Ein Team von Spielanalysten bereitet jedes EM-Spiel des Nationalteams minuziös vor. Dessen Chef weiss, dass das Gegentor gegen Deutschland zu verhindern gewesen wäre.

Es wäre keine Überraschung, wüsste Kevin Ehmes von jedem italienischen Nationalspieler, wie die Passgenauigkeit zwischen der 61. und der 75. Minute aussieht oder wie schnell die Ballverarbeitung in der Schlussphase eines Matches noch ist. Vielleicht weiss Ehmes sogar, wann bei der Squadra Azzurra der letzte Espresso vor einem Spiel getrunken wird.

Ehmes ist verantwortlich für Spielanalyse und Spielentwicklung beim Schweizerischen Fussballverband (SFV) und der Chef-Analyst im Nationalteam. Er sitzt am Mittwochnachmittag in einem Biergarten unterhalb des Fernsehturms in Stuttgart in der Nähe des Schweizer EM-Teamhotels und spricht über seine Arbeit. Seine Tage sind lang, in manchen Nächten schläft er nur vier oder fünf Stunden.

Seit Montagabend weiss das Nationalteam, dass es im Achtelfinal am Samstag auf Italien treffen wird. Seitdem schaut Ehmes Partien der Italiener an. Er wertet Daten aus, studiert Systeme und Laufwege, analysiert Stärken, Schwächen und die Spielweise jedes einzelnen Fussballers. Fünf italienische Matches sieht er noch einmal in voller Länge, dazu ist er auf umfangreichen Plattformen für Statistiken, Scouting und Spielanalyse unterwegs.

Die Datenrevolution hat den Fussball längst erfasst. Es gibt stundenlange Videoausschnitte über Spieler, selbst wenn sie aus den entlegensten Winkeln der Erde stammen. «Das Angebot ist riesig», sagt Ehmes. Aber eines sei auch klar: «Ein Fussballspiel wird nicht am Laptop gewonnen. Es geht darum, mit einer möglichst guten und präzisen Vorbereitung die Fehler zu minimieren.»

Herausragende Werte von Dan Ndoye und Fabian Rieder

Ehmes koordiniert an der EM die Spielanalyse beim SFV. Dazu steht ihm ein Team zur Verfügung. Zwei Spezialisten sind direkt bei der Mannschaft, zwei weitere arbeiten akribisch im Hintergrund. Zudem sind fünf Nachwuchstrainer als Gegnerbeobachter unterwegs. Die Laptops, die Spähern des SFV kürzlich in Düsseldorf gestohlen worden sind, enthielten keine geheimen Informationen.

Der Austausch von Ehmes mit dem Trainerstab ist eng, den Fussballern werden in 15 bis 30 Minuten langen Videoanalysen die komprimierten Informationen vermittelt. Ehmes und sein Team filmen zusätzlich mit Drohnen jedes Schweizer Training, werten es aus, überprüfen die Fitness jedes einzelnen Spielers, wobei von den vielen Kennzahlen eine besonders bedeutsam ist: die Qualität der hochintensiven Aktionen.

Wenig überraschend gehören die jungen Dan Ndoye und Fabian Rieder zu den besten in dieser Kategorie. Ndoye hatte in der Vorrunde beim 1:1 gegen Schottland über einen halben Kilometer im Vollsprint zurückgelegt und dabei mit einer Geschwindigkeit von 35,6 km/h einen Topwert aufgestellt.

Die Analysten setzen auch auf KI

Zuletzt gegen Deutschland sei die Leistung der Schweizer taktisch lange Zeit ausgezeichnet gewesen, sagt Ehmes. Das späte Gegentor wäre zu verhindern gewesen, wenn man David Raum vor seiner Flanke konsequenter attackiert und die Räume besser besetzt hätte. In der Mitte sei es dann sehr schwierig gewesen, den Kopfball von Niclas Füllkrug zu verhindern. «Auf diesem Niveau entscheiden Details. Wenn ein Spieler an der Mittellinie einen Meter zu wenig verschiebt, kann das ein paar Sekunden später der entscheidende Fehler gewesen sein.»

Mittlerweile wird bei der Spielanalyse auch künstliche Intelligenz verwendet, der SFV arbeitet im Bereich der automatischen Spielphasenerkennung mit der ETH Zürich zusammen.

Die Frage ist jedoch: Wie viel Analyse ist zu viel?

Ehmes schmunzelt. Am Ende gehe es auch darum, die Spieler nicht zu überfordern. Er stellt eine interaktive Version der Gegneranalyse jeweils in den Gruppenchat des Nationalteams. Dort wird beispielsweise jeder Spieler Italiens im Detail präsentiert, es kann auch darum gehen, mit welchem Fuss der Ball angenommen wird, was im Pressing eine wertvolle Information ist. Vor den Spielen liegen in der Schweizer Kabine zudem mehrere Tablets, auf denen die Spieler nach Bekanntgabe der Startaufstellung ihr Wissen auffrischen können.

Italien im 3-4-2-1? Wo spielt Barella? Fragen über Fragen

Ehmes ist Deutscher und in Frankfurt geboren. 2014 jubelte er über den WM-Titel Deutschlands beim Public Viewing in der Frankfurter Arena, am Sonntag freute er sich im gleichen Stadion über das 1:1 gegen den EM-Gastgeber. Der 32-Jährige kam mit seinen Eltern bereits als Bub in die Schweiz, wuchs im Kanton Zug auf, spielte selbst Fussball. Später studierte er Sportwissenschaften, arbeitete im Bereich Spielanalyse für diverse Firmen, machte Teile der Trainerausbildung, kam vor zehn Jahren in Kontakt mit dem SFV und ist seit 2018 fest beim Verband tätig.

In diesen Tagen geht es für Ehmes und sein Team darum, Italiens Spiel zu durchleuchten. Werden die Italiener womöglich im 3-4-2-1-System spielen? Was hätte das für einen Einfluss? Welche Position wird der Schlüsselspieler Nicolo Barella besetzen? In welchen Umschaltmomenten sind die Aussenspieler besonders anfällig?

Solche Fragen – viele, ganz viele.

In der Vorrunde gelang es den Schweizern, die Gegner zu überraschen. Der ungarische Trainer Marco Rossi gab sogar zu, ausgecoacht worden zu sein durch die Massnahme, Michel Aebischer links in den Aufbau zu stellen und sehr variabel agieren zu lassen. Auch der deutsche Bundestrainer Julian Nagelsmann pries den klugen Auftritt der Schweizer. Wenn der Stürmer Kwadwo Duah beim 3:1 gegen Ungarn für viele unerwartet im Team steht, ist das laut Ehmes die Konsequenz umfangreicher Analyse. «Wir beobachten Duah schon lange und wussten, dass er mit seinen Tiefenläufen Ungarns Verteidiger beschäftigen kann.»

Eine interessante Idee für Widmers Ersatz

Es gibt drei Spielphasen, die den Schweizern besonders wichtig sind. Es geht dabei grob gesagt um das Verhalten in der Offensive und in der Defensive sowie um die Umschaltmomente zwischen den Bereichen. «An der EM haben wir deutlich weniger Ballbesitz als in der Qualifikation», sagt Ehmes. «Das hat Einfluss auf alle Aspekte.»

Kevin Ehmes sagt, der Nationaltrainer Murat Yakin sei auch während eines Spiels stets offen für technische Hilfsmittel und kein Gambler, wie es oft heisse. «Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, sein Taktikverständnis ist herausragend, die Entscheidungen basieren auf klaren Überlegungen.»

Yakin studiert die Analysen übrigens auf einem Tablet. So gesehen ist er kein Laptop-Trainer, sondern ein iPad-Trainer. Auch im Italien-Spiel könnte der Coach eine taktische Überraschung auspacken, vielleicht bei der Besetzung der rechten Aussenbahn, weil Silvan Widmer gesperrt fehlt. Man hört, es gebe eine interessante Idee – auch dank Scouting, Analysen und Datenerhebungen.

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