Sonntag, September 8

Auch in «L’été dernier» zeigt die 75-Jährige Sex als normalen Bestandteil des Lebens. Das zeichnet sie aus. Denn sonst gibt es heutzutage entweder Filme ohne Sex oder Filme über Sex.

Eigentlich will sie nicht, aber etwas in ihr kann nicht widerstehen. Ihr Kopf neigt sich zu ihm, ihre Augen funkeln, sie sträubt sich, aber ihr Widerstand wird gebrochen. Nicht von ihm, nicht von einer äusseren Kraft, sondern von etwas Unerklärlichem in ihr selbst, einer Lust, die sich nicht zähmen lässt. Seit fast fünfzig Jahren filmt die französische Filmemacherin und Schriftstellerin Catherine Breillat weibliches Begehren über den Tabubruch hinaus.

Der oben beschriebene innere Kampf der Hauptfigur Anne, die kurz davor steht, mit ihrem jugendlichen Stiefsohn zu schlafen, ist eines der wirkungsstärksten Bilder von «L’été dernier», Breillats erstem Film nach einem Jahrzehnt erzwungener Schaffenspause aufgrund ausbleibender Finanzierungen. Was sich in dieser Nahaufnahme von Anne zeigt, ist eine Verletzlichkeit, die mehr mit der existenzialistischen Tragik des Seins zu tun hat als mit idealistischen Vorstellungen von weiblicher Selbstbestimmung.

Durchbruch mit «Romance»

Es ist wahrlich nichts Neues im Œuvre der 1948 im westfranzösischen Bressuire geborenen Filmemacherin, dass sie Grenzen überschreitende Frauen in langen Nahaufnahmen betrachtet. Obwohl sie insbesondere für «Romance» (1999), mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang, explizite Sexszenen drehte, ist die körperliche Entblössung in ihren Arbeiten weniger wichtig als die der Seele. Hier geht es nicht um eine rein ethische Frage, sonst wäre beispielsweise das in «L’été dernier» ungenannte Alter des Sohnes wichtiger, es geht um etwas Tieferes, Urmenschliches.

Der Sohn, Théo, ist ein seine Sexualität entdeckender Verführer, Anne selbst steht zwischen ihrer familiären Verantwortung gegenüber den adoptierten Töchtern und dem Begehren für diesen unkontrollierten, jungen Körper. Ihr Ehemann ist keiner, der sie glücklich macht, das sieht man, auch wenn er kein schlechter Mensch ist. In jedem Bild gibt es eine Ambiguität, die die Menschen und ihre Handlungen ernst nimmt, statt sie in ein dramaturgisches Korsett zu zwängen.

Breillat filmt sexuelle Handlungen nie erotisch. Sie filmt mal nüchtern, mal am Rande des Erträglichen wie in ihrem Debüt «Une vraie jeune fille» (1976), in dem ein vor sexueller Neugier platzender Teenager sich einen Regenwurm in die Vagina einführt. Sie konzentriert sich auf die fragile Körperlichkeit, den emotionalen Ballast, der in sexuellen Handlungen ausgedrückt werden kann.

Weil sie kompromisslos auf diese Art filmt, existiert sie am Rand der Distribution. Sie entspricht nicht dem sexy Image, mit dem sich das französische Kino so gern brüstet. Bei Breillat ist das, was zwischen Menschen geschieht, komplexer, als es gesellschaftliche Diskurse, unzählige Serien à la «Sex Education» und das Mainstreamkino oft vermuten lassen.

Verbotener Debütroman

Aus einer strengen katholischen Familie flüchtend, erlebte Breillat die sexuelle Revolution der späten Sechziger, deren jähes Ende durch Aids und Desillusion in Fragen der Gleichberechtigung sowie nun eine von #MeToo und Identitätsfragen geprägte Diskurslandschaft. Mit siebzehn Jahren schrieb sie ihren Debütroman, der für Jugendliche verboten wurde. Ihre Filme und Romane passen seither mal besser und mal schlechter in den jeweiligen Zeitgeist, es gelingt ihr trotzdem immer anzuecken. Das ist auch ein bisschen kalkuliert, keine Frage.

Breillat hat sich sowieso nie von gesellschaftlichen Debatten beeinflussen lassen. Sie nutzt diese vielmehr, um auszuloten, wie weit man gehen kann. Man braucht eine solche Filmemacherin, weil man sich mit ihr fragen darf, warum wir bestimmte Verhaltensweisen als akzeptabel betrachten und andere nicht. Davon ausgehend können wir unseren moralischen Kompass neu ausrichten.

In jüngster Zeit haben einige neue Filme versucht, progressivere Sexualitätsbilder ins Kino zu bringen. Jüngst zählen dazu «How to Have Sex» von Molly Manning Walker, «Challengers» von Luca Guadagnino oder «May December» von Todd Haynes. Dabei geht es zum einen um offenere Beziehungsformen und zum anderen um einen dezidiert weiblichen Blick auf das Machtgefälle zwischen Geschlechtern infolge des noch anhaltenden #MeToo-Bebens.

Fragen über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Entstehung von Filmen sind vom Kino längst in Repräsentationsfragen umgewandelt worden. Wie unbeeindruckt Breillat davon ist, offenbart sich in ihrem Interesse für Körper. In «L’été dernier» zeigt sie Halsschlagadern, Oberarme, ins Gesicht hängende Locken, rasende Pupillen oder die Nähe, die zwischen zwei Schultern entsteht, die sich nur leicht touchieren.

In einer Zeit, in der Sexualität oft mit Identität verwechselt wird, fällt ein solches Betonen von Körperlichkeit auf. Vielleicht liegt darin sogar ein grösserer Tabubruch als in der Erzählung vom Begehren für den Stiefsohn. Immerhin ist Letzteres ein Standard zeitgenössischer Pornografie. Und überhaupt: Was ist heute überhaupt noch ein Tabu?

Nur die Reichen haben Sex

Eines gibt es offenbar, denn egal wie progressiv manche dieser Filme wirken, man muss feststellen: Sex im Kino scheint ein Privileg der oberen Klassen. Ohne Geld keine Verführung. Egal ob die geschleckten Tennisstars in «Challengers», die in riesigen Häusern lebenden Protagonisten in «May December», die mit Cartier-Armbändern beschenkte Anwältin Anne in «L’été dernier» oder die vermutlich aus der Arbeiterklasse stammenden, aber doch sorglos Ferien machenden Teenager in «How to Have Sex». Man könnte meinen, das Kino könne sich der Sexualität nicht als normalem Bestandteil des Lebens nähern. Stattdessen gibt es heute oft entweder Filme über Sex oder Filme ohne Sex.

Eigentlich lässt sich die Darstellung von Sexualität in Filmen in zwei Stränge aufgliedern: einen, in dem Sex eine Phantasie oder ein Ideal ist, und einen, in dem sich die Filmemacher um Realismus bemühen. Dass Breillat dem zweiten Strang angehört, steht ausser Frage. Dass sie damit mit wenigen Ausnahmen ziemlich singulär bleibt, sollte zu denken geben.

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