Dienstag, Juni 10

Eine Studentin wollte in New York ihren Geburtstag feiern. Stattdessen landet sie in einem berüchtigten Gefängnis in New Jersey. Was sie erlebt hat, könnte auch jedem anderen Schweizer passieren, sagt ein Anwalt.

«Nummer 18, bist du bereit für deine Deportation?» Mit diesen Worten endete für eine Schweizerin das, was sie selbst im Gespräch «einen traumatischen und entmenschlichenden Albtraum» nennt.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Die Frau, die in der Schweiz Erziehungswissenschaften studiert und als Lehrerin arbeitet, wollte mit einer gültigen elektronischen Reisegenehmigung (Esta) als Touristin in die USA einreisen, um in New York ihren Geburtstag zu feiern. Stattdessen wurde sie am John-F.-Kennedy-Flughafen an Händen und Füssen gefesselt, stundenlang befragt und schliesslich in ein berüchtigtes Gefängnis nach New Jersey gebracht.

Das Erlebte habe sie «emotional verstört und körperlich geschädigt», sagt die Lehrerin, die in dieser Geschichte Lara* heissen wird. Was Lara erlebt hat, ist auch ein Resultat von Trumps neuer Grenzpolitik.

«Folgen Sie diesem Herrn»

Lara landet am 9. April um 16 Uhr in New York. Der Grenzbeamte stellt die bekannten Routinefragen: wie lange sie in den USA bleibe oder wo sie wohnen werde. Doch statt sie danach in die Stadt zu entlassen, sagt er: «Folgen Sie diesem Herrn.»

Sechs Stunden verbringt Lara in einem Raum mit anderen Reisenden, die ebenfalls von den Grenzbeamten zur weiteren Befragung ausgewählt – in Amerika heisst es «flagged» – worden sind. Lara ist 38 Jahre alt, sie hat mehrere Jahre mit einem Studentenvisum in den USA studiert und auch mit einer entsprechenden Bewilligung dort gearbeitet und Steuern bezahlt. Erst seit Ausbruch des Coronavirus lebt sie wieder in der Schweiz. Die langjährigen Freunde in New York besucht sie mehrmals im Jahr, die Reisegenehmigung erhält sie mittels Esta.

Warum sie so oft in die USA reise, wollen die Beamten wissen. Weil sie New York liebe und viele ihrer Freunde dort lebten, sagt Lara. Dann verlangen die Beamten Zugang zu Laras Smartphone. «Ich musste ihnen all meine Social-Media-Accounts und auch mein E-Banking-Konto öffnen. Dann verschwanden sie für etwa eine Stunde mit meinem Handy.»

«Sie lügen»

Weil Lara in der Schweiz nicht nur an einer Schule arbeitet, sondern auch Online-Sprachkurse gibt und zu ihren Kunden auch Amerikaner zählen, sind die Grenzbeamten überzeugt: Sie will arbeiten.

Die Tatsache, dass Lara Mitbringsel wie deutschsprachige Bücher, Schweizer Schokolade und ihren Laptop mitführt und sich mit einigen ihrer Online-Schüler in New York zum Kaffee verabredet hat, erhärtet den Verdacht der Grenzbeamten. Auf Laras Beteuerungen hin, während ihrer Ferien nicht arbeiten zu wollen, hätten die Beamten immer das Gleiche geantwortet: «Sie lügen.»

Lara fährt fort: «Dann haben sie mich bedroht: Entweder ich sage in der Befragung offiziell, dass ich nach New York gekommen bin, um zu arbeiten. Oder sie schicken mich ins Gefängnis.» Die Situation habe sie eingeschüchtert. «Aber trotzdem habe ich gesagt: Das ist nicht richtig. Wenn ihr so mit mir umgeht, brauche ich einen Anwalt, und ich muss die Möglichkeit haben, die Schweizer Botschaft zu kontaktieren. Ihre Antwort war: Sie haben kein Recht hier, Sie sind keine amerikanische Staatsbürgerin», sagt Lara.

Gegen 22 Uhr darf sie eine amerikanische Bekannte ihrer Eltern anrufen, die ihr so nah ist, dass sie sie Tante nennt. Die Tante informiert Laras Freunde in New York und die Familie in der Schweiz. Um 23 Uhr 30 bekommt Lara den offiziellen Bescheid, nicht in die USA einreisen zu dürfen.

Statt in die nächste Maschine zurück wird Lara auf einen am Boden verankerten Stuhl gesetzt und mit einer Fussfessel daran festgemacht. Zwei Stunden wartet sie so, ohne zu wissen, wie es weitergeht. Dann wird sie in einen kleinen Raum gebracht und am ganzen Körper durchsucht. Zu den Fuss- kommen nun auch Handschellen und eine Kette um den Bauch. «Da habe ich zum ersten Mal geweint», sagt Lara.

«Versuchen Sie es gar nicht erst»

Lara ist eine von bisher zwei Schweizer Staatsangehörigen, denen laut dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in diesem Jahr die Einreise in die USA verweigert worden ist. Vergleichswerte aus den Vorjahren gibt es keine, weil das EDA sie nie erhob.

Das deutsche Auswärtige Amt spricht gegenüber der NZZ von einer «kleinen zweistelligen Zahl an Fällen» zurückgewiesener oder festgenommener deutscher Staatsbürger. Drei betroffene Deutsche berichteten bereits in verschiedenen Medien über entmenschlichende Haftbedingungen und willkürliches, gewalttätiges Verhalten der Grenzbeamten.

Seit Jahresbeginn gibt es mehrere solcher Berichte; von Menschen aus Deutschland, Frankreich oder England etwa, die trotz gültigen Einreisepapieren via Esta oder sogar einer Green Card an der amerikanischen Grenze abgewiesen und teilweise wochenlang in sogenannten «detention centers» festgehalten wurden.

Auf Anfrage der NZZ bestätigt eine Sprecherin der U. S. Customs and Border Protection (CBP) indirekt, dass seit Jahresbeginn vermehrt auch Reisende aus Europa und anderen westlichen Ländern intensiv kontrolliert werden. «Unter der Führung der Trump-Regierung haben wir einen starken Rückgang der illegalen Einwanderung beobachtet. Dieser Rückgang hat es unseren Strafverfolgungsbehörden ermöglicht, sich wieder ihrer eigentlichen Arbeit zu widmen, beispielsweise der Durchführung gründlicher Überprüfungen und Befragungen.»

Wie genau ein verstärkter Einsatz im einen Bereich zu mehr freier Kapazität in einem anderen führt, lässt die Sprecherin offen. Womöglich schreibt sie Trump eine abschreckende Wirkung zu. Rechtschaffene Reisende, fährt sie fort, hätten aber nichts zu befürchten. «Personen, die mit betrügerischen Absichten oder böswilligen Motiven in die USA einreisen wollen, geben wir jedoch folgenden Rat: Versuchen Sie es gar nicht erst.»

Blaue oder orange Häftlingskleidung

Lara wird mit einem Gefangenentransport in die Elizabeth Contract Detention Facility nach New Jersey gebracht. Die von einer privaten Firma geführte Haftanstalt steht aufgrund der schlechten Haftbedingungen seit Jahren in der Kritik und gerade wieder im Zentrum aktueller Proteste. So sollen laut Berichten des «New Jersey Monitor» und «News 12» in der Haftanstalt, die Platz für 250 Häftlinge bietet, rund 350 Menschen untergebracht worden sein. Zudem fehle oft der Zugang zu Medikamenten, sauberem Trinkwasser und Seife.

Das bekommt auch Lara zu spüren. Ihre Menstruation hat eingesetzt, sie blutet stark, bekommt aber erst nach mehrmaligem Bitten und als der Blutfleck sich bereits weit ausgebreitet hat, eine einzelne Binde. Schmerzmittel gibt es keine. Dort, voller Blut auf einem Plumpsklo, habe sie zum zweiten Mal geweint. Danach bekommt sie Häftlingskleidung. «Blau für uns, die mit der Immigrationsbehörde Probleme hatten, Orange für Häftlinge, die wegen einer Straftat dort waren.»

Die ersten etwa fünf Stunden verbringt Lara zusammen mit einer Französin, verlobt mit einem Amerikaner, an der Grenze aber als illegal einreisende Migrantin festgehalten, in einer Zweierzelle. Später, im Gespräch mit der NZZ, bestätigt die Französin die Erzählungen von Lara über die Zeitspanne, die die beiden gemeinsam in der Haftanstalt verbracht hatten.

Beide werden von einem Arzt untersucht. «Er war der Erste, der mich respektvoll behandelt hat», sagt Lara. Der Arzt habe ihr erzählt, seit Beginn der Trump-Administration kämen jeden Tag mindestens zwei Europäer, die mit Esta einreisen wollten, in das Detention Center. Das habe er früher nicht beobachtet. Nach der Untersuchung kommen beide, Schweizerin und Französin, in den Raum, in dem sie zusammen mit zwanzig weiteren Frauen auf ihre Deportation warten.

Den Raum müsse man sich «wie eine grosse Turnhalle vorstellen. Auf der linken Seite sind drei Tische, auf der rechten Seite hat es Telefone. Dahinter die Betten, eines neben dem anderen. Es gab zwei Toiletten, zwei Waschbecken und zwei Duschen. Aber alles war offen, Privatsphäre gab es keine.» Anstelle ihrer Namen bekamen die Häftlinge laut Lara eine Nummer zugeteilt. «Ich war die Nummer 18.»

In der Haftanstalt

Weil sie Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch spricht, wird Lara rasch zur Dolmetscherin. Manche der Frauen beginnen, ihre Geschichten zu erzählen.

Zwei Frauen aus Venezuela haben Lara und der Französin erzählt, sie seien seit einem Jahr in diesem einen Raum. Spaziergänge durch den Gefängnishof, wie man das in amerikanischen Filmen sehe, gebe es dort nicht. Tageslicht komme durch ein Fenster an der Decke, die Luft werde von der Klimaanlage gefiltert, sagt Lara. «Die Venezolanerinnen schlafen den ganzen Tag, sind komplett apathisch, weil sie nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht.» Venezuela und die USA verfügen über kein stabiles Deportationsabkommen. «Weil sie schon so lange dort sind, haben die Venezolanerinnen richtige Pullover mit langen Ärmeln bekommen. Der Rest von uns hatte nur T-Shirts.»

Eine andere Insassin hatte sechs Wochen zuvor ein Kind geboren. «Sie musste drinnen ihre Milch abpumpen, die wurde dann rausgebracht zu ihrem Baby», sagt Lara.

Eine Türkin, die in den USA studiert und einen Amerikaner geheiratet habe – die Papiere für eine Green Card seien bereits eingereicht, aber noch nicht verarbeitet gewesen –, sei im Restaurant beim Mittagessen mit ihrem Mann vom U.S. Immigration and Customs Enforcement (ICE) verhaftet und abgeführt worden. «Sie war seit acht Tagen in dem Raum und hat ununterbrochen geweint.»

EDA drückt Besorgnis aus

Um 16 Uhr, genau 24 Stunden nachdem sie auf amerikanischem Boden gelandet war, wird Lara zur Deportation abgeholt. Sie muss ihre verbluteten Kleider wieder anziehen und wird erneut an Händen, Füssen und um den Bauch in Ketten gelegt. Am Flughafen hätten sie mehrere Sicherheitsbeamte, einer mit geladener Waffe in den Händen, zu ihrer Maschine eskortiert. Erst in der Luft bekam sie ihren Pass und ihr Smartphone zurück.

Lara trug blaue Flecken und Schürfwunden von den Fussschellen davon, das belegen Fotos. Der Stress führte dazu, dass ihre Monatsblutung über zwei Wochen nicht aufhörte. Es dauerte lange, bis Lara wieder mehr als drei Stunden am Stück schlafen konnte.

Nachdem eine von Laras Freundinnen das Schweizer Konsulat in New York informiert habe, habe dieses sofort bei den amerikanischen Behörden interveniert. So teilte es ihr das EDA später mit. Zudem, heisst es gegenüber der NZZ, habe der Chef der Amerika-Abteilung «bei einem ordentlichen Treffen im April mit dem Geschäftsträger a. i. der USA in Bern seine Besorgnis über den Umgang mit Einreisenden ausgedrückt».

Es könnte jeden treffen

«Dass die Schweiz bei willkürlichem Freiheitsentzug und Verletzungen der Grundrechte ihrer Staatsangehörigen nicht klarer auftritt, finde ich problematisch», sagt der Rechtsanwalt Pascal Ronc. Er macht in Laras Fall Willkür und eine Verletzung der fundamentalen Freiheits- und Grundrechte aus. «Sie wurde auf den vagen Verdacht eines möglichen zukünftigen Verhaltens hin in ihrer Freiheit und Menschenwürde verletzt. Ein Rechtsbruch konnte ihr weder vorgehalten noch nachgewiesen werden», sagt Ronc. Smartphone und Laptop zu durchsuchen, sei zudem ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre und daher unter Umständen ähnlich einzustufen wie eine Hausdurchsuchung.

Ronc kennt Laras Fall, weil er sie juristisch beraten hat. Seine Mandantin ist sie aber nicht – er sieht für eine Einzelperson keine zielführende Möglichkeit, gerichtlich gegen die Vereinigten Staaten von Amerika vorzugehen. Denn: «Die USA haben sich keinem internationalen Menschenrechtsgericht unterstellt, bei dem Einzelpersonen Beschwerde einreichen könnten.»

Laras Instagram-Account, der vom amerikanischen Grenzschutz wohl minuziös durchforstet wurde, erzählt von einer Frau, die Mode mag, gutes Essen auch und das Reisen liebt. Ihre Online-Lektionen gab sie in der Vergangenheit auch mal aus den verschneiten Schweizer Bergen, aus Spanien und, ja, auch aus New York.

Wie Lara wissen viele nicht: Auch Arbeit für einen nichtamerikanischen Arbeitgeber, selbst Kleinigkeiten, sind mit Esta, aber ohne Arbeitserlaubnis in den USA verboten. Allerdings sei dieses Gesetz, so Ronc, sehr auslegungsbedürftig.

Die Tatsache, dass Lara früher ohne Arbeitserlaubnis in den USA E-Mails verschickt und Online-Lektionen mit Schülern aus verschiedenen Ländern abgehalten hat, rechtfertigt das Verhalten der Behörden laut Ronc in keiner Weise. Erstens sei Lara von den amerikanischen Behörden nie vorgeworfen worden, in der Vergangenheit während ihrer Ferien in den USA gearbeitet zu haben. Zweitens wäre das eine Frage des Strafrechts, nicht der Grenzkontrolle. «Nichts am Verhalten von Lara rechtfertigt die Behandlung, die sie durch die amerikanischen Behörden erdulden musste.»

Dass weitere Schweizer bei ihrer Einreise in die USA die gleiche Willkür erleben wie Lara, hält Ronc für wahrscheinlich. «Darum wäre es wichtig, dass das EDA entsprechende Empfehlungen gibt: keine Arbeitsgeräte wie Laptops mitführen und das Smartphone auf potenziell problematische Inhalte prüfen. Es müsste zudem konkret darauf hingewiesen werden, dass die Rechtsanwendung durch Grenzbeamte in den USA unberechenbar geworden ist. Was Lara erlebt hat, könnte jeder Person widerfahren.»

* Laras Identität ist der NZZ bekannt. Sie möchte anonym bleiben, um zu einem späteren Zeitpunkt und mit Visum allenfalls wieder in die USA einreisen zu können.

Exit mobile version