Donnerstag, November 28

Der Veranstalter der Rad-Weltmeisterschaften in Zürich ärgert sich über «falsche Annahmen, Behauptungen und Übertreibungen». Man habe für Anwohner und Gewerbler etliche Erleichterungen durchgesetzt und sich dafür sogar mit dem Weltverband UCI angelegt.

Herr Senn, freuen Sie sich auf die WM?

Natürlich. Alleine schon aus sportlicher Sicht ist die Vorfreude gross. Die Schweizer Profis fliegen im Moment. Stefan Küng, Marc Hirschi und Mauro Schmid sind seit Wochen herausragend in Form. Wenn man sie sieht, an der Spanienrundfahrt oder an Classiques wie San Sebastián, kommt man zu dem Schluss: Da könnte etwas gehen in Zürich.

Abgesehen von möglichen Schweizer Erfolgen: Was erwartet Zürich? Können sich die Anwohner auch auf den Anlass freuen?

Absolut, sie werden Sport auf höchstem Niveau erleben, eingebettet in viele Rahmenaktivitäten. Es wird tolle Fernsehbilder aus Zürich und der Region geben. Für einen internationalen Grossanlass geht es an Rad-Weltmeisterschaften zudem extrem friedlich zu und her.

Olivier Senn

Der 54-Jährige ist Chef der Firma Cycling Unlimited, welche unter anderem die Tour de Suisse veranstaltet. Mit Daniel Rupf leitet Senn das lokale Organisationskomitee der Rad-WM 2024 in Zürich. Zu den Höhepunkten des Anlasses zählen die Einzelzeitfahren der Frauen und Männer am 22. September sowie die Strassenrennen am 28. und 29. September. (smb.)

In den letzten Monaten wurde vor allem über Strassensperren und Einschränkungen diskutiert. Hatten Sie das Ausmass der Kritik erwartet?

Überrascht bin ich über die vielen falschen Annahmen, Behauptungen und Übertreibungen. Trotz intensivster Kommunikation von unserem Organisationskomitee, der Stadt und dem Kanton halten sich bestimmte Erzählungen hartnäckig.

Was meinen Sie konkret?

Immer noch höre ich zum Beispiel, Witikon werde für neun Tage von der Aussenwelt abgeschnitten sein. Das ist schlicht falsch. Die Rennen führen nur an fünf Tagen dort durch, und auch dann wird Witikon erreichbar bleiben. Wir werden Übergänge einrichten, damit die Quartiere Witikons auch während der Rennen angefahren werden können. Es gibt gewisse Kreise, die ein Interesse zu haben scheinen, sich auf Negatives zu beschränken. Sie lösen unnötige Ängste und teilweise heftige Reaktionen aus. Sich an die Fakten zu halten, scheint nicht bei allen eine grosse Stärke zu sein.

Dass Anwohner und Gewerbler von den WM betroffen sind, steht ausser Frage.

Ich verstehe, dass die Einschränkungen für einige Anwohner und Gewerbler einschneidend sind, und auch, wenn das bei den Betroffenen Unzufriedenheit auslöst. Schwerer nachvollziehbar ist für mich der Vorwurf, wir hätten zu wenig oder zu spät kommuniziert. Seit Januar 2023 sind die Informationen über die Strecken bekannt. Seit dem Frühjahr 2023 gab es etliche Veranstaltungen in Gewerbe- und Quartiervereinen. Zum Teil kamen sehr wenige Besucher. Im Seefeld war bei der ersten Informationsveranstaltung für 150 Personen bestuhlt, 30 waren da.

Vielleicht dachten manche, dass sich an den Strassensperren sowieso nichts ändern lasse?

Auch das wäre falsch. Wer Probleme befürchtete, konnte sich melden. Die Stadt, der Kanton und wir haben über 750 Besprechungen, Begehungen und anderes mehr durchgeführt. Situationen wurden individuell beurteilt und Anpassungen vorgenommen. In Witikon, um beim Beispiel zu bleiben, ist die Verkehrsplanung heute eine völlig andere als im Januar 2023. Wir haben harte Verhandlungen mit dem Weltverband UCI geführt, um bei gewissen Auflagen Erleichterungen zu erwirken. Etwa dass Strassen während der Rennen gequert werden können. Oder dass die UCI schmalere Streckenabschnitte akzeptiert, damit parallel einspurig der Verkehr aufrechterhalten werden kann. All das entspricht eigentlich nicht den Vorgaben. Natürlich konnten wir nicht alle Probleme lösen. Die Rennen finden auf Strassen statt, und es gibt Sicherheitsanforderungen. Aber wir konnten für Anwohner und Gewerbler viel herausholen.

Sie gingen für Zürich auf Konfrontationskurs zur UCI?

Wir haben auf diesem Weg zum Beispiel erreicht, dass die Seestrasse im Zielbereich am Sechseläutenplatz für Autos nicht permanent gesperrt bleibt. Sie wird abends nach den Rennen spätestens um 19 Uhr wieder einspurig geöffnet. Es waren zähe Gespräche und Verhandlungen. Beim Rest der Strecke planten wir von Anfang an, die Absperrungen abends ab- und morgens wieder aufzubauen, damit die Stadt so gut wie möglich funktionieren kann. Das ist ein Riesenaufwand.

Es wurden weitere Erleichterungen beschlossen, die medial kaum thematisiert wurden. Zunächst war zum Beispiel geplant, die Seestrasse ab Männedorf zu befahren. Jetzt ist sie im Zeitfahren nur ab Feldmeilen gesperrt, im Strassenrennen sogar erst ab Tiefenbrunnen. Warum wurde das nicht lauter kommuniziert?

Die Planungsänderungen an der Seestrasse passierten bereits vor Januar 2023, also vor der offiziellen Kommunikation. Wir haben sie in Gesprächen erwähnt, aber nicht allzu offensiv. Wir müssen uns nicht verteidigen. Jeder darf davon ausgehen, dass OK, Stadt und Kanton massive Ressourcen einsetzen, damit die Bevölkerung ihren Alltag so reibungsfrei wie möglich bewältigen kann. Wer konkrete Fragen hat, kann sich auf einer Hotline beraten lassen.

Wie lösen andere Ausrichter die Verkehrsproblematik?

Weniger entgegenkommend. In Glasgow gab es an den Rad-Weltmeisterschaften 2023 am Mittwoch, Donnerstag und Sonntag Rennen im Zentrum, am Freitag und Samstag nicht. Die Banden blieben dennoch durchgehend stehen.

Beobachten Sie bei Anlässen in anderen Ländern ähnlich intensive Diskussionen wie in der Schweiz?

In dieser Intensität sind die Debatten ein Schweizer Phänomen. Die direkte Demokratie führt dazu, dass sich viele Exponenten für ihre Anliegen einsetzen können und sich lautstark zu Wort melden. Das ist auch richtig so.

Die Schweiz erwägt eine Bewerbung um die European Games und will die Olympischen Winterspiele ins Land holen, also zwei noch grössere Anlässe. Halten Sie das für richtig? Oder zeigt sich an den Rad-WM, dass die gesellschaftlichen Widerstände zu gross sind?

Das ist eine schwierige Frage. Ich denke schon, dass sich die Schweiz weiterhin für derartige Anlässe bewerben sollte. Wichtig ist, dass die Kampagnen breit abgestützt sind, dass die Verantwortlichen von Anfang an Transparenz über die konkreten Auswirkungen schaffen und im Dialog mit den wichtigsten Stakeholdern sind. Grundsätzlich ist die Schweiz selbstverständlich in der Lage, grosse Sportveranstaltungen auszutragen. Aber man könnte zu dem Schluss kommen, die Stadtzentren zu meiden und zu überlegen, wo es allenfalls besser passt. Anlässe, die noch grösser sind als Rad-Weltmeisterschaften, bieten Chancen zur Dezentralisierung.

Genau das sagen die Kritiker: Zürich sei nicht geeignet für die WM. Warum finden sie im Zentrum statt?

In der Bewerbungsphase stand früh fest, dass man in die Innenstadt will – ein zentrales Element der Bewerbung. Der Anlass hat auf diese Weise eine ganz andere globale Ausstrahlung. Aber natürlich hat der Entscheid Konsequenzen, zumal Zürich Eigenheiten hat: Es gibt auf vielen Strassen Tramlinien. Und es gibt wenige Brücken, die Überquerungen ermöglichen, gerade in den für uns relevanten Bereichen im Seefeld und am Zürichberg. In anderen Städten wäre die Ausgangslage einfacher.

Bern wollte die Rad-WM ebenfalls. Wäre die Organisation dort einfacher gewesen?

Das weiss ich nicht, und es ist müssig, darüber zu sinnieren. Auch in Bern hätte es Diskussionen mit Anwohnern und Gewerblern gegeben.

Wie ernsthaft drohte angesichts der Einsprachen eine WM-Absage?

Im OK wurde nie ernsthaft über eine Absage diskutiert. Das war eher ein mediales Thema.

Die Tourismusbranche und die Gastronomie dürften unterm Strich eindeutig vom Anlass profitieren. Lässt sich der erwartbare Gewinn beziffern?

In der Bewerbungsphase wurde die Brutto-Wertschöpfung auf 35 bis 60 Millionen Franken geschätzt. Nach dem Anlass werden wir die tatsächliche Wertschöpfung analysieren.

Fast alle internationalen Radstars kommen nach Zürich. Sehen Sie sich bereits mit Sonderwünschen konfrontiert? Der Franzose Julian Alaphilippe fragte während der Tour de Suisse einmal nach einem Helikopterflug aus den Bergen zum Flughafen.

An Weltmeisterschaften ist die Situation zum Glück eine andere als an der Landesrundfahrt. Die Fahrer kommen mit ihren Nationalteams in die Schweiz. Die Verbände kümmern sich ums Organisatorische, sie buchen und bezahlen die Hotels. Wir haben damit nichts zu tun.

Die Schweizerin Marlen Reusser sollte zu einem der wichtigsten Gesichter der WM werden. Sie leidet unter Long Covid und ist nicht dabei. Wie gross ist die entstandene Lücke?

Es ist extrem schade für Marlen, dass sie nicht vor heimischem Publikum um den WM-Titel kämpfen kann. Und ihre Absage ist ein herber Schlag für uns Veranstalter. Marlen ist in der Schweiz das Aushängeschild des Frauen-Radsports und eine unserer offiziellen Botschafterinnen. Sie sollte eine zentrale Rolle dabei spielen, die breite Bevölkerung zu erreichen. Ihre Aussenwirkung wird uns fehlen.

Kann man sie ersetzen?

Nein. Wir können froh sein, dass die Schweizer Männer stark unterwegs sind. Die Chance auf eine Medaille ist bei den Männern hoch. Bei den Frauen fährt Noemi Rüegg gut, und Elise Chabbey kommt hoffentlich wieder in Form. Sie brauchen etwas mehr Glück für ein gutes Resultat. Und sie stehen nicht so im Rampenlicht wie Marlen. Sie ist nicht zu ersetzen.

Wäre ein einheimischer Erfolg für die Wahrnehmung des Anlasses wichtig?

Er wäre sensationell. Die Rad-WM würden dann viel positiver in Erinnerung bleiben. Bleiben Schweizer Medaillen in den Eliterennen aus, wird eher über andere Sachen gesprochen.

Sie sind auch der Manager von Stefan Küng, der seit Jahren zu den weltbesten Zeitfahrern gehört. Haben Sie die Strecke bewusst auf seine Fähigkeiten zugeschnitten?

Vieles war in der Streckenplanung im Vornherein gegeben. Früh stand fest, dass die Männer auf der Offenen Rennbahn in Oerlikon starten und die Frauen in Gossau, mit der zusätzlichen Vorgabe, dass die Strecken anschliessend bis zum Ziel in Zürich möglichst identisch verlaufen sollten. Da bleiben nicht allzu viele Möglichkeiten. Mit Blick auf Stefans Fähigkeiten war klar, dass wir nicht ausschliesslich auf dem Pfannenstiel herumfahren, sondern möglichst viel in der Fläche unterwegs sein wollen. Aber für die Streckenführung war das der weniger wichtige Teil der Planung.

Ein Weltmeistertitel wäre die Krönung von Küngs Karriere.

Absolut. Das gilt für alle Schweizer, aber für Stefan besonders, nachdem er schon ein paarmal ganz knapp dran gewesen ist. Wenn er das Schicksal in Zürich bezwingen könnte, wäre das etwas Grosses für ihn. Dass er zuletzt das abschliessende Zeitfahren an der Vuelta gewinnen konnte, gibt ihm zusätzliche Moral. Er ist top in Form und geht selbstbewusst an den Start.

Wann sind die Weltmeisterschaften ein Erfolg für Sie?

Wenn die Rennen sicher und möglichst unfallfrei über die Bühne gegangen sind, mit vielen Zuschauern und guter Stimmung. Und wenn der Anlass dank unseren Massnahmen für betroffene Anwohner und Gewerbler einigermassen erträglich war.

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