Wohl keiner kennt die bröckelnde Schweiz besser als Thomas Gasser. Wir sprachen mit dem pensionierten Bauunternehmer und Hotelbesitzer über rutschende Hänge, bedrohliche Felsen und die Lage der Bergbevölkerung.
Wann immer es in den vergangenen Jahrzehnten galt, oberhalb der Gotthardautobahn drohende Felsen zu sprengen oder Dörfer zu schützen, war Thomas Gasser an vorderster Front mit dabei. Als Geschäftsleiter und Verwaltungsratspräsident der Gasser Felstechnik AG setzte er zwischen 1992 und 2017 in der Schweiz neue Standards im bautechnischen Umgang mit Naturgefahren.
Auch nach seiner Pensionierung unterstützt der 68-jährige Bauunternehmer aus Lungern (OW) die Bergbevölkerung in ihrem Kampf gegen Naturereignisse. So hat er das Hotel Bären in Guttannen (BE) an der Grimselstrasse gekauft, wo Murgänge und Lawinen drohen. Die Anfahrt zeigt, dass wir uns mitten in einem Gefahrengebiet befinden. Man ist daher froh, die Postautohaltestelle Bänzlaui sicher passiert zu haben und im heimeligen «Bären» angekommen zu sein, wo Gasser uns zum Gespräch empfängt.
Herr Gasser, welche Naturgefahren bedrohen Guttannen?
Eigentlich alle, die man sich vorstellen kann. Es gibt wohl kein anderes Gebiet in der Schweiz, wo auf einer Fläche von rund 20 Quadratkilometern so viele Gefahren konzentriert sind. Steinschlag, grosse Murgänge und Lawinen sind hier im Grimselgebiet an der Tagesordnung. Zudem verlaufen hier die Nord-Süd-Transitgasleitung und zahlreiche Hochspannungsleitungen. SAC-Hütten wie die Trifthütte sind durch das Auftauen des Permafrosts gefährdet.
Wie kommt man auf die Idee, in einem gefährdeten Dorf ein Hotel zu kaufen?
Als das Hotel Bären 2013, nach sechs Generationen im Besitz der gleichen Familie, zum Verkauf stand, kaufte es die Gasser Felstechnik AG, um Mitarbeiter für eine Tunnelbaustelle unterzubringen. Ich übernahm es nach meiner Pensionierung 2017.
Seitdem leben Sie in ständiger Gefahr, dass ein Murgang oder eine Lawine alles zerstört. Wie gehen Sie damit um?
Im «Bären» und generell im Dorfkern muss man sich keine Sorgen machen. In den grossen Lawinenwintern früherer Jahrzehnte war das Hotel nie gefährdet. Auf historischen Fotos sieht man, wie die Lawinen auf eine Entfernung von bis zu 100 Meter ans Hotel vordrangen. Zudem bin ich hier nur Gast und Investor. Ich kann mich auf ein erfahrenes Team von Einheimischen verlassen, die gelernt haben, mit diesen Gefahren umzugehen.
Und wie machen das die Einheimischen? Es war schon die Rede davon, dass einzelne Häuser oder Ortsteile evakuiert werden müssten.
Sie bannen die Gefahr, so weit das möglich ist. Vor zwölf Jahren führte ein Murgang dazu, dass die Aare mitten durch das Dorf floss. Inzwischen hat man massive Bachverbauungen und einen Schutzdamm gebaut. Ausserdem wurde die Überwachung verstärkt. Wenn man das Gebiet vor dem Dorf passiert, kommt man durch eine Unterführung, über die bei einem starken Unwetter 1 bis 1,5 Millionen Kubikmeter Gestein abfliessen können. Dieser Hang ist wahrscheinlich der am besten überwachte der Schweiz. Hier ist noch mehr Messtechnik installiert als im bündnerischen Brienz.
Bringt diese Technik etwas? Trotz aller Überwachung mussten die Bewohner von Brienz bereits zum zweiten Mal zwangsweise umgesiedelt werden.
Die geologischen Verhältnisse in Brienz sind einmalig schlecht. Rund um das Dorf bewegt sich dort vieles. Das ist seit langem bekannt und wird auch nicht aufhören. Meine ehemalige Firma hat sich um den Auftrag für die beiden Entwässerungsstollen beworben. Ich bin nicht sicher, ob man das Problem dort mit dem Entwässerungsstollen tatsächlich lösen kann. In einem so gelagerten Fall muss man sich überlegen, ob es nicht besser wäre, das ganze Dorf aufzugeben.
Stellt sich diese Frage auch für Guttannen?
Für das Dorfzentrum nicht. Das ist eigentlich nicht gefährdet. Aber auch hier haben wir Risikozonen, über die man sich verstärkt Gedanken machen muss.
Auch in Guttannen wurden also schon Häuser evakuiert?
Im Weiler Boden mussten zwei Häuser von ihren Bewohnern für immer verlassen werden. Zwei weitere Objekte stehen auf der Liste von Gebäuden, die allenfalls geräumt werden müssen. Die Evakuierung des gesamten Weilers, der aus drei- bis vierhundertjährigen Häusern besteht, wurde vor Jahren geprüft, aufgrund von positiveren Gutachten als anfänglich gedacht aber wieder verworfen.
Und trotz dieser ständigen Bedrohung wollen die Leute nicht gehen.
Die Dorfbewohner haben gelernt, mit den Gefahren zu leben. Gewisse Sachen kann man nicht ändern. Es ist so, wie es ist. Zwar sind die Murgänge intensiver geworden. Doch in den letzten dreissig bis vierzig Jahren sind mehr Einwohner beim Strahlen, also bei der Suche nach Mineralien und Kristallen, oder durch Lawinen beim Tourenskifahren umgekommen als durch grosse Naturereignisse.
Kämpft die Gemeinde nicht dennoch gegen die Abwanderung wie andere Randgebiete?
Die Gemeinde setzt alles daran, dass möglichst viele Menschen in ihren angestammten Häusern bleiben können. Guttannen hat den Vorteil, dass die Wasserkraft Einnahmen bringt, die andere Gemeinden nicht haben. So kann man sich eine Privatschule für die rund zehn Kinder im Dorf leisten. Vor kurzem wurde der bestehende Laden neu organisiert, der dank QR-Code und Badge rund um die Uhr geöffnet ist und das gleiche Preisniveau wie Grossverteiler hat. Noch wichtiger ist jedoch der Zusammenhalt unter den Einwohnerinnen und Einwohnern, der enorm ist.
Reicht das aus?
Mittlerweile haben wir sogar einen Wohnungsmangel. Ganze Familien wollen hierherziehen, finden aber keine Wohnung. Jetzt versucht man, neuen Wohnraum zu schaffen. Das ist aber schwierig, weil ausserhalb des Dorfkerns praktisch alles in der Landwirtschafts- und Gefahrenzone liegt. Wir sind nicht Andermatt, wo man in sicherer Lage praktisch ein neues Dorf aus dem Boden stampfen kann.
Haben sich die Risiken in den letzten Jahrzehnten verändert?
In der Vergangenheit waren es vor allem die grossen Lawinen, die für Gefahr sorgten und das Dorf im Winter teilweise für mehrere Wochen von der Aussenwelt abgeschnitten haben. Mittlerweile hat sich die Bedrohung in das Sommerhalbjahr verlagert. Vor allem nach intensiven Regenfällen ist die Situation zeitweise prekär. Hinzu kommt das Auftauen des Permafrosts, der früher Halt gab.
Die Bevölkerung von Guttannen hat damit leben gelernt, dass Felsen und Geröll eine ständige Bedrohung sind.
Immer öfter wird die Frage laut, ob sich die Schweiz den Erhalt solcher stark gefährdeter Siedlungen überhaupt noch leisten kann.
Ich finde das zynisch. Wer ist denn der Hauptverursacher dieser Erderwärmung? Viele Naturgefahren werden von den Städtern mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch massgeblich mitverursacht. Wir Bergler sind nicht die Hauptverursacher, aber wir leiden am meisten. Und wir sind nicht nur ein Kostenfaktor, sondern wir tun sehr viel für die Schweiz.
Was tragen die Einwohner von Guttannen konkret zum Funktionieren der Schweiz bei?
Die Städte Zürich, Basel und Bern besitzen rund 50 Prozent der Aktien der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), die auf dem Gebiet der Gemeinde Guttannen mehrere Wasserkraftwerke betreibt. Als Aktionäre erhalten die Städte diesen Strom zurzeit für 5,5 Rappen pro Kilowattstunde. Die Stadtwerke verkaufen ihn zum Marktpreis von 14 bis 18 Rappen an ihre Kunden. Das ist eine respektable Marge! Die KWO ist ein wichtiger Arbeitgeber, davon profitieren auch die Einheimischen. Umgekehrt schultern sie jedoch erhebliche Lasten wie die Emissionen in Form von Verkehr und Baulärm, welche der Ausbau der Wasserkraft mit sich bringt. Aufgeben ist auch aus einem anderen Grund keine Option.
Aus welchem?
Wir garantieren die Sicherheit der Versorgung mit Energie. Wenn die Hochspannungsleitungen, die durch unser Gebiet führen, durch eine Naturkatastrophe stark beschädigt oder gar zerstört würden, ginge in der Schweiz monatelang nichts mehr. Die Frage ist: Wie viel ist das Unterland bereit zu investieren, um längerfristig davon zu profitieren?
Was meinen Sie konkret?
Mit der Erhöhung der drei Staumauern im Raum Guttannen kann die Leistung eines Atomkraftwerks erzeugt werden! Die betroffene Bevölkerung nimmt die damit verbundenen Immissionen klaglos hin. Im Unterland hingegen haben wir kleine Gruppen, die mit dem Verbandsbeschwerderecht alles zu Fall bringen können. Sie suchen nach Schlupflöchern für ihre Einsprachen und können damit solche Projekte um Jahrzehnte verzögern oder gar verhindern. Wenn dieses Verbandsbeschwerderecht nicht auf seinen wesentlichen Zweck zurückgeführt wird, blockieren wir uns irgendwann selbst. Das ist für mich wie demokratische Diktatur.
Sie vermissen eine gewisse Solidarität aus dem Unterland.
Der Föderalismus in der Schweiz hat nach wie vor grosse Vorteile, auch wenn er natürlich teuer ist und uns zum Beispiel mehr kostet als die Beiträge an die EU. Aber man kann den Föderalismus nicht nur in Sonntagspredigten loben, man muss ihn auch leben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bahnausbau, bei dem alle Regionen ihren Anteil haben wollen. Hier in der Region kämpfen wir für den Grimseltunnel . . .
. . . dem einige Protagonisten der Schweizer Politik kaum Chancen einräumen.
Natürlich sagt man uns: «Das lohnt sich nicht, ihr habt zu wenig Frequenzen. Wir haben euer Jahresaufkommen an Passagieren in einer Woche.» Das stimmt. Aber wenn die legitimen Interessen der Randregionen und jene der Agglomerationen zunehmend gegeneinander ausgespielt werden, erodiert das Fundament des Ausgleichs, welches die Schweiz 1848 zu dem Staat gemacht hat, der in seinen Grundzügen immer noch existiert. Wichtig ist die Kombination von Stromleitung und Bahn. Nur so ist der Grimseltunnel finanzierbar.
Was würde der Grimseltunnel bringen?
Die 22 Kilometer lange Bahnstrecke zwischen Meiringen und Oberwald erschlösse das Goms und das Berner Oberland besser. Gleichzeitig würde das Goms für Gäste aus der Deutschschweiz näher rücken. Zwischen Luzern und Interlaken sind jährlich 13 Millionen Fahrgäste unterwegs. Das Goms wird in Zukunft eines der wenigen Gebiete sein, wo man noch langlaufen kann. Die beste Lösung ist, die Anreise mit dem öffentlichen Verkehr zu ermöglichen. Wir reden hier von rund 450 Millionen Franken, die das kosten würde. Diese Kosten basieren auf Offerten und werden durch die ideale Geologie belegbar. Das sollte sich die Schweiz leisten können.
Zurück zu den Naturgefahren. Mit Ihrer ehemaligen Firma haben Sie eine Marktlücke entdeckt und daraus ein Geschäft gemacht.
Für meinen Vater war es oft schwierig, im Obwaldner Ort Lungern genügend Arbeit für seine kleine Baufirma zu finden. Mit seiner Unterstützung habe ich die Firma in den 1980er Jahren stärker auf den Bereich Felstechnik spezialisiert. Die Einführung des Sprengstoffgesetzes hat dann dazu geführt, dass nicht mehr jeder sprengen durfte. Vorher konnte man in jeder Eisenwarenhandlung Dynamit besorgen. Die Schadenssumme verringerte sich damals zur Freude der Versicherung um 75 Prozent. So kamen immer mehr Aufträge zur Beseitigung von Felsformationen.
Einige Ihrer Sprengungen wurden sogar live im Fernsehen übertragen.
Vor allem die Sprengungen am Chapf in Innertkirchen, hier ganz in der Nähe, und im Raum Gurtnellen haben die breite Öffentlichkeit interessiert. Typischerweise ging es dabei um den Schutz wichtiger Verkehrswege in den Süden. Wenn die Autobahn oder eine wichtige Bahnlinie gefährdet ist, schaut das Publikum hin.
Haben Sie jeweils auf den Knopf gedrückt, mit dem die Sprengung ausgelöst wurde?
Nein, die Sprengungen waren Teamarbeit. Meine Rolle war es in erster Linie, die Sprengmeister vor dem Umfeld und den Medien zu schützen. Sie hatten die Sache absolut im Griff.
Die zunehmenden Naturgefahren sorgen dafür, dass Ihrer ehemaligen Firma die Aufträge nicht so schnell ausgehen.
Das ist in der Tat so. Zum Glück finden wir viele junge Leute, die in der Felssicherung arbeiten wollen. Klettern ist eine Trendsportart, deshalb kann man das jetzt mit einem Job am Fels verbinden. Das Problem ist die kurze Verweildauer. Wenn wir Jobs auf den Seychellen, in Island oder Indien haben, sind die sehr begehrt. Aber wenn du am Kleinen Matterhorn arbeitest, dann fährst du am Montag früh los und kommst am Freitag spät nach Hause. Das geht nicht, wenn die Leute 60 Prozent arbeiten wollen.
Eigentlich müsste man die Erfahrungen nutzen, die man in der Region mit den allgegenwärtigen Naturgefahren macht.
Das wollen wir auch. Kürzlich hat der Verein «Guttannen bewegt» die Pläne für ein Kompetenzzentrum Naturgefahren vorgestellt. Auf der Handegg hätten wir ein geeignetes Areal, das zu einem Campus Grimsel ausgebaut werden könnte. Dort könnte die Bildungsinfrastruktur geschaffen werden, damit Forschende, Fachleute und Studierende aus den Erfahrungen vor Ort lernen, mit den Gefahren umzugehen.
Ein solches Kompetenzzentrum ist eine teure Sache.
Eine reine Finanzierung durch die öffentliche Hand können wir vergessen. Aber wenn sich, sagen wir, die Swiss Re mit 15 oder 20 Millionen beteiligen könnte? Das wäre vor allem auch Imagepflege. Auch der Kanton Zug hätte wohl kein Liquiditätsproblem, das Projekt zu finanzieren. Das wäre ein Akt der Solidarität.