Dienstag, November 26

Der Warenprüfer hat mit seinem Halbjahresresultat einen Kurssprung ausgelöst. Die neue Konzernchefin scheint eine Wende zum Besseren herbeizuführen. Sie lässt hoffen, dass das Unternehmen und die Aktien aus der langjährigen Stagnation ausbrechen.

In der laufenden Halbjahresberichtssaison braucht es wenig, um im Markt Zweifel zu wecken oder zu verstärken. Wenn die Erwartungen nicht vollauf erfüllt werden, fallen die Kursreaktionen heftig aus. Auch Blue Chips wie Nestlé und ABB sind am Tag, als ihre Zwischenergebnisse publiziert wurden, um 5 bis 6% eingebrochen. Eine Ausnahme bildete SGS: Die Aktien gewannen nach der Publikation über 10% auf 92.10 Fr. Der Genfer Warenprüfer übertraf mit den Halbjahreszahlen auf allen Ebenen die Konsensschätzungen, doch bei den operativen Margen zeigen sich noch kaum Verbesserungen.

Daniel Lenz, Manager des Schroder (CH) Swiss Small & Mid Cap Fund, führt den Kurssprung darauf zurück, dass ein gutes Resultat auf tiefe Markterwartungen getroffen sei. Dazu seien die SGS-Aktien in vielen Portfolios nicht oder nur mit einer kleinen Position vertreten: «So kam es zu erheblichem Kaufdruck.» Ein Fondsmanager, der seinen Namen nicht genannt haben will, stimmt dieser Sicht zu: Das neue Management um CEO Géraldine Picaud habe im Vorfeld des Zwischenberichts tiefgestapelt und die Erwartungen gedämpft.

SGS hat den Marktteilnehmern über die vergangenen zehn Jahre auch nicht Anlass dazu gegeben, grosse Erwartungen zu hegen. Zwar gilt der TIC-Sector (Testing, Inspection and Certification) als attraktiv. Aber die Profitabilität des Prüfunternehmens ist gesunken: Während es 2013 einen den Aktionären zurechenbaren Gewinn von 600 Mio. Fr. erzielte, waren es 2023 noch 553 Mio. Fr. Im gleichen Zeitraum sank die operative Marge adjustiert von 16,8 auf 14,7%.

SGS-Aktien: Eine Dekade der Stagnation

So wundert es nicht, dass der Aktienkurs stagnierte: Hatten die Titel im März 2013 ein Hoch von über 97 Fr. erreicht, notieren sie heute nach den jüngsten Marktturbulenzen um 90 Fr. Die SGS-Aktien wurden als Folge der weit unterdurchschnittlichen Kursentwicklung im September 2022 aus dem Schweizer Standardwertebarometer SMI verdrängt und in den Mid-Cap-Index SMIM zurückversetzt.

In der mageren Performance von SGS spiegelt sich auch ein Branchenproblem. Den wichtigen Konkurrenten, allen voran der französischen Bureau Veritas, ist es nicht besser ergangen. Ihr Aktienkurs hat sich in Franken gerechnet schlechter entwickelt als der von SGS.

Ungeachtet des Umstandes, dass die Konkurrenz nicht besser abgeschnitten hat, sind es zu einem grossen Teil eigene Versäumnisse, die SGS gebremst haben. So haben Marktteilnehmer kritisiert, dass das Unternehmen die Kosten zu wenig konsequent angepasst habe.

Neue CEO bringt frischen Wind

Die Erwartungen, dass eine Wende eintritt und SGS an bessere Zeiten anknüpfen kann, verbinden viele mit dem Führungswechsel. Vor gut einem Jahr wurde Géraldine Picaud überraschend zur künftigen CFO ernannt. Sie hatte davor dieselbe Funktion beim weit grösser kapitalisierten Baustoffkonzern Holcim ausgeübt. Sofort gab es Spekulationen, dass sie bei SGS irgendwann die Rolle als Konzernchefin übernehmen solle – was erstaunlich rasch geschehen ist: Keine zwei Monate, nachdem sie im vergangenen Dezember das Amt als Finanzchefin angetreten hatte, wurde bereits verkündet, dass sie per Ende März Frankie Ng als CEO ablösen werde.

Lenz von Schroders teilt die verbreitete Einschätzung, dass Géraldine Picaud frischen Wind in das Unternehmen bringt. Sie setze an Stellen an, bei denen Verbesserungsbedarf bestehe, und sie kommuniziere sehr gut und bestimmt, nicht nur nach aussen, sondern auch intern, wie Lenz annimmt. Er zählt Picaud zu der Art von Führungskräften, «bei denen man die gesetzten Ziele besser erfüllt oder sonst sehr gute Gründe vorweisen kann, warum das nicht möglich war».

Aus Sicht des anonym bleibenden Fondsmanagers benötigt SGS in erster Linie einen Kulturwandel, um zurück in die Spur zu finden. In der Matrixorganisation des Unternehmens überschnitten sich die Zuständigkeiten der Regionenleiter sowie der Divisionsleiter, und es sei nie klar gewesen, wer letztlich die Verantwortung für die Ergebnisse trage. Laut dem Fondsmanager hat der vorherige CEO in dieser Situation nicht durchgegriffen: «SGS war eine Wohlfühloase.»

Damit mache Picaud Schluss: «Das grosse Thema unter ihr ist die Rechenschaftspflicht.» Es sei nun klar, wer ergebnisverantwortlich ist und wer welche Ziele erfüllen müsse. In diesem Jahr hat es auch Neuordnungen in der Organisation gegeben. So umfasst die Division Testing & Inspection (Umsatzanteil: 89%) nun die vier Geschäftslinien, die Test- und Prüfverfahren für Branchen von Industrie und Umweltschutz bis Rohstoffe oder Gesundheit durchführen. Die Division Business Assurance (11%) bietet Zertifizierungs- und Nachhaltigkeitsdienstleistungen an.

Akquisitionen als Wachstumshebel

Ausserdem stehen Akquisitionen auf der Prioritätenliste von Picaud. Sie sieht darin «einen zentralen Wachstumshebel». Die CEO hat Erfahrungen mit Übernahmen, vor allem aus ihrer Zeit als Finanzchefin von Essilor. Der Markt für Augenoptik war stark fragmentiert, und es war Picauds Aufgabe, eine Konsolidierung herbeizuführen. Sie setzte dafür auf die Übernahme einer Vielzahl kleinerer Unternehmen. Es wird erwartet, dass sie diese Bolt-on-Akquisitionsstrategie auch bei SGS anwenden wird, um die Konsolidierung im fragmentierten TIC-Markt zu beschleunigen. Zu ihrer Unterstützung hat Picaud dieses Jahr Marta Vlatchkova als Finanzchefin zu SGS geholt: Vlatchkova war ebenfalls für Essilor und Holcim tätig gewesen.

Schon früher hatte SGS regelmässig Ergänzungskäufe realisiert, um das Wachstum zu unterstützen. In den vergangenen Jahren wurden es jedoch weniger: 2023 wurden für zugekaufte Geschäfte gerade noch 12 Mio. Fr. ausgegeben. Im laufenden Jahr hat SGS bis dato dagegen bereits fünf kleine Zukäufe angekündigt, die zusammen 40 Mio. Fr. Jahresumsatz bringen.

Die frühere Sparsamkeit erklärt sich auch mit der angespannten Bilanz des Unternehmens. Die Verschuldung ist stetig gestiegen, während die Eigenkapitalquote per Ende 2023 auf ein alarmierendes Tief von 7,8% schrumpfte. SGS hat von der Substanz gelebt. Das Unternehmen hat zu viel an die Aktionäre ausgeschüttet. In den vergangenen vier Jahren haben die Ausschüttungen – sämtliche Dividenden und Aktienrückkäufe – jeweils den freien Cashflow überstiegen.

Der Trick mit der Aktiendividende

Wie Fondsmanager Lenz meint, hat die Konzernführung erkannt, «dass das Eigenkapital nicht mehr weiter sinken sollte». Das sei auch der Grund, warum den Aktionären dieses Jahr zum ersten Mal die Möglichkeit gewährt wurde, eine Aktiendividende zu beziehen. Zu 65% nahmen sie das Angebot an, die Dividende in Form von neuen SGS-Aktien zu erhalten. Auf die Weise konnte SGS Barausgaben von knapp 400 Mio. Fr. einsparen. Das gebe dem Unternehmen, so CEO Picaud, «zusätzliche Feuerkraft», um signifikante Wachstumsopportunitäten wahrzunehmen, sprich: um Übernahmen zu vollziehen.

Für die Aktionäre erfolge dies allerdings zum Preis einer Kapitalerhöhung um 5 Mio. Aktien oder 2,6%, merkt Lenz an. «Ökonomisch betrachtet wurde also die Dividende bereits gekürzt.» Positiv sei, dass sich das Eigenkapital im ersten Halbjahr 2024 von 528 Mio. auf 689 Mio. Fr. erhöht habe. Ohne Anpassung der Dividende wäre es aber weiter gesunken, erläutert der Fondsmanager: «Befriedigend ist das für mich noch nicht.»

Es gibt Raum für Verbesserungen

Sind die jüngsten Zwischenberichte und Kursavancen nun ein gutes Signal dafür, dass SGS und der TIC-Sektor aus ihrem tiefen Schlaf erwacht sind? Aus Sicht von Lenz ist es noch zu früh, um von einem neuen Trend zu sprechen. Es gebe Bereiche, in denen sich das Unternehmen verbessert habe, aber das treffe nicht auf alle zu.

Bei SGS ist im ersten Halbjahr die Geschäftslinie Industries & Environment mit einem organischen Plus von 10,9% am stärksten gewachsen. Ein wichtiger Treiber für sie sei eine neue Regulierung für PFAS resp. per- und polyfluorierte Chemikalien, die in den USA und Europa eingeführt wurde. Industries & Environment ist denn auch die einzige Geschäftslinie, die die operative Marge gegenüber der Vorjahresperiode steigern konnte, während die übrigen Bereiche einen Rückgang verzeichneten.

Im Halbjahresbericht hebt SGS zwar hervor, dass der im Januar angekündigte Sparplan über 100 Mio. Fr. erste Resultate hervorbrachte und sein Ziel bis Ende 2025 erreichen werde. Dennoch stagnierte die adjustierte Betriebsgewinnmarge konzernweit bei 14,1%. Lenz geht aber auch davon aus, «dass das aktuelle Sparprogramm nicht das letzte ist und in den nächsten Jahren weitere Verbesserungen folgen».

Wachstumsbeschleunigung im zweiten Quartal

Ein ermutigendes Signal lieferte das Umsatzwachstum: SGS erhöhte den Umsatz im ersten Halbjahr organisch 8%, eine Beschleunigung im zweiten Quartal gegenüber dem ersten (+7,1%). Wie oft tilgten negative Währungseffekte einen grossen Teil des Umsatzzuwachses: Der Warenprüfer ist in vielen Ländern mit schwachen Währungen tätig. Darum will die neue Führung nun vorrangig in Ländern akquirieren, in denen das Unternehmen in Dollar oder Euro fakturieren kann. Auch Bureau Veritas konnte im ersten Halbjahr den Umsatz überraschend klar erhöhen, sogar um organisch 9,2%. Dies löste in ihren Aktien ebenfalls einen Kurssprung aus.

Im jüngsten Jahresbericht führte CEO Picaud aus, dass der Markt zwischen 4 bis 5% pro Jahr expandiere, getrieben durch die vier Megatrends Nachhaltigkeit, digitale Technologien, Rückverlagerung der Lieferketten und die zunehmende Regulierung. In diesem Umfeld will das Genfer Unternehmen der neuen Strategie 2027 zufolge den Umsatz organisch um 5 bis 7% jährlich steigern. Dazu kommt das akquisitorische Wachstum.

Das entscheidende Anlagekriterium

Interessierte Investoren sollten nun auf folgende Kriterien achten: Die bereits genannten Wachstumsperspektiven, die Bewertung und die Managementqualität. Die Bewertung der SGS-Aktien ist auch nach den Marktturbulenzen der vergangenen Tage anspruchsvoll, fällt aber nicht aus dem Rahmen. Auf Basis der Konsensschätzungen für 2024 liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bei 25 und der Unternehmenswert (EV) beim 13,7-Fachen des Betriebsergebnisses Ebitda. Damit liegt die Bewertung zwar über der von Bureau Veritas (KGV 20 und EV/Ebitda 11,4). Doch die Aktien der amerikanischen UL Solutions, seit April 2024 kotiert, sind höher bewertet (KGV 34 und EV/Ebitda 17,2).

Für den Investment Case von SGS ist der Wechsel im Topmanagement nun ein entscheidender Punkt: In den vergangenen zehn Jahren waren immer wieder Zweifel an der Qualität der Konzernführung aufgekommen. Der Ruf, der der neuen CEO Picaud aus ihrer Zeit bei Essilor und Holcim vorauseilt, und die jüngsten Ereignisse und Veränderungen bei SGS untermauern die Erwartung, dass das Warenprüfunternehmen aus seiner Stagnation herauskommt.

The Market vertraut darauf, dass das neue Management die Versprechen umsetzen kann, und empfiehlt die SGS-Aktien, getreu der populären Devise: Wer Aktien kauft, kauft das Management.

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