Ein erfülltes Liebesleben im Alter ist möglich – trotz Routine und körperlicher Einschränkungen. Michael Vogt, Professor für Klinische Sozialarbeit, berät betagte Paare und sagt, wie die Lust nie stirbt.

Herr Vogt, Sex mit 70, 80 oder sogar 90 Jahren – darüber spricht kaum jemand. Existiert das einfach nicht? Hat die Lust ein Ablaufdatum?

Michael Vogt: Menschen haben ihr Leben lang ein Bedürfnis nach sexueller Interaktion, Zuwendung und Zärtlichkeit. Sexualität ist ein Grundbedürfnis, das bis zum letzten Atemzug besteht. In unserer Gesellschaft wird sie zwar vor allem mit Jugendlichkeit und Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Das Verlangen verschwindet aber nicht einfach, auch nicht im hohen Alter.

Aber je nachdem, wie es dem Menschen im Alter geht, ist ein Sexualleben doch irgendwann kaum noch möglich.

Sexualität wird häufig als Ansammlung von koitalen Aktivitäten beschrieben. Aber es geht um mehr als nur um Geschlechtsverkehr. Sexualität ist auch die Körpersprache der Liebe, Zuwendung und Liebkosung. Deshalb sollte man beim Thema Sexualität im Alter nicht nur über Leistung und Potenzverstärker sprechen. Es geht um Berührung und darum, berührt zu werden, um Begehren und das Gefühl, begehrt zu werden. Es geht darum, dass ich nur dich und du nur mich meinst. Das ist eine ganz andere Dimension als die Frage nach Akrobatik bei verschiedenen sexuellen Praktiken.

Das klingt nach einer entspannten Sexualität, so als hätten Menschen im Alter begriffen, worauf es wirklich ankommt. Ist das denn tatsächlich so?

Nicht unbedingt. Es gibt verinnerlichte Normen, die problematisch sind. Der Begriff «eheliche Pflicht» ist so ein Beispiel. Zu einer Pflicht lasse ich mich weniger gerne überreden als zu einer Kür. Alles, was mit Machtverhältnissen zu tun hat, mit nicht kommunizierten Wünschen, kann für Frust sorgen. Im besten Fall aber stellt Sexualität im Alter eine Bestätigung dar. Ich als Person werde in meiner Gesamtheit wahrgenommen.

Finden Paare, die es gut miteinander haben, in der Regel ohne Konflikte in eine neue Art der Sexualität?

Das ist nicht selbstverständlich. Wenn Menschen schon lange zusammen sind, ist zum Beispiel die Routine ein Thema, das sie im Blick haben sollten. Manche haben zum Beispiel immer samstags nach der Sportschau schnell noch Geschlechtsverkehr, ohne dass ein Werben umeinander möglich ist. Dann ist das Ganze nur eine Pflichtübung.

Bei der steigenden Lebenserwartung kann es in langjährigen Partnerschaften durchaus passieren, dass man 60 Jahre lang denselben Sexualpartner hat. Da ist doch die Routine kaum zu vermeiden.

Aber viele wollen sie nicht. Ich erlebe viele Senioren in meinen Beratungen, für die das problematisch ist, die sich einen neuen erotischen Spannungsbogen wünschen. Manchmal genügen ganz grundlegende Dinge, um die Lust anzukurbeln, zum Beispiel etwas mehr Körperhygiene.

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Sie beraten ältere Paare, die Probleme mit ihrer Sexualität haben. Was erleben Sie?

Es gibt Fälle, da sagt die Frau: «Schade, jetzt nach der Menopause habe ich so richtig Lust auf Sex. Aber nun gibt es überhaupt gar keine Möglichkeit mehr dazu, weil mein Partner starke gesundheitliche Probleme hat.» Andere sagen: «Ich bin froh, dass mein Mann nicht mehr kann, weil er im Grunde immer nur ein bisschen über mich gerutscht ist und auf meine Bedürfnisse nie Rücksicht genommen hat.» Letztlich geht es in beiden Fällen nicht einfach um die sexuelle Leistungsfähigkeit, sondern um die Qualität der Partnerschaft. Wichtig ist, ob man aufeinander eingehen kann.

Dennoch ist die Leistungsfähigkeit ja auch ein Thema. Wie beeinträchtigen typische gesundheitlichen Beschwerden älterer Menschen das Sexualleben?

Denken wir einmal an Bluthochdruck und Diabetes: Bestimmte Medikamente nehmen den Betroffenen ein Stück weit das Lustempfinden. Es ist wichtig, dass der Partner weiss: Die fehlende Lust hat nichts mit mir zu tun. Wer das begreift, hat ganz andere Voraussetzungen, um doch noch eine befriedigende Zärtlichkeit und Sexualität zu gestalten. Wer das aber als persönliche Ablehnung betrachtet, kommt sofort in einen Konflikt.

Welche anderen körperlichen Beschwerden schränken die Sexualität ein?

Ein grosses Thema ist Inkontinenz, wovon sowohl Frauen als auch Männer betroffen sein können. Viele leiden dabei unter Schamgefühlen. Manche haben das Gefühl, dass sie sich ihrem Partner gar nicht mehr nähern sollten. Aber wie wäre es denn, ein Kondom einzusetzen? Auch Krebserkrankungen an der Gebärmutter, Blase oder Prostata können die Sexualität einschränken. Ebenso Arthrose oder Osteoporose, die die Beweglichkeit reduzieren. Bei all diesen Beschwerden sollten Paare miteinander sprechen und klären, welche Alternativen in der Gestaltung von Erotik es geben kann. Unter Umständen werden sie den Fokus dann weniger auf den Geschlechtsakt legen.

Was raten Sie konkret?

Mit Worten, Berührungen, Massagen kann man auch eine Erregungskurve erreichen. Das Entscheidende ist, dass ein Grundgefühl der Vertrautheit vorhanden ist: Ich will dich, du bist mein exklusives Gegenüber. Wenn dieses Bewusstsein nicht da ist, sondern ich nur mit der anderen Person zusammen bin, weil sie dieses und jenes für mich tut, dann ist nicht nur die Sexualität, sondern auch die gesamte Beziehungsqualität deutlich reduziert. Es gibt jedoch ein Feld, das komplizierter ist und mich seit einigen Jahren zunehmend beschäftigt. Das ist das Thema Demenz und Sexualität.

Erklären Sie das genauer.

Demenzerkrankte erinnern sich nicht mehr, dass sie partnerschaftlich gebunden sind. Den Besuch der Partnerin oder des Partners im Pflegeheim ignorieren sie womöglich vollkommen. Stattdessen laufen sie eventuell anderen Bewohnern hinterher und legen sich zu ihnen ins Bett. Bei der Körperpflege tun sie deutlich kund, wo sie gerne gewaschen, sprich stimuliert werden wollen.

Das klingt nach einer anspruchsvollen Situation für das Pflegepersonal und Angehörige.

Ja. Mir hat einmal eine rund 50-jährige Frau berichtet, dass sie mit ihrer 86-jährigen dementen Mutter unterwegs war. Mitten im Kaufhaus hat sich die alte Frau die Hose heruntergezogen und öffentlich masturbiert. Diese demenzkranke Frau war ursprünglich sehr christlich und hatte starke Moralvorstellungen. Für die Tochter war die Situation gelinde gesagt schwierig.

Wie kann man angemessen auf die sexuellen Impulse von Demenzkranken reagieren?

Wir brauchen einen neuen Umgang mit diesem Thema. In Pflegeeinrichtungen werden bei solchen Menschen häufig Beruhigungsmittel eingesetzt. Aber ob das der einzige Weg ist, bezweifle ich. Es geht mir nicht darum, eine professionelle Sexualbegleitung als festen Personalschlüssel in Pflegeeinrichtungen zu implementieren. Aber man sollte sich überlegen, welche Alternativen zu Psychopharmaka es geben kann – und wie man das Recht auf Sexualität auch bei Demenz berücksichtigen kann.

Kommen wir zurück zu älteren Paaren, die sich um ein erfülltes Sexualleben miteinander bemühen können und wollen. Worauf sollten sie achten, wenn sie gar nicht erst in eine beratungsbedürftige Krise geraten wollen?

Die Partner müssen unbedingt miteinander reden. Und zwar nicht erst, wenn sie alt sind und Einschränkungen haben. Gerade bei langjährigen Partnerschaften wandeln sich die sexuellen Bedürfnisse immer wieder. Wer 40 Jahre alt ist, hat andere Bedürfnisse als mit 25 Jahren. Mit 60 oder 80 sind die Vorlieben wieder andere. Es hilft jeweils nur die Kommunikation. Ich bemerke aber bei diesem Thema eine grosse Sprachlosigkeit in Paarbeziehungen über alle Altersstufen hinweg. Jeder hat das Gefühl, er weiss, was dem anderen guttut, aber er vergewissert sich nicht.

Und wenn man im Alter einen neuen Partner findet, kann man dann einfach unbeschwert eine zweite Jugend geniessen?

Womöglich. Aber in die neue Paarbeziehung nimmt man die ganzen bisherigen biografischen Erfahrungen mit. Beide müssen sich ehrlich fragen: Was wünsche ich mir für diese Partnerschaft, auch bei der Sexualität? Welche Sehnsüchte habe ich? Und kann ich alte Erfahrungen loslassen? Manche hadern vielleicht mit ihren körperlichen Einschränkungen oder mit ihrem nicht mehr jugendlichen Aussehen. Vielleicht denken sie, der andere suche sich doch lieber eine gesündere, jüngere Person. Solche Vorstellungen sind destruktiv und distanzieren die Menschen voneinander. Deshalb gilt auch hier: Es hilft nur das Gespräch miteinander.

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