Sonntag, November 24

Sie ist laut, kontrovers und sehr talentiert. Ihr Geschäftsmodell: Doppelmoral. Einst eine belächelte Influencerin, hat sich Shirin David zur erfolgreichsten deutschen Rapperin gewandelt.

«Dass du ein Opernfan bist, hätte ich dir nicht angesehen», sagt Thomas Gottschalk. Soeben hat die Rapperin Shirin David auf dem berühmtesten Sofa Deutschlands Platz genommen. «Warum nicht?», fragt sie irritiert. Er hätte ihr ja auch die Feministin nicht angesehen, erwidert Gottschalk. «Weil ich gut aussehe?», fragt David zurück. «Wir Feministinnen können klug sein, eloquent und wunderschön zugleich.»

Es ist eine kurze Szene der letzten «Wetten, dass . . .?»-Sendung, in der sich zwei Welten berühren, die sich lange voneinander entfernt hatten: Ein älterer Herr, der sich mit seinen Sprüchen gerne plumper Klischees bedient, und eine junge Frau, die Klischees – über «die Jungen» und «die Frauen» – den Mittelfinger zeigt.

Gottschalks Herausforderin heisst Shirin David, sie ist Deutschlands erfolgreichste Rapperin, eine gefeierte Influencerin und kontroverse Feministin. Ihre Begegnung mit Gottschalk verdeutlichte: Hier hat eine Wachablösung im Entertainment stattgefunden. Doch es dürfte ihm entgangen sein.

Aufgewachsen mit Oper und klassischer Musik

Rückblickend scheint es, als ob sich Shirin David ihr ganzes Leben auf die heutige Rolle vorbereitet hätte. Sie kommt 1995 als Barbara Schirin Davidavicius in Hamburg zur Welt, als älteres von zwei Mädchen. Ihr Vater ist Iraner, ihre Mutter stammt aus Litauen. Er verlässt die Familie früh, 2021 verstirbt er.

Die Mutter lehrt ihre Töchter Ehrgeiz – und viel Kultur. «Klassische Musik war Teil unserer Erziehung», sagt Shirin David in einem ihrer seltenen Podcast-Interviews. Mit zwei Jahren besucht Babsi, so wird sie zu Hause genannt, zum ersten Mal die Oper: «Romeo und Julia». Ihre Mutter wird später erzählen, Shirin habe vor Rührung bitterlich geweint.

Mit drei Jahren beginnt Shirin David, Klavier zu spielen, es kommen Saxofon, Geige und Oboe dazu. Mit fünf wird sie an der renommierten John-Neumeier-Ballettschule aufgenommen; ihre Mutter habe dafür sogar geschummelt und sie zwei Jahre älter gemacht. Später tanzt sie am Hamburger Ballett, studiert Gesang an der Jugend-Opern-Akademie und spielt an der Hamburgischen Staatsoper.

Noch deutet nichts darauf hin, dass aus dieser klassisch ausgebildeten Musikerin dereinst Deutschlands erfolgreichste Rapperin wird. Zwar hört sie als Teenager erstmals die Black Eyed Peas und die Rapperin Nicki Minaj. Doch sie schlägt einen anderen Weg ein: Mit 19 lädt sie ihr erstes Video auf Youtube. Sie filmt Beauty-Tutorials, Comedy-Videos und sogenannte Vlogs, in denen sie den Zuschauern ihren Alltag zeigt. Sie weiss, wie Millennials unterhalten werden wollen. Mit Erfolg: Ihr Kanal hat heute mehr als 2,8 Millionen Abonnenten, auf Instagram folgen ihr 6,5 Millionen.

Gleichzeitig bleibt sie der Generation Babyboomer fast gänzlich unbekannt. Ihre Mutter erkennt die Schnelllebigkeit des Influencer-Daseins und die Gefahr eines Publikums, das seinen Teenie-Idolen irgendwann entwächst. «Du musst dich immer weiterentwickeln», habe sie Shirin geraten. Das hat sie getan.

Doppelmoral als Geschäftsmodell

Nur ein Jahr nach ihrem Youtube-Debüt stellt Shirin David erstmals ihr Gesangstalent unter Beweis: 2015 schafft sie es mit einem Coversong in die Charts. 2019 landet sie schliesslich mit der Single «Gib ihm» einen Nummer-eins-Hit. Ihr Debütalbum und zwei Singles erreichen Platz eins. Sie ist die erste deutsche Hip-Hop-Musikerin, der dies gelingt. Ihr zweites Album, «Bitches brauchen Rap», bringt ihr 2021 drei weitere Nummer-eins-Hits ein.

Ihre Texte sind feministisch, schlagfertig und provokant. Songzeilen wie «Ich bin nicht halb nackt, bin nur halb angezogen!» oder «Fahr’n in dicken Limousinen durch die City, Mittelfinger an die ganzen Fuckboys, Baby, gib ihn’n» und «Eine Frau mit Ambition führt ihr Business und kein Gossip» werden von ihren Fans fleissig auf Social Media zitiert.

Shirin David gibt sich betont weiblich, setzt auf viel Haut und viel Make-up. Die Musikvideos sind aufreizend, bunt und protzig. So wie jene von männlichen Rappern auch – nur dass Frauen bei David nicht Zudienerinnen, sondern Hauptakteurinnen sind. Ihre Videoclips wirken wie eine Persiflage auf die Hip-Hop-Szene und gleichzeitig wie eine Kampfansage: Die Zeiten, in denen sich nur Männer so geben durften, sind vorbei.

Ästhetik ist für Shirin David ebenso wichtig wie die Musik selbst. So hat sie es an der Oper gelernt: «Musik muss man sehen können», erklärt sie in einem Podcast. Kostüme und visuelle Elemente sind für sie untrennbar mit der Musik, ja mit Kunst verbunden. Shirin David ist auch – und vielleicht vor allem – eine Kunstfigur. Als solche polarisiert sie. Und sie zelebriert den Widerspruch.

Shirin David ist Feministin, aber sie will keine Alice Schwarzer sein. Statt sich gegen patriarchal geprägte Schönheitsideale zu wehren, besingt sie ihren «bubble butt», feiert ihre gemachten Brüste und ihre neue Nase. Ihr Feminismus kennt nicht nur andere Regeln, er will keine mehr haben. «Mir geht es um Selbstbestimmung. Jede Frau darf machen, was sie möchte, ohne dafür verurteilt zu werden», sagt sie. «Was ich an meinem Körper verändert habe, habe ich gemacht, weil ich es toll fand.» Die Haltung ist nicht neu. Doch Shirin David treibt sie auf die Spitze: 75 000 Euro habe sie in Schönheitsoperationen investiert. So sagte sie es in einem Video, das sie später wieder gelöscht hat.

Die vergleichsweise harmlose Sitcom «How I Met Your Mother» ist ihr zu sexistisch. Sie gibt aber zu, als Teenager von der Reality-Show um Hugh Hefners Playboy-Mansion beeinflusst worden zu sein und immer gewusst zu haben: «Wenn ich 18 bin, will ich keinen Führerschein, ich will grosse Brüste.»

Schlagworte wie Female Empowerment und Sisterhood fallen bei Shirin David fast inflationär. Immer wieder fordert sie, mehr Frauen in wichtige Positionen der Hip-Hop-Szene zu bringen. Gleichzeitig arbeitet Shirin David mehrheitlich mit männlichen Produzenten, und ihre feministischen Songzeilen schreibt sie mit männlichen Songwritern wie dem Rapper Laas. Die Kritik: Shirin David fordere zwar die Ermächtigung von Frauen, an ihrer Musik würden aber letztlich vor allem Männer verdienen. David kontert den Vorwurf in ihrem Song «Lieben wir»: «Bring meine Boys mit, Album ist Teamwork.
Mit wem ich Songs schreib? (Bitch, do your research.)»

Shitstorms begegnet sie mit einem medialen Stinkefinger

Mit Songzeilen zurückschiessen – da bleibt Shirin David der Rolle der Rapperin treu. Interviews gibt sie hingegen nur selten. Sie hat es schlicht nicht nötig. Zudem dürfte die Musik längst nicht mehr ihr lukrativstes Geschäft sein. In den letzten neun Jahren hat sich Shirin David ein Imperium aus Konsum und Unterhaltung aufgebaut.

Ebenso wie ihr Rap-Kollege Capital Bra oder der Influencer Logan Paul hat auch David ein eigenes Softgetränk auf den Markt gebracht. Laut eigenen Angaben hat sich Dirtea bis zum vergangenen März über 65 Millionen Mal verkauft – was einem Umsatz von 106 Millionen Euro entspricht. Ihr eigenes Parfum, das 2019 auf den Markt kam, wurde laut Forbes allein im ersten Jahr mehr als 850 000 Mal verkauft.

Damit ist Shirin David auch für etablierte Firmen eine lukrative Partnerin. Der Fast-Food-Riese McDonald’s hat sich Shirin David bereits vor einem Jahr als Werbegesicht gesichert. Es folgten ein gemeinsamer Song («Lieben wir») und Produkte wie ein McFlurry Shirin.

Die Zusammenarbeit brachte der Rapperin bereits kurze Zeit nach der Bekanntgabe einen Shitstorm ein – unter anderem deshalb, weil sie sich als Youtuberin gegen Massentierhaltung ausgesprochen und einst angegeben hatte, vegan leben zu wollen. Ihre Reaktion: ein medialer Stinkefinger. Sie postete auf Instagram ein Reel, in dem sie von Kopf bis Fuss in Pelz gekleidet ist.

Es blieb bei weitem nicht die einzige Kontroverse. Noch 2019 gab Shirin David an, aus Gründen des Klimaschutzes ihren schwarzen AMG zu verkaufen. Später ruderte sie zurück: Ihre damalige Aussage sei zu sehr davon geleitet gewesen, den Leuten gefallen zu wollen. Tatsächlich habe der AMG schlicht zu wenig Anonymität zugelassen. Wenig später kaufte sie sich einen Rolls-Royce und einen G-Klasse-Geländewagen – in Pink. David schien Gefallen an der Rolle der Provokateurin gefunden zu haben und teilte wenig später ein nachgestelltes Verhaftungsfoto. Dazu schreibt sie: «Verhaftet wegen Doppelmoral.»

Selbst Helene Fischer kommt nicht an ihr vorbei

Shirin David hat kein Problem damit, Widerspruch stehen zu lassen. Ihrer Karriere hat das nicht geschadet, im Gegenteil: Sie zehrt davon. Selbst Helene Fischer, die derzeit grösste Sängerin Deutschlands, weiss, dass an Shirin David nicht vorbeikommt, wer ein jüngeres Publikum ansprechen will. Ihre gemeinsam veröffentlichte Neuauflage von «Atemlos durch die Nacht» landete auf Platz 1 der deutschen Charts – etwas, das Helene Fischer zuvor noch nicht gelungen war.

Zwölf Millionen Menschen haben den ersten gemeinsamen Live-Auftritt von Fischer und David bei «Wetten, dass . . .?» verfolgt – und viele dürften beim unbeholfenen Gespräch danach die Stirn gerunzelt haben. Auch deshalb, weil ein fünfminütiges Interview mit oberflächlichen Fragen nicht ausreicht, um eine komplexe Person wie Shirin David zu erfassen. Das Konzept scheitert an Künstlerinnen wie ihr.

Dabei zeigt ausgerechnet Shirin David selbst, wie junge Menschen zu unterhalten wären. Seit vergangenem September moderiert sie einen eigenen Podcast, den sie sinnigerweise «Dirtea-Talk» nennt. Während jeweils einer Stunde unterhält sie sich mit Gästen wie der Fussballerin Alisha Lehmann oder dem Rapper Shindy. Ebenso ehrgeizig, wie sie zuvor neue Instrumente und Ballett gelernt hat, lernt sie nun, Interviews zu führen – und ist dabei ebenso erfolgreich. David begegnet ihren Gästen auf Augenhöhe, entlockt ihnen unterhaltsame Anekdoten, indem sie ehrliches Interesse an ihnen zeigt.

Es ist ein simples, aber bewährtes Rezept. Thomas Gottschalk hat es einst auch beherrscht.

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