Montag, Oktober 7

Tim P. Whitby / Getty

Shah Rukh Khan ist der erfolgreichste Schauspieler der Welt. Am Filmfestival in Locarno wird er für sein Lebenswerk geehrt. Aber seine grösste Leistung ist keine filmische.

Es war einmal ein Waisenjunge aus Delhi, der nach Mumbai aufbrach, um Schauspieler zu werden. Er war weder reich, noch hatte er Beziehungen. Am schlimmsten aber: Er konnte nicht einmal besonders gut tanzen. Und das in einem Land, in dem Filme opulenten Musicals gleichen und die männlichen Hauptdarsteller stundenlang singend um ihre Angebeteten herumtanzen. Doch der muslimische Waisenjunge hatte Glück. Als er in Mumbai, das damals noch Bombay hiess, ankam, waren die Regisseure verzweifelt. Ihr Superstar, Amitabh Bachchan, hatte sich gerade eine Auszeit genommen, und sie brauchten dringend ein neues Gesicht. Sie sahen, wie sich neckische Grübchen in den Wangen bildeten, wenn der Junge aus Delhi lachte, und so gaben sie ihm eine erste Rolle. Der Film wurde zum Hit. Der Waisenjunge und sein schmachtender Blick trafen den Nerv der Zeit, und schnell stieg er zum neuen König von Bollywood auf.

Shah Rukh Khans Lebensgeschichte ist so kitschig wie der Plot eines Hindi-Films. Und wie in jedem Märchen fehlt es auch in seinem nicht an schweren Schicksalsschlägen und mächtigen Bösewichten. Die Inder können mit ihm leiden und triumphieren. Auch deshalb ist er Indiens beliebtester Star geworden.

Softie statt Macho

Seit seinem ersten Kinohit 1992 hat SRK, wie sie ihn in Indien nennen, in mehr als hundert Filmen mitgespielt. Der heute 58-Jährige ist dabei in die unterschiedlichsten Rollen geschlüpft. Er hat psychisch Kranke, obsessive Liebhaber und Mörder gespielt. Seine grössten Erfolge feierte er aber als romantischer Held. All seine Liebesfilme wurden Kassenschlager, der erfolgreichste wird in einem Kino in Mumbai seit fast dreissig Jahren täglich aufgeführt. Er ist wie die meisten Bollywood-Filme schnulzig, das Ende absehbar und happy.

Für Bollywood und vor allem die Inderinnen war SRK mehr als einfach ein neues Gesicht. Mit ihm eroberte ein neuer Typ Mann das Kino. Indische Filmhelden waren zuvor harte Macho-Figuren gewesen. Nun wurden sie von einem Softie abgelöst: SRK versuchte die Frauen nicht zu dominieren und zu kontrollieren, er wollte sie verstehen und ihr Freund sein. Seine Helden liessen die Inderinnen von einem einfühlsamen Partner träumen – und den indischen Männern zeigten sie, dass Charme und Witz beim Werben um das Herz einer Frau mehr nützten als Gewalt und Reichtum.

SRKs eigene Liebesgeschichte, wie könnte es anders sein, ist märchenhaft: Schon als Teenager verliebte er sich in die fünf Jahre jüngere Gauri. Dating war Anfang der 1980er Jahre in Indien (und ist es teilweise bis heute) jedoch unmöglich, und so blieb es bei unschuldigem Anhimmeln. Als Gauri nach dem College unerwartet nach Mumbai zog, brach Shah Rukhs Herz. Er überredete seine drei Freunde, mit ihm Richtung Süden zu fahren, um seine Traumfrau wiederzufinden. Er hatte keine Ahnung, wo sich Gauri in der Millionenmetropole befand, doch er entschied, sie am Strand zu suchen, weil sie gerne schwamm. Als er merkte, dass es in Mumbai Dutzende von Stränden gab, begann er einen nach dem anderen abzuklappern. Nach ein paar Tagen war das Geld der Freunde aufgebraucht, und sie rebellierten. Shah Rukh lief verzweifelt zu einem letzten Strand hinunter, und dort stand Gauri und fragte erstaunt: «Was machst denn du hier?»

Mit seinem verrückten Akt der Liebe eroberte er zwar ihr Herz, doch ihre Eltern waren nicht begeistert. Liebesheiraten gab es damals kaum, Ehen wurden arrangiert, und zwar zwischen Frauen und Männern aus der gleichen Kaste. Shah Rukh war aber nicht einmal Hindu, und zudem ein mittelloser Student. Mit seinem Charme gewann er schliesslich aber auch die künftige Schwiegermutter für sich.

Mittlerweile ist King Khan so reich, dass er seiner Frau und den drei Kindern mehr als nur ein gutes Leben bieten kann. Sein Vermögen wird auf 600 Millionen Dollar geschätzt. Die Khans leben in einer grossen Villa im Westen von Mumbai mit Blick auf das Arabische Meer. Der ältere Sohn und die Tochter studieren an Universitäten in den USA, weit weg von den Fans und den Bodyguards. Die Eltern wollen nicht, dass sie zu verzogenen Prinzen und Prinzessinnen werden, und im Umfeld des Königs ist ein normales Leben undenkbar.

Neben Mahatma Gandhi ist SRK der bekannteste Inder überhaupt. Hinter seinem Haus warten rund um die Uhr Hunderte von Bewunderern. Wenn King Khan zu Hause ist, klettert er jeden Tag auf eine Plattform am hohen schwarzen Eisengitter, das die Terrasse umgibt. Er strahlt, winkt und lässt sich fotografieren. Ihm ist die Gefolgschaft nicht lästig, er glaubt, dass er ihr etwas schuldet. «Die Menschen kommen, weil sie mich lieben», sagt er in Interviews.

Ein amerikanischer Journalist nannte ihn einmal den «Tom Cruise Indiens», doch der Vergleich hinkt, gibt es in Hollywood doch schlicht niemanden, der die Industrie ähnlich dominiert wie Khan Bollywood. Über die Jahrzehnte sind zwar auch dort viele andere Stars aufgestiegen, an SRKs Popularität kam aber keiner je heran. Nicht nur in Indien und in der indischen Diaspora wird er vergöttert. Auch in Afghanistan, Bangladesh und Indonesien können viele die von Khan gespielten Figuren zitieren. Laut Schätzungen schauen 3,5 Milliarden Menschen weltweit seine Romanzen.

Vielleicht ist der Mythos Khan dem Glück zu verdanken, vielleicht aber auch einfach harter, ausdauernder Arbeit. Er ist jedes Jahr in mehreren neuen Kinofilmen zu sehen und moderiert Talk-Shows. Er hat ein Cricket-Team der Indian Premier League gekauft und mischt so auch in der beliebtesten Sportart des Landes mit. Er wirbt für Softdrinks und Seifen, Smartphones und Internet-Abos, Designmöbel und Luxusuhren und strahlt an jeder Ecke von Werbeplakaten und in jeder Werbepause vom Fernsehbildschirm.

Der beste Verkäufer des Happy Ends

Arme und Reiche, Städter und Dörfler, Hindus, Muslime und Christen lieben King Khan. Er spricht sie alle an, nicht zuletzt auch, weil er sich aus der Politik heraushält. Er bezieht keine Stellung und bringt so niemanden gegen sich auf. Seine Filme thematisieren zwar durchaus auch politische und soziale Fragen. Sie tun dies aber immer auf eine versöhnliche Art, nie konfrontativ. Am Ende sind alle glücklich. In einer seiner Romanzen versichert SRK dem Publikum in der Rolle eines reinkarnierten Schauspielers: «Wie im Film gibt es auch im Leben ein Happy End, und wenn es nicht so ist, dann ist es noch nicht fertig.» Natürlich ist das eine Lüge, doch keiner verkauft sie so gut wie er.

SRK hat auch seine Religion nie thematisiert. Als Muslim ist er in einem hinduistischen Mittelklasseviertel aufgewachsen und hat eine katholische Mittelschule besucht. Er hat eine Hindu geheiratet und feiert mit der Familie sowohl die muslimischen als auch die hinduistischen Feste.

Seine Religion sollte keinen Einfluss auf seine Arbeit haben, und den Massen schien sie lange auch völlig egal. In den Filmen verkörpert SRK meist Hindus, manchmal auch Muslime, der Glaube tut jeweils wenig zur Sache, Probleme haben sie alle die gleichen: Armut oder Zwangsheiraten, Korruption oder Diskriminierung. Seine Charaktere leiden an den hässlichen Seiten ihrer Nation und sind doch alle stolze Inder, Patrioten – wie SRK selbst.

Feindbild der Hindu-Nationalisten

2014 kommt in Delhi jedoch ein Mann an die Macht, der aus der toleranten indischen Demokratie ein exklusives Reich der Hindus machen will. Narendra Modi erzählt den Indern, dass Muslime Hindu-Mädchen rauben und für Pakistan spionieren würden. Während der Regierungschef gegen religiöse Minderheiten hetzt, prügeln, brandschatzen und morden seine Anhänger.

Die konservativen Hindu-Nationalisten verabscheuen auch das säkulare Bollywood, das aus ihrer Sicht zu liberal und zu vulgär ist. Im Vergleich mit westlichen Filmen ist das Hindi-Kino zwar bis heute prüde. SRK hat kaum einen seiner weiblichen Co-Stars vor der Kamera geküsst. Deren Bekleidung ist über die Jahre aber lockerer geworden. Deswegen kommt es nun regelmässig zu Boykottaufrufen, Schlägertrupps attackieren Filmpremieren und Kinos.

Am meisten stört die Hindu-Nationalisten wohl, dass in Bollywood ein Muslim herrscht. Doch King Khan ist zu populär, sie wagen es nicht, ihn anzugreifen. Für seine Glaubensbrüder wird es aber immer schwieriger, an das versprochene Happy End zu glauben, das entgeht dem König nicht.

Im November 2015, er ist gerade 50 geworden, spricht Khan die wachsende Intoleranz gegen Muslime zum ersten Mal öffentlich an. «Wenn wir nur noch über unsere Religion reden, drohen wir zurück ins finstere Mittelalter zu gehen», sagt er in einem Interview. Religiöser Fanatismus habe nichts mit Patriotismus gemein, ein Patriot zu sein, bedeute, sein Land als Ganzes zu lieben, nicht nur einzelne Teile davon.

Die Hindu-Nationalisten fühlen sich herausgefordert. Ein Vertreter der Regierungspartei twittert: «Khan lebt in Indien, aber sein Herz ist in Pakistan.» Ein anderer vergleicht ihn mit einem pakistanischen Terroristen. In den Strassen verbrennen religiöse Fanatiker Pappfiguren von King Khan, während Dreharbeiten werfen sie Steine auf sein Auto.

Der König äussert sich danach nicht mehr politisch. Bei jeder seiner Premieren drohen Hindu-Nationalisten nun aber mit Boykott und Gewalt. Mehrere Filme von SRK floppen. Er nimmt eine Auszeit, und während das Lächeln mit den Grübchen immer seltener zu sehen ist, erobert das graubärtige Gesicht von Narendra Modi die Strassen und die sozialen Netzwerke.

Die Steuerbehörden durchsuchen Immobilien und Firmen des Filmstars, ein beliebtes Mittel der Regierung, um Gegner einzuschüchtern. SRK schweigt und zieht sich immer mehr zurück. Nun können es alle sehen: Der König von Bollywood hat Angst. Seine Schwäche besänftigt die Hindu-Nationalisten nicht, sie wollen ihm nun den Todesstoss versetzen und greifen ihn dort an, wo er am verletzlichsten ist.

Im Oktober 2021 wird SRKs ältester Sohn auf einem Schiff vor der Küste von Mumbai wegen Konsums und Handels mit Drogen verhaftet. Der 23-Jährige sitzt einen Monat lang in Untersuchungshaft, bevor er auf Kaution freikommt. Im Mai 2022 wird er wegen fehlender Beweise von allen Vorwürfen freigesprochen. Im Nachhinein wird sich herausstellen, dass der regionale Chef der Drogenbekämpfungsbehörde das Ganze orchestriert hat. Die Familie ist King Khan heilig, das wissen alle. Und ihnen wird klar, wenn einer wie er seine Kinder nicht mehr beschützen kann, dann ist niemand mehr sicher.

Muskeln und Politik

Doch SRK will nicht aufgeben, er hat verstanden, dass ein neues, härteres Indien einen neuen Helden braucht. Ein Softie hat gegen die skrupellosen Hindu-Nationalisten keine Chance. Er beginnt wieder Filme zu drehen, und er verwandelt sich in einen Action-Star mit viel Muskeln und politischem Witz.

Den Indern scheint es zu gefallen. Als im Januar 2023 ein neuer Film von SRK in die Kinos kommt, strömen sie in Massen hin. Der Spionagethriller «Pathaan» wird zum Bollywood-Hit mit dem höchsten Einspielergebnis in der Geschichte. Das Publikum tanzt und johlt in den Sälen. Die Superhelden-Geschichte «Jawan», die im September herauskommt, übertrumpft «Pathaan» kommerziell sogar noch.

«Wenn deine Prinzipien infrage gestellt werden, musst du kämpfen», erklärt der Superheld darin, während er das indische Volk mit den unglaublichsten Stunts gegen die korrupte Elite verteidigt. Am Ende ermahnt er seine Landsleute in einer emotionalen Rede, sich beim Wählen nicht von ihrer Kaste oder Religion leiten zu lassen, sondern allein von ihrem Verstand.

Pathaan Trailer | Shah Rukh Khan | Deepika Padukone | John Abraham | Siddharth A | YRF Spy Universe

Auch Leute, die nicht zum typischen Bollywood-Publikum zählen, strömen ins Kino, um SRK zu unterstützen. Damit allein ist der Erfolg seiner jüngsten Filme aber nicht zu erklären. Beide sind surreale Heldengeschichten, in denen die Zuschauer für ein paar Stunden der Realität entfliehen können. Danach scheinen sich die Inder derzeit zu sehnen.

Im Frühsommer 2024 erleidet Narendra Modi eine Wahlschlappe. Er bleibt zwar Premierminister, hat nun aber deutlich weniger Unterstützung im Volk als früher. King Khan dagegen ist populärer denn je. Sein Leben hat einmal mehr eine märchenhafte Wendung genommen.

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