Dienstag, November 26

Der ukrainische Präsident erklärt den Partnerstaaten so pragmatisch-kühl wie nie zuvor, weshalb sie das Land unterstützen sollen. Ein rascher Durchbruch aber ist nicht zu erwarten.

Am Mittwochmorgen hat Wolodimir Selenski seinen lange erwarteten «Siegesplan» verkündet. Der ukrainische Präsident wandte sich dafür an das Parlament in Kiew – eigentlich das falsche Publikum für eine Rede, die fast ausschliesslich für die ausländischen Unterstützer bestimmt war. Geplant war die Präsentation ursprünglich für das Ramstein-Treffen mit den wichtigsten Militärpartnern. Da dieses nach der Absage des amerikanischen Präsidenten Joe Biden vorläufig aber nicht nachgeholt wird, sprach Selenski in Kiew.

Sein Grundton war dabei keineswegs euphorisch. «In unserem Land sind die Worte ‹Die Ukraine muss siegen› seltener geworden», räumte Selenski ein. Manchen seien sie gar unangenehm. Doch eine Niederlage bedeute, dass seine Nation nicht mehr frei leben könne. Er wolle so schnell wie möglich einen Frieden, versprach der 46-Jährige dem kriegsmüden Publikum im In- und Ausland. Doch dieser müsse gerecht und verlässlich sein. «Die Ukrainer haben einen anständigen Frieden verdient.»

Sicherheit für Europa, Abschreckung für Putin

Selenski ist Realist genug, um zu wissen, dass seine Truppen militärisch seit Monaten fast nur noch zurückweichen. Dies spielt Moskau in die Hände und schwächt die Hilfsbereitschaft der Europäer und Amerikaner. Selenski wiederholt stets dieselbe Botschaft an sie: Wenn Putin seine Ziele in der Ukraine erreicht, gefährdet dies die Sicherheit des gesamten Westens. «Für unsere Partner ist es praktisch, uns zu helfen. Damit helfen sie nicht zuletzt sich selbst.»

Viele der Wünsche, die der Präsident am Mittwoch an den Westen richtete, sind bekannt. Die erste Forderung des «Siegesplans» ist eine Einladung zur Nato-Mitgliedschaft. Dass diese nicht sofort zu einem Beitritt führe, sei klar. Doch sie wäre laut Selenski ein wichtiges Zeichen der Westintegration – und der Abschreckung für Putin.

Auch der im zweiten Punkt des «Siegesplans» geäusserte Wunsch der Ukrainer, mit europäischen und amerikanischen Langstreckenwaffen Ziele im Inneren Russlands beschiessen zu dürfen, besteht seit Monaten. Selenski nannte zusätzlich die Stärkung der Luftverteidigung, nicht zuletzt durch gemeinsame Operationen mit Nato-Ländern. Kiew hofft, dass seine westlichen Nachbarn dereinst selbst russische Drohnen und Raketen in Grenznähe abschiessen.

Noch ein Stück weiter in Richtung direkte Involvierung des Westens in den Krieg geht Punkt drei: Hier schlägt Selenski mehreren Staaten vor, in der Ukraine ein «umfassendes nichtnukleares strategisches Abschreckungspaket» zu stationieren. Auch wenn die Details dieser Diskussionen geheim sind, dürfte es um Stellungen mit modernen Waffen und Überwachungstechnologien gehen, die Informationen über Russlands Militär sammeln und die erste Nato-Verteidigungslinie gewissermassen in die Ukraine vorverlegen.

Selenski richtet sich an die «Dealmakers»

Bei all diesen Wünschen kann Selenski nicht auf rasche Zusagen zählen. Die westlichen Staaten sind gespalten: Während Briten, Osteuropäer und Skandinavier einen härteren Abschreckungskurs gegenüber Moskau wollen, der auch entschlossenere Unterstützung für die Ukraine bedeutete, zögern Washington und Berlin. Sie fürchten, Angriffe mit westlichen Marschflugkörpern gegen das gesamte russische Territorium oder eine Nato-Mitgliedschaft Kiews könnten Putin zu einer möglicherweise auch nuklearen Eskalation veranlassen.

Im Wissen darum, dass sich die Diskussionen um solch heikle Punkte seit Monaten im Kreis drehen, zeigte sich Selenski bemüht, diese auf eine andere Ebene zu verlagern. Er konkretisiert die Vorteile für Partnerländer – auch auf der wirtschaftlich-strategischen Ebene: Einerseits bietet er eine vertiefte Kooperation der Rüstungsindustrien, wo der Westen bereits stark von ukrainischen Erfahrungen profitiert.

Andererseits bietet er in bisher öffentlich nicht gehörter Deutlichkeit Zugang zu Rohstoffen. «Die Ukraine verfügt über natürliche Ressourcen, darunter Uran, Titan, Lithium und Grafit im Wert von Billionen US-Dollar», sagte Selenski in Kiew. Das Land biete als Verbündeter also eine «Rendite». Der Westen stehe vor einer Entscheidung: Entweder stärkten die Verbündeten durch Kooperation die demokratische Welt im globalen Wettbewerb, oder man überlasse den Reichtum Russland. Durchaus geschickt wendet sich Selenski so an moralbefreite Geschäftsleute etwa in Donald Trumps Umfeld, die Politik primär als Tauschgeschäft verstehen, das Verdienstmöglichkeiten bieten muss.

Auf einer weiteren Ebene macht Selenski klar, dass sich der Westen unabhängig vom Ausgang des Krieges Gedanken machen muss um die zukünftige Position der Ukraine. Sein Land werde auch nach einem Friedensschluss die stärkste und erfahrenste Armee des Kontinents haben. Diese könne entscheidend dazu beitragen, Europas Stabilität zu sichern. «Das wäre eine würdige Mission für unsere Helden.»

Die Ukrainer setzen auf Hilfe von aussen

Selenskis Rede enthielt neben Bekanntem einige durchaus substanzielle neue Vorschläge. Dennoch waren die Reaktionen im Vorfeld und danach eher von Enttäuschung geprägt – wohl auch, weil der «Siegesplan» mit so viel Pomp angekündigt worden war: Doch er bringt keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse oder Ansätze, wie die negative Entwicklung auf dem Schlachtfeld gestoppt werden kann. Selbst aus der russischen Region Kursk, wo die Ukrainer im August eine überraschende Offensive lancierten, werden sie schrittweise verdrängt.

Dazu kommt, dass gerade die Amerikaner, denen Selenski den Plan bereits im September präsentiert hatte, Lösungen für die inneren Probleme der Ukraine erwarten. Zu diesen gehört die chaotische Mobilisierung, aber auch die fallende Unterstützung in der Bevölkerung für die politische Elite. Von Introspektion oder gar Selbstkritik ist im «Siegesplan» keine Spur zu entdecken. Selenski setzt ganz auf die Hilfe von aussen.

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