Ein Jahr nach der Räumung eines Waldstücks in Rümlang bringt ein Gerichtsverfahren Licht ins Dunkel.

Im Winter 2023 reist eine junge Zürcherin namens Kathrin den weiten Weg nach Lützerath. Deutsche Provinz nahe der Grenze zu Luxemburg, fast 500 Kilometer weit weg, mit dem Auto sind es sechs Stunden. Aber es nicht anzunehmen, dass sie mit dem Auto fuhr, denn Kathrin ist Aktivistin. Sie geht nach Lützerath, um den Weiler mit Hunderten Gleichgesinnten von Klimabewegungen wie Fridays for Future zu besetzen und den Abriss zugunsten des Kohleabbaus zu verhindern. Mit dem öffentlichen Verkehr dauert die Anreise endlos lang.

Aber Kathrin ist es ernst.

Drei Monate später stapft sie durch ein trüb-nasses Waldstück in Rümlang nahe der Zürcher Stadtgrenze und spricht in die Kamera einer Jungreporterin des Schweizer Fernsehens. Auch dieses Areal: besetzt. Es soll einer Deponie für Bauschutt weichen, und Bauen ist schlecht fürs Klima. Kathrin trägt einen unpraktischen Mantel mit Leopardenmuster und einen Hoodie. Sie gesteht, dass Outdoor-Vibes und nasse Füsse nicht ihr Ding seien.

Aber Kathrin ist es ernst.

Was zu diesem Zeitpunkt niemand wissen kann: Die Besetzung des kleinen Waldstücks wird zum Präzedenzfall, an dem eine grosse Frage verhandelt wird. Was darf Aktivismus und was nicht? Wie weit geht das Recht auf freie Meinungsäusserung? Und muss die Allgemeinheit zahlen, wenn unbewilligte Protestaktionen teure Polizeieinsätze verursachen?

Die Besetzer von Rümlang werden später Rechnungen von der Kantonspolizei zugestellt bekommen für die Räumung ihres Camps. Sie haben das Pech, dass das Waldstück knapp ausserhalb der notorisch kulanten, links-grün regierten Stadt Zürich liegt. Der kantonale Sicherheitsdirektor Mario Fehr, der dort zuständig ist, vertritt eine härtere Linie.

Ein knappes Jahr nach der Besetzung nehmen die Zürcher Stimmberechtigten an der Urne dann einen Gegenvorschlag zur «Anti-Chaoten-Initiative» der jungen SVP an. Damit legen sie fest, dass ein Vorgehen wie in Rümlang im ganzen Kanton der Standard sein soll. Dass die Verursacher solcher Polizeieinsätze zwingend zahlen müssen.

Die Aktivistinnen und Aktivisten kündigen Widerstand gegen diese neue Praxis an. Durch alle Instanzen, wenn nötig bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie sehen sich als Verteidiger des Rechts auf Protest, und um diesen Kampf zu finanzieren, sammeln sie per Crowdfunding Geld. Rund 36 000 Franken kommen bis im Frühjahr 2024 zusammen.

Das Camp im Rümlanger Wald ist auch deshalb ein Musterfall, weil es bewusst so gebaut wurde, um eine Räumung so schwierig wie möglich zu machen. «So schwierig wie möglich» – mit diesen Worten erklärt Kathrin im April 2023 der SRF-Reporterin die Plattformen hoch in den Wipfeln der Bäume. Dadurch wird die Räumung kostspielig. Die Polizei muss tatsächlich einen Wagen mit Drehleiter und Kletterspezialisten aufbieten, um die Aktivisten aus den Bäumen zu holen.

Genau auf solche Fälle zielt der Zürcher Volksentscheid: Bezahlen muss, wer mit Vorsatz einen ausserordentlichen Einsatz provoziert, der den polizeilichen Grundauftrag sprengt.

Vollzeit-Aktivisten aus der ganzen Schweiz

Bisher blieb es für Nichteingeweihte ein Geheimnis, wer die Aktivisten sind, die sich erbittert gegen diese Regelung wehren. Kathrin, die im Fernsehen ihren Nachnamen nicht nannte, hätte damals das Gesicht der Waldbesetzer sein können, aber sie versteckte sich hinter einer bunten Maske wie ein mexikanischer Wrestler. Als Schutz gegen die Personalisierung durch die Medien. Sie seien ein Kollektiv, argumentierte Kathrin. Und: «Ich habe das Gefühl, dass nicht alle mein Gesicht sehen müssen.»

Auch als der Präsident der Holzkorporation, der das Waldstück gehört, das illegale Camp einmal aufsucht, trifft er dort auf junge Menschen, die zum Teil vermummt sind und ihre Namen verschweigen. Erst nach der Räumung und den Personenkontrollen durch die Polizei sollte er erfahren: Unter den Besetzern war ein lokaler Unternehmer, aber mehrheitlich waren es Studentinnen und Studenten. Junge Leute ohne Einkommen, so sein Eindruck. Manche, das sagte auch Kathrin in die Fernsehkamera von SRF, seien «Leute, die das Vollzeit machen» – gemeint war nicht das Studieren.

Natürlich gibt es Hinweise auf das Milieu. Zum Beispiel die Pendenzenliste der Besetzer auf einer Kreidetafel im Wald, verziert mit Hammer und Sichel und der Schmähung «ACAB» – ein Akronym für «All cops are bastards» –, mit der Autonome und andere Systemgegner die Polizei provozieren. Zudem kursierten in Rümlang Gerüchte: Es seien auch Aktivisten aus dem Ausland im Wald gewesen, die sich rechtzeitig verdrückt hätten und deshalb nie registriert worden seien. Erwiesen ist das nicht.

An diesem Freitag Ende Juni, mehr als ein Jahr danach, müssen einige der Besetzer die Maske ein Stück weit fallen lassen. Gerichtstermin in Dielsdorf. Beschuldigt sind drei Männer und sechs Frauen, die am Tag der Räumung im Wald waren. Manche sind erst Anfang zwanzig, andere schon Mitte dreissig. Kathrin ist nicht unter ihnen, sie entkam damals unbemerkt.

Die Beschuldigten kommen nicht nur aus der Stadt Zürich, aus dem linkslastigen Langstrassenquartier, sondern auch aus anderen Landesteilen, zum Beispiel aus La Chaux-de-Fonds. Der Eindruck: Ein gut vernetzter, harter Kern von Klimaaktivisten, oft aus dem Kultur- und Bildungsmilieu, die Zeit für ausgedehnte Proteste haben. Manche leben offenbar noch bei ihren Eltern. Nicht vor Gericht verantworten müssen sich zwei Minderjährige, die aus Schaffhausen und Bern in den Rümlanger Wald gereist waren.

Die Gruppe wehrt sich dagegen, wegen «Gehilfenschaft zur Übertretung des Waldgesetzes» je 1300 Franken Busse und Gebühren zahlen zu müssen. Es ist ein Nebenschauplatz. Kein Thema sind in diesem Verfahren die politisch relevanteren Einsatzkosten der Polizei und die Betreibungen durch die Waldbesitzer, in der Summe Forderungen von mehr als 40 000 Franken. Die Beschuldigten sind selbst nicht vor Gericht erschienen, sie verweigern jede Aussage und lassen sich durch ihren Anwalt vertreten. Trotzdem sind sie nun identifizierbar.

Sie sind dabei, wenn es gegen «das System» geht

Einer von ihnen ist ein bekanntes Gesicht aus der Stadt Zürich, weil er nicht nur an bewilligten Velodemonstrationen immer wieder in tragender Rolle anzutreffen ist, sondern auch an der kontroversen Critical Mass. Er mischt zudem bei der Umweltbewegung Umverkehr mit und hat sich auch schon auf einer Wahlliste der Grünen aufstellen lassen. Beruflich betreibt er in der Stadt mit einigem Erfolg ein veganes Restaurant.

Er ist ein Typ, der das Rampenlicht sucht und sich als Vollblut-Aktivist inszeniert. Überall dabei, wo etwas läuft. Als weisser, männlicher Akademiker fühlt er sich dazu verpflichtet, schliesslich sei er privilegiert: Wenn einer wie er nichts unternehme, um die Welt vor der Klimakatastrophe zu retten, wer dann? Und weil er davon überzeugt ist, dass individuelles Verhalten zu wenig ändert, kämpft er gegen «das System».

Diese Überzeugung teilt er in Rümlang mit einer Studentin, die bereits im Gefängnis sass, weil sie 2021 dabei war, als die Bewegung Extinction Rebellion eine Verkehrsachse in der Zürcher Innenstadt mit einer Sitzblockade sperrte. Ein andermal besetzte sie den Paradeplatz. Aufgerüttelt wurde sie als Gymnasiastin durch Greta Thunberg.

Nach der Matur verschrieb sich die junge Frau zwei Jahre lang unbezahlt der Klimastreik-Bewegung und verschob ihr Studium auf später – mit Unterstützung des Elternhauses. Der Aktivismus ist für sie zum zentralen Lebensinhalt geworden.

Auch andere, die im Wald von Rümlang waren, dürften einen ähnlichen Weg gegangen sein. Zum Beispiel jene junge Schauspielerin, die schon für ein programmatisches Stück auf einer grossen Bühne stand – in einer Rolle als Klimaaktivistin.

Sie alle beantworten auf Anraten ihres Anwalts keine Fragen zu ihrem Werdegang und ihrem persönlichen Hintergrund. Sie wollen vermeiden, dass der Richter in Dielsdorf in irgendeiner Weise gegen sie voreingenommen sein könnte. Er soll sich nur darauf konzentrieren, ob man ihnen wirklich Verstösse gegen das Waldgesetz vorwerfen kann, wo sie sich doch gegen die Zerstörung des betreffenden Waldstücks eingesetzt haben.

Manche sind auch besorgt, dass man sie durch unbedachte Bemerkungen mit anderen Aktionen in Verbindung bringen könnte. Ein weiterer Hinweis, dass es in der Szene einen überschaubaren Kern gibt, der immer wieder in Erscheinung tritt. In Rümlang waren es nie mehr als rund zwei Dutzend Leute.

Ihre Sorgen sind nicht unbegründet, denn das Verhalten der Aktivistinnen und Aktivisten von Rümlang ist ambivalent. Auf der einen Seite unterstreichen sie, dass ihre Aktionen stets einen friedlichen Charakter hätten. Sie räumen zwar ein, dass sie mit Provokationen arbeiten, hadern aber zum Teil mit den gehässigen Reaktionen, die sie damit auslösen. In persönlichen Gesprächen stelle man oft fest, dass es über die Gräben hinweg mehr Verbindendes gebe, als man denke.

Andererseits gehören auch Spott und Aggressivität zu ihrem Repertoire. Der erwähnte Vollblut-Aktivist, der gerne mit Kraftausdrücken hantiert, ist an einer Debatte zur Critical Mass dadurch aufgefallen, dass er seinem bürgerlichen Gegenüber konsequent ins Wort fiel. An einer Kundgebung schimpfte er rüde über die Zürcher Polizeivorsteherin Karin Rykart und skandierte den Slogan «Ganz Zürich hasst die Polizei!».

Vor Gericht am Freitag ist all das kein Thema. Auch nicht, dass sich der Aktivist öffentlich damit gebrüstet hat, er habe im Baumhaus Bagger gestoppt. Stattdessen streut sein Anwalt Zweifel, ob sein Mandant überhaupt etwas mit der Waldbesetzung zu tun gehabt habe. Der Umstand, dass dieser am Tag der Räumung mit einem Handwagen Material abholen kam und eine andere Aktivistin Küchengerät, belege höchstens, dass sie die Bemühungen der Polizei unterstützt hätten. Unbeteiligte, die einem Aufruf zum Aufräumen gefolgt waren.

Ob der Richter dieser Argumentation folgt, zeigt sich Mitte Juli, wenn er das Urteil fällt. Ein endgültiger Schlussstrich unter diese Geschichte ist das noch lange nicht.

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