Die Ungarin ist bei der ersten Olympiateilnahme schon 31 Jahre alt – weil ihr immer wieder die Weltgeschichte in die Quere kommt.

Die Sommerspiele im November 1956 in Melbourne sollten als die «freundlichen Spiele» in die Olympiageschichte eingehen. Doch die Weltpolitik sorgte in der australischen Stadt für Spannungen auf dem sportlichen Parkett. Einen Monat vor der Eröffnung waren sowjetische Panzer in die Innenstadt von Budapest gerollt und hatten den Ungarnaufstand brutal niedergeschlagen. Aus Protest gegen diese Aktion blieben einige Nationen den Spielen fern, unter anderem die Schweiz.

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In Melbourne massen sich Ungarn und die Sowjetunion im Sport, unter anderem im Kunstturnen, wo sich die Russin Larissa Latynina und die Ungarin Ágnes Keleti ein packendes Duell um Gold im Mehrkampf lieferten. Auf den Rängen sassen zahlreiche Exilungarn, welche nach dem Aufstand nach Australien geflüchtet waren. Obwohl sie Keleti frenetisch anfeuerten, siegte schliesslich Latynina.

Die Kontrahentinnen wechselten während des Wettkampfs und auch an der Siegerehrung kein Wort miteinander, auch Gratulationen blieben aus. Versöhnt haben sich die beiden nie.

Die erfolgreichste Athletin von Melbourne 1956

Keleti ist am vergangenen Donnerstag im Alter von 103 Jahren in Budapest an einer Lungenentzündung gestorben. Obwohl Latynina im Mehrkampf die Oberhand behalten hatte, gewann Keleti 1956 in Melbourne in den Einzeldisziplinen vier Goldmedaillen, dazu zweimal Silber. Sie war die erfolgreichste Athletin dieser Spiele. Bis zu ihrem Tod war sie die älteste noch lebende Olympiasiegerin.

An den Spielen in Melbourne war Keleti bereits 35 Jahre alt, sie trat danach zurück. Wegen der politischen Wirren entschloss sie sich, nicht nach Ungarn zurückzukehren. Sie beantragte zunächst in Australien Asyl, emigrierte 1957 nach Israel und wurde dort Nationaltrainerin. Sie sagte in einem Gespräch mit der «FAZ»: «Mein Trauma durch die Russen ist nicht vergessen. Durch den Einmarsch der Truppen hat sich 1956 mein Leben ein zweites Mal radikal geändert.»

Die Niederschlagung des Ungarnaufstandes war bereits das zweite Weltereignis, das Keletis Leben prägte. Sie kam 1921 als Tochter jüdischer Eltern in Budapest zur Welt. Mit 16 Jahren, 1937, wurde sie ungarische Meisterin im Turnen, träumte von der Teilnahme an den Olympischen Spielen 1940 in Tokio. Doch die Spiele wurden wegen des Zweiten Weltkriegs abgesagt.

Keleti überlebte dank einer falschen Identität

Das ungarische Regime war damals mit den Nazis verbündet. Keleti durfte als Jüdin nicht mehr im Nationalteam mitturnen. Mit 19 Jahren schien die Sportkarriere vorbei. Die Situation der ungarischen Juden wurde immer schlechter, SS-Schergen jagten sie, Deportationen waren an der Tagesordnung, 565 000 starben in den Konzentrationslagern der Nazis.

Keleti überlebte, weil sie sich eine falsche Identität beschafft hatte. Unter falschem Namen verdingte sie sich als Dienstmagd. Ihrer Mutter und ihrer Schwester gelang mithilfe eines schwedischen Diplomaten die Flucht ins Ausland; der Vater und weitere Verwandte starben in Auschwitz.

Nach dem Krieg entschloss Keleti sich, die Turnkarriere fortzusetzen. Noch immer träumte sie von Olympia, doch sie verpasste auch die Spiele 1948 in London – zwei Tage vor dem Wettkampf verletzte sie sich am Knöchel. Sie verdiente den Lebensunterhalt fortan als Cellolehrerin, die Musik war ihre zweite Leidenschaft. 1952 in Helsinki kam sie im Alter von 31 Jahren endlich zum Olympiadebüt. Das Durchschnittsalter der Konkurrentinnen lag bei 23 Jahren.

Keleti reüssierte trotzdem, gewann in Helsinki Gold am Boden, dazu einmal Silber und zweimal Bronze. Über den ersten Goldmedaillengewinn sagte sie in einem Gespräch zu ihrem 100. Geburtstag: «Alles, was ich fühlte, war Glück.»

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