt er besonders auf: Emina.

Die beiden werden ein unzertrennliches Duo. Es ist eine Beziehung zwischen zwei ungleichen Menschen, irgendwo zwischen Freundschaft und Liebe.

Sie ist zurückhaltend und schüchtern, er das komplette Gegenteil. Einmal nennt er sie eine Schnecke, die sich nicht aus ihrem Häuschen getraue. Emina ärgert das.

«Wir haben uns ineinander verliebt. Aber ich merkte schnell, dass das für mich nicht geht, weil er zu sehr ein Freigeist ist. Ich wollte niemanden, der nie richtig nach Hause kommt. Einmal fragte er mich, weshalb wir eigentlich nicht zusammen seien. Ich antwortete: ‹Ach Severin, warum fragst du so etwas Dummes?›»

Es bleibt bei besten Freunden. Die zusammen campen – im Wald, am Fluss. Die zusammen in den Ausgang gehen. Severin ist oft Gast bei Emina, um zu kochen. Danach schauen sie Dokumentarfilme, hören Blues. Sie müssen nicht reden, um sich zu verstehen.

Doch vor einigen Jahren ändert sich etwas. Severin kämpft mit seinen inneren Dämonen. Die düsteren Phasen nehmen zu. Oft geht er dann zu Emina – einfach um zu weinen und zu reden. Über seine Probleme, über seine Angst vor dem Vaterwerden. Sie hört ihm zu, schenkt ihm einmal Kleider für sein Kind, worüber er sich sehr freut. Er sagt, sie sei wie eine grosse Schwester für ihn, bei ihr könne er alles loslassen. Einmal umarmt er seine beste Freundin lange und sagt, eigentlich sei nur eine Hülle von ihm da. Sie kriege immer alles auf die Reihe und er nicht. Sie sagt ihm, er müsse halt mal etwas durchziehen.

Severin weiss, dass es so nicht weitergehen kann. Der Alkohol, die Depressionen. 2021 weist er sich selbst in eine Klinik ein.

Der Bruder und die alternative Szene

Demian und Severin – sie sind nicht nur Brüder, sondern auch beste Freunde. Sieben Jahre lang leben die beiden zusammen in verschiedenen St. Galler WG. Sie sind in ihren Zwanzigern, es ist ein wilde Zeit.

«Wir wurden immer wieder rausgeschmissen, weil wir Stress mit den Nachbarn hatten», sagt Demian. «Wir haben viel Party gemacht. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal von der Arbeit nach Hause komme, und da liegen immer noch Leute auf dem Sofa rum, von der Party vom Vorabend.»

Die Brüder verkehren in der alternativen Szene. «Lukas-Bar», «Goliath-Stübli», «Schwarzer Engel» und «Rümpeltum» heissen ihre Lokale.

«Jeder kannte Severin. Er fiel ja nur schon durch seinen Stil auf. Oft trug er einen Zylinder, manchmal eine Melone. Dazu schöne, aber löchrige Vestons aus dem Brockenhaus», sagt Demian. «Irgendwie sah das schon edel aus, selbst wenn er barfuss unterwegs war. Und er hatte diese langen, blonden Haare, die eisblauen Augen. Er war gross und schlank. Die Frauen liebten ihn. Das hat er genossen. Manche Männer waren zwar eifersüchtig, aber er hatte einen riesigen Freundeskreis. Schliesslich konnte man viel Spass mit ihm haben.»

Demian und Severin teilen auch die Liebe fürs Campieren. Rauskommen aus dem Trubel der Stadt. «Bier trinken, Musik hören, Feuer machen, mit der Steinschleuder auf die leeren Dosen schiessen.»

Das haben die beiden auch an jenem Juniwochenende vor einem Jahr geplant. Zuerst wollen sie gemeinsam am Rhein übernachten, um am nächsten Tag an einen Rave in der Gegend zu gehen.

Severin ist schon einen Tag früher aufgebrochen als Demian. «Er hat mich von seinem Plätzchen in Jestetten per Videocall angerufen, um abzumachen, wo wir uns treffen. Er stand bis zur Hüfte im Wasser und war glücklich. Das war unser letztes Gespräch.»

Demian fährt tags darauf nach Rheinau, kauft Bier im Volg und geht zum verabredeten Platz. Doch Severin ist nicht da. Und er ist auch nicht erreichbar. «Ich war sauer, stand da wie der letzte Depp. Ich hatte ja keine Ahnung, was passiert ist.»

Die Partnerin und das Vaterwerden

Als sie ihm vor fünf Jahren zum ersten Mal begegnet, kann sich Liv nicht vorstellen, dass sie einmal mit Severin zusammen sein wird. Sie hält ihn für einen grossspurigen Typen. Einen, der es geniesst, mit Frauen zu flirten, und sie dann links liegenlässt, wenn er das Interesse an ihnen verliert.

Heute hat Liv ein kleines Mädchen, das ohne Vater aufwächst. Im Januar 2023 kommt die gemeinsame Tochter von Liv und Severin zur Welt.

Die turbulente Beziehung der beiden beginnt an einem Abend, an dem die ganze Clique zusammen in St. Gallen im Ausgang ist.

«Auf dem Heimweg, als wir zu zweit waren, hatten wir zum ersten Mal ein echtes Gespräch miteinander. Vielleicht habe ich ihm damals überhaupt erst die Chance gegeben, eine andere Seite von sich zu zeigen. Auf diesem Spaziergang habe ich entdeckt, dass sich hinter seiner schillernden Fassade ein tiefgründiger, sensibler Mann verbirgt.»

Noch in der gleichen Nacht kommt er mit zu Liv aufs WG-Zimmer. In welcher Art von Beziehung sie sind, wissen Liv und Severin lange nicht. Severin braucht viel Raum für sich.

«Wenn es ihm nicht gutging, ist er einfach raus in die Natur», sagt Liv. «Er fand dabei die magischsten Orte und machte Kunstwerke aus Steinen und Schwemmholz. Einmal nahm er einen riesigen Ast mit und stieg damit in den Bus. Alle starrten ihn an, aber das war ihm egal. Das faszinierte mich an ihm: wie er immer wieder die Kraft und den Mut fand weiterzumachen, auch wenn ihn seine Sorgen fast erdrückten.»

Oft weiss auch Liv nicht, mit welchen Ängsten er kämpft. Immer wieder wollen sie sich trennen und finden dann doch wieder zusammen. Eine gemeinsame Wohnung haben sie nie, auch nicht, als sie Eltern werden.

Als ihr Kind zur Welt kommt, sind Liv und Severin euphorisch. Severin sagt, er wolle sie trotz seinen Schulden finanziell unterstützen. Liv sagt, sie kämen schon durch. Er könne auch auf eine andere Art für seine Tochter da sein.

Aber er sei ein liebevoller Vater gewesen, sagt Liv. «Einmal habe ich ihm unsere Tochter für ein paar Stunden gegeben. Er war so stolz, dass er sie alleine durch die Stadt schieben kann. Ich habe immer noch dieses Bild vor mir: er, wie er barfuss daherkommt, den Kinderwagen vor sich. Vielleicht habe ich ihm zu selten die Chance gegeben, das auszuleben. Mein Mutterinstinkt zweifelte irgendwie daran, dass er einen ganzen Tag auf sie aufpassen kann.»

Am Donnerstag, dem 8. Juni 2023, um 21 Uhr 18 schickt ihr Severin eine Nachricht. Es ist das letzte Lebenszeichen von ihm. Liv und er sind da seit zwei Wochen getrennt.

Ihr kleines Mädchen schläft in dieser Nacht miserabel. Liv antwortet erst am Freitag auf die Nachricht. Ihr fällt auf, dass kein zweites Häkchen angezeigt wird, als wäre ihre Nachricht nicht angekommen. Sorgen macht sie sich in diesem Moment nicht, sie kennt das schon. Am Samstag ist sie dann aber doch beunruhigt, sie schreibt Demian. Dieser ruft sie schliesslich an und erzählt, was geschehen ist.

«Ein paar Wochen bevor es passiert ist, hat Severin fast jede Nacht davon geträumt, dass er umgebracht wird. Er hatte ja immer solche Horrorträume. Aber damals wurde es sehr spezifisch. Er hat mir auch immer gesagt, dass er nicht älter wird als 30. Das ist schon unheimlich.»

Der letzte Abend

Severin ist am Donnerstag zu Fuss unterwegs. Am Rheinufer bei Jestetten will er übernachten, in einer Hängematte.

Aufnahmen von Überwachungskameras des Volg in Rheinau zeigen, wie er am frühen Abend einkaufen geht: Bier, Wasser und Brot. Severin ist barfuss unterwegs, die Schuhe hat er an den Rucksack gehängt. Gutgelaunt spricht er an der Kasse mit einem Angestellten des Ladens. Sie verstehen sich offenbar gut: Der Verkäufer drückt ihm zum Abschied noch etwas in die Hand.

Etwas später stellt Severin ein Video in einen privaten Chat. In der Aufnahme ist zu sehen, wie er das Rheinufer und den Fluss filmt. Er sagt: «So, da hänge ich meine Hängematte auf. Ich werde jetzt schon aufgefressen von den Mücken. Aber hey. Mein privater Steg. Sehr schön, nackt baden.» Er lacht.

Irgendwann zwischen 19 und 21 Uhr 30 trifft Severin bei der kleinen Badestelle am Rhein auf einen Gastarbeiter aus Lettland. Sie haben sich nie zuvor gesehen, doch die beiden rauchen zusammen einen Joint, das werden DNA-Spuren später beweisen. Hat Severin ihn eingeladen? Haben sich die beiden Männer zusammen am Lagerfeuer unterhalten, sich vielleicht sogar gut verstanden? Ist die Stimmung irgendwann gekippt? Und warum?

Der Lette, der inzwischen zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, schweigt bis heute. Für die Forensiker ist nur klar, dass Severin um 21 Uhr 43 am Ufer des Rheins unter den Schlägen mit einem Holzscheit zu Boden geht. Dann wirft der Mann das Handy in den Rhein, auf dem noch Severins letztes Lied läuft.

Der Abschied am Fluss

Am 4. August 2023 treffen sich Severins Familie und seine engsten Freunde in einem bewaldeten Tobel an der Goldach, irgendwo im Grenzgebiet zwischen St. Gallen und dem Appenzellerland. Es ist einer jener magischen Orte, die Severin auf seinen Touren entdeckt hat, wenn er Ruhe vom Trubel der Welt suchte.

Hier wollen sie sich von ihm verabschieden.

Das Tobel ist eine felsige Sackgasse, nur der Fluss hat einen Ausweg. Mitten im Wasser, umflossen von der Goldach, steht ein gewaltiger Felsblock, fünf bis sechs Meter hoch. Zwei Steinmetze haben ein verschnörkeltes S in den Stein gehauen. Es sieht aus wie eine Spur aus längst vergangenen Zeiten.

Auf einem flachen Stein im Fluss entfachen die Trauernden ein Feuer. Ein befreundeter Theologe spricht ein paar Worte, ein anderer Freund spielt Gitarre. Dann streut die Familie Severins Asche in den Fluss.

Am Ende der Zeremonie schlägt das Wetter plötzlich um. Blitz und Donner treiben die Trauernden davon. Sie finden Zuflucht in einem nahen Restaurant.

Die Goldach trägt Severins Asche in den Bodensee, von da in seinen geliebten Rhein und schliesslich hinaus ins offene Meer.

If I can dream forever then I never wanna die.

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