Freitag, November 29

Sexistische Bemerkungen, Witze, unangemessene Gesten: Eine Studie deckt Missstände in der Schweizer Armee auf. Carmen Affentranger ist Präsidentin eines Netzwerks für Frauen im Militär. Ein Gespräch über den desaströsen Ist-Zustand. Und was sich ändern muss.

Die Schweizer Armee hat ein massives Problem mit Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Laut einer Studie der Fachstelle für Frauen in der Armee und Diversität haben 86 Prozent aller befragten Frauen im Militärdienst eine Form von Sexismus erlebt. Auch homosexuelle Männer machen diese Erfahrung. Es geht um sexistische Bemerkungen oder Witze, unangemessenes Anstarren, anzügliche Gesten oder unerwünschte sexuelle Handlungen. Jede zweite Frau in der Armee war bereits einmal Opfer von sexualisierter Gewalt.

Carmen Affentranger ist 27 Jahre alt und die Präsidentin des Vereins «Frauen im Tarnanzug» (FiT). Sie hat den Verein gemeinsam mit anderen Soldatinnen 2019 mit dem Ziel gegründet, Frauen im Militärdienst zu vernetzen. Der Verein fordert bereits seit 2021 eine Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Armee.

Carmen Affentranger, Sexismus überall: Was ist los mit der Schweizer Armee?

Die Armee ist rein historisch sehr männlich geprägt und hierarchisch aufgebaut. Straffe Hierarchien begünstigen derartige Entwicklungen. In einem hierarchischen System ist man als Einzelperson stark abhängig von seinem Vorgesetzten. Man schweigt eher, als etwas anzusprechen. Das liegt auch daran, dass es eine klare Vorstellung davon gibt, wie man sich in der Armee zu verhalten hat, wie man miteinander umgeht. Dieses System musste sich bisher kaum verändern.

Waren Sie überrascht vom Ergebnis der Studie?

In Gesprächen mit anderen Frauen in der Armee nehme ich immer dasselbe wahr: Es gibt ein gegenseitiges Verständnis, weil alle Frauen diese Probleme kennen und Erfahrungen mit Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt gemacht haben. Das trifft auf jede Frau in der Armee zu, die ich kenne.

Wie haben Ihre Kameradinnen auf die Ergebnisse der Studie reagiert?

Viele sind froh, dass es nun Fakten gibt, die ganz klar beweisen, dass dieses Problem existiert. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass sich etwas verändert.

Armeechef Thomas Süssli sagte gestern an der Medienkonferenz: «Das Ausmass hatte ich so nicht erwartet». – Wie kann es sein, dass der Chef der Armee nicht weiss, was in den Kasernen passiert?

Ich denke, Armeechef Süssli wusste durchaus, dass es dieses Problem gibt. Vielleicht hat er es unterschätzt. Je weiter oben sich jemand in der Hierarchie befindet, desto weniger bekommt er mit, was in den Truppen läuft. Das hat auch damit zu tun, dass Betroffene fürchten, ihre Karriere zu riskieren, wenn sie Kritik üben. Zudem ist es für viele schwer fassbar, was sexualisierte Gewalt ist.

Wie meinen Sie das?

Es gibt klare körperliche Übergriffe, das ist das eine. Es gibt aber auch abwertende Sprüche. Wer diese Sprüche macht, ist sich vielleicht gar nicht bewusst, wie sich das für eine Frau anfühlt. An der Medienkonferenz zur Studie meldete sich ein Journalist vom Magazin «Schweizer Soldat». Er sagte, in seiner Zeit im Militär habe es wohl viele Situationen gegeben, die problematisch gewesen seien. Doch er frage sich, wo man denn nun die Linie ziehe. Was darf man? Und was nicht? Genau das brauchen wir. Wir müssen über sexistische Witze und Bemerkungen reden und besprechen, was geht – und was eben nicht.

Können Sie ein Beispiel für diese Nuancen nennen?

Angenommen, eine Gruppe von Kameraden sitzt an einem Tisch und es werden abwertende Frauenwitze erzählt. In so einer Situation fühle ich mich als Frau übersehen. Soll ich mitlachen? Solche Momente geben mir das Gefühl, nicht wirklich zur Gruppe zu gehören. Wer nie in einem Raum war und einer Minderheit angehörte, hat vermutlich Mühe, das zu verstehen.

Sie sind selbst in der Armee. Haben Sie selbst sexistische Sprüche oder unerwünschte sexuelle Handlungen erlebt?

Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich jetzt Beispiele nennen müsste. Sobald ich das täte, könnten sich die Leute daran reiben und sagen: So schlimm ist das nicht, hab dich nicht so. Aber ja: Ich habe unangenehme Situationen erlebt.

Haben Sie den Eindruck, die Armee hat Meldungen von Betroffenen bisher ernst genommen?

Viele Offiziere und Offizierinnen, also die Vorgesetzten, sind Milizionäre. Das heisst, sie üben diese Funktion während vier Wochen im Jahr aus. Den Rest der Zeit sind sie in ihrem normalen Beruf. Es ist völlig natürlich, dass sie weniger Kapazitäten und Erfahrung im Umgang mit diesen Situationen haben. Auch deshalb ist es wichtig, dass es nun die unabhängige Meldestelle gibt. Die Meldestelle signalisiert aber vor allem den Betroffenen, dass sie ernst genommen werden und sich in einer vertrauenswürdigen Umgebung befinden.

Bisher lief das alles über den normalen Dienstweg.

Ja, das war problematisch, denn so musste man befürchten, dass eine Meldung negative Konsequenzen für einen selbst mit sich bringt. Seit eineinhalb Jahren gibt es nun die unabhängige Meldestelle. Und man kann sich an den psychologisch-pädagogisch Dienst oder eine Seelsorgerin werden. Solche Möglichkeiten sind enorm wichtig.

Armeechef Süssli sieht die Lösung in diversen, vielfältigen Teams. Bis 2030 will er den Frauenanteil von weniger als zwei Prozent auf 10 Prozent erhöhen. Aber es fehlt an Infrastruktur, an Ausrüstung für die Frauen.

Zuerst braucht die Armee einen Kulturwandel. Jeder und jede Einzelne steht in der Verantwortung, respektvoll mit den Kameraden und den Kameradinnen umzugehen. Zudem wünsche ich mir, dass Führungspersonen in dieser Entwicklung als Vorbilder vorangehen. Es braucht beides: Einen Kulturwandel von oben und von unten. Aber die ganze Verantwortung auf die Truppe abzuwälzen ist falsch. Schliesslich reden wir über ein strukturelles Problem.

Die Fachstelle, die die Studie herausgegeben hat, hat auch Massnahmen präsentiert. Viele zielen darauf ab, dass Frauen selbst Verantwortung übernehmen. Zum Beispiel, indem sie sich melden sollen, wenn sie etwas Übergriffiges erleben. Sollte man nicht eher bei den Männern ansetzen?

Ich finde es wichtig, dass alle Verantwortung übernehmen. Es darf nicht sein, dass nur Frauen etwas sagen. Das zeichnet auch ein falsches Bild der Problematik. Gerade wenn man Opfer sexueller Belästigung ist, kann es sein, dass man sich nicht in der Lage sieht, sich zu wehren. Dann braucht man Hilfe von anderen. Momentan ist es in der Armee so, dass sehr viele zuschauen. Ich habe viele Kameradinnen und Kameraden, die unzufrieden sind mit der Situation. Sie wollen nicht, dass solche Dinge geschehen. Trotzdem schreiten sie nicht ein, wenn etwas passiert. Wir müssen alle lernen, etwas zu sagen. Aber das muss man sich trauen. Und je nach Gruppendynamik kann das sehr schwer sein.

Wie durchbricht man eine solche Dynamik?

Die Armeeführung muss deutlich machen, dass sie dieses Verhalten nicht toleriert. Und jede Hierarchiebene muss dann diese Haltung mittragen. Vorgesetzte müssen ihre Leute motivieren, einzuschreiten. Wahrscheinlich hilft es auch, wenn man mehr darüber spricht, die Menschen sensibilisiert.

Bei SRF sagte eine Soldatin, man brauche als Frau in der Armee eine «dicke Haut». Heisst das, Frauen müssen sich den Männern anpassen?

Schon vor Beginn der Rekrutenschule haben mich Leute vor männlichen Umgangsformen gewarnt. Andere Frauen sagten, man dürfe als Frau eben nicht sensibel und heikel sein in der Armee. Für manche Frauen ist die Anpassung eine Überlebensstrategie. Und diese Überzeugung geben sie später weiter. Zudem wird in der Armee sehr schlecht über Frauen geredet. Ich höre so viele Geschichten. Und manchmal denke ich: Bin ich wirklich die einzige normale Frau hier? Aber das stimmt natürlich nicht. Ich kenne so viele wundervolle und engagierte Frauen, die Armeedienst leisten.

Haben Sie Angst, dass die aktuelle Studie junge Frauen abschreckt, Armeedienst zu leisten?

Vielleicht. Allerdings machen sich die wenigen Frauen, die überhaupt in die Armee gehen, schon vor dem Eintritt viele Gedanken. Es ist schon heute allen Frauen klar, dass sexistische Bemerkungen oder Belästigungen eine Realität sein können. Und sie gehen trotzdem.

Was würden Sie einer jungen Frau am Orientierungstag sagen?

Ich würde ihr aufzeigen, was es bedeutet, in die Armee zu gehen. Ich fragte mich damals auch: Was passiert, wenn ich in die Armee gehe? Werde ich ausgeschlossen? Werden mir schlimme Dinge passieren? Ich habe dann entschieden, es zu wagen.

Bereuen Sie den Entscheid, in die Armee gegangen zu sein?

Ich bereue die Entscheidung nicht. Auch die schmerzhaften Erfahrungen brachten mich weiter. Aber ich bin weniger motiviert als zu Beginn. Das hat viel mit den Missständen zu tun. Es ist anstrengend, diese Dinge auszuhalten, und manchmal frage ich mich, weshalb ich mir das antue.

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