Dienstag, April 29

«Zero» und «light»: Sind das die Codewörter für Genuss ohne Reue? Süssstoffen wie Aspartam, Saccharin oder Sucralose gelingt der Spagat zwischen süss und kalorienfrei. Gesund macht sie das noch lange nicht.

Um die Superkraft von Süssstoffen zu verstehen, muss man ein wenig rechnen: Ein Stück Würfelzucker wiegt etwa 3 Gramm. Um seine Süsse zu ersetzen, brauchte es gerade einmal 31 Mikrogramm Advantam oder 5 Milligramm Sucralose. Süssstoffe sind derart potent, dass ihr Süssegrad das bis zu 37 000-Fache desjenigen von Zucker beträgt.

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In Sachen Kalorien hingegen sind sie eine Nullnummer. Während in einem Zuckerstück rund 12 Kilokalorien stecken, liefern Süssstoffe keine oder nur sehr wenig Energie. Wenn man bedenkt, dass ein Glas Cola oder Multivitaminsaft umgerechnet neun Stückchen Zucker und damit über 100 Kilokalorien enthält, liegt ihr Vorteil auf der Hand: Süssstoffen gelingt der Spagat zwischen süss und kalorienfrei.

Das liegt an ihrer im Labor erzeugten Struktur: Ihre Moleküle binden im Vergleich zu Zuckermolekülen besser oder länger an die Rezeptoren für Süsses auf unserer Zunge und sorgen so für einen intensiven Reiz. Sie können vom Körper aber nicht verstoffwechselt werden, weshalb sie ihm keine Energie liefern. Entsprechend beliebt sind sie in der Industrie.

Süssstoffe landen in kalorien- und zuckerreduzierten sowie zuckerfreien Produkten, die oft mit Begriffen wie «zero» und «light» gekennzeichnet sind. Sind das die Codewörter für Genuss ohne Reue? Bieten solche Produkte einen eleganten Ausweg für eine zuckersüchtige Gesellschaft, die mit Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen kämpft?

Zu viel Süsses jeden Tag

«Ganz so einfach ist es leider nicht», sagt Philipp Schütz, Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission und Leiter der Medizinischen Universitätsklinik am Kantonsspital Aarau. Zwar steige der Konsum von Süssstoffen in der Schweiz, aber der Zuckerkonsum sinke deshalb nicht. Hierzulande liegt der Konsum weit über dem europäischen Durchschnitt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt höchstens 25 bis 50 Gramm Zucker pro Tag, die Schweizer nehmen im Durchschnitt mehr als das Doppelte davon zu sich – bis zu 112 Gramm pro Tag.

«Wir haben ein gewaltiges Zuckerproblem, das eng mit Übergewicht und gesundheitlichen Problemen verknüpft ist», sagt der Ernährungsmediziner. Süssstoffe haben daran bislang nichts geändert. Vielleicht haben sie das Problem sogar befeuert: «Süssstoffe könnten dazu beitragen, dass wir extrem auf Süsses gepolt sind und insgesamt zu viel davon konsumieren.»

Ob und wie genau die Substanzen unser Geschmacksempfinden und die Appetitwahrnehmung beeinflussen, ist eine von vielen offenen Forschungsfragen zu dem Thema. Zwar punktet die Süsse aus dem Labor im direkten Vergleich mit Zucker, weil sie weder Kalorien liefert noch Karies verursacht und den Blutzucker nicht beeinflusst. Gesund macht sie das aber noch lange nicht.

Schütz verdeutlicht das mit einem Beispiel: «Eine Cola light ist zwar die bessere Wahl als eine Cola. Aber beides ist im Vergleich zu Wasser oder ungesüsstem Tee ungesund.» Das liegt zum Beispiel an der enthaltenen Säure, die den Zahnschmelz angreift, oder am Phosphat, das die Aufnahme von Calcium hemmt.

Kurzum: Süssstoffe machen aus ungesunden keine gesunden Lebensmittel und aus schlechten Ernährungsgewohnheiten keine guten. Dass viele Verbraucher den Hinweis «zuckerfrei» mit «gesund» assoziierten und in der Folge bedenkenlos grössere Mengen pappsüssen Eistee oder Light-Softdrinks zu sich nähmen, mache die Sache nicht besser.

Viele offene Fragen rund um die Auswirkungen von Süssstoffen

Zu den Langzeiteffekten von Süssstoffen ist die Datenlage dünn und widersprüchlich. Diskutiert wird zum Beispiel ein Einfluss von Süssstoffen auf das Mikrobiom des Darms, aber auch auf Krebs, neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz sowie Gefäss-, Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Auch die Frage, ob Süssstoffe die Entstehung einer Insulinresistenz und damit Diabetes begünstigen könnten, steht im Raum. Immer wieder gibt es alarmierende Schlagzeilen dazu. In letzter Zeit stand dabei häufig ein bestimmter Süssstoff im Fokus, wie eine Auswahl von Schlagzeilen aus dem vergangenen Monat zeigt: «Aspartam kann Blutgefässe verengen», heisst es etwa, oder: «Aspartam erhöht Insulinwerte.»

Martin Smollich, Professor am Institut für Ernährungsmedizin der Universitätsklinik Lübeck, plädiert diesbezüglich für mehr Gelassen- und Differenziertheit. «Alle in Europa verwendeten Süssstoffe wurden vor ihrer Zulassung geprüft, sind in normalen Verzehrmengen unbedenklich und im Vergleich mit Zucker häufig die bessere Alternative», sagt er. In unserer hochkalorischen, zuckersüssen Umgebung und angesichts der vielen Erkrankungen, die mit Übergewicht assoziiert seien, hätten sie also durchaus ihre Berechtigung. «Das gilt auch für Aspartam», sagt er.

Das Beispiel verdeutlicht, warum man es sich ebenfalls zu einfach macht, wenn man Süssstoffe verteufelt. Man muss schon genauer hinsehen – etwa, wenn es um den Vorwurf geht, dass Aspartam krebserregend sei.

Tatsächlich hat die WHO den Süssstoff zwar als «möglicherweise krebserregend» eingestuft, und einige Organisationen fordern deshalb sein Verbot. Dazu müsse man aber wissen, was diese Einstufung bedeute, erklärt Smollich und erläutert: «Aspartam ist in Stufe 2B gelistet, zusammen mit einer Reihe von anderen Stoffen, für die es keine Nachweise, sondern nur die theoretische Möglichkeit auf eine krebserregende Wirkung gibt.»

Kaffeesäure zum Beispiel ist in der gleichen Gruppe, obwohl Kaffeekonsum das Krebsrisiko nachweislich nicht erhöht. Das in Basilikum enthaltene Methyleugenol ist sogar eine Stufe höher eingestuft. «Das bedeutet aber nicht, dass Basilikum krebserregend ist», erklärt der Ernährungswissenschafter, «denn die Mengen, in denen Methyleugenol gesundheitlich bedenklich ist, kann man mit normaler Ernährung nicht annähernd erreichen.» Wie für viele Stoffe gelte: Die Dosis mache das Gift.

«Ich will Süssstoffe keinesfalls als besonders gesund darstellen», betont Smollich, «aber man sollte die Risiken nüchtern betrachten. Zumal sich nicht alle der elf in Europa zugelassenen Süssstoffe über einen Kamm scheren lassen. Sucralose und Saccharin etwa stehen im Verdacht, sich negativ auf das Mikrobiom auszuwirken. Aspartam oder Steviaglykoside scheinen diesbezüglich unproblematisch zu sein.

Sein Fazit lautet daher: «Aus toxikologischer Sicht sind Süssstoffe in normalen Verzehrmengen unbedenklich. Aus ernährungsmedizinischer Sicht würde ich sie trotzdem eher vermeiden – weil in einer gesunden Ernährung weder Zucker noch Süssstoffe viel Platz einnehmen sollten.»

Was also bedeutet das für die Praxis? Für gesunde und normalgewichtige Erwachsene raten Smollich und Schütz zu einem entspannten Umgang mit Süssstoffen. Wenn es mal eine Cola sein soll, ist die Light-Variante die bessere, damit lassen sich gut Kalorien einsparen. Auch für übergewichtige Menschen und Diabetiker sind sie eine gute Option, wenn es einmal etwas Süsses sein soll. Schliesslich hat Essen nicht nur mit Gesundheit, sondern auch mit Genuss zu tun.

Für alle Gruppen gilt aber: Süsses sollte in einer gesunden Ernährung eher die Ausnahme sein, ein Freifahrschein sind Süssstoffe nicht. «Zumal sie es nicht leichtermachen, von der starken Geschmacksprägung für Süsses loszukommen», sagt Schütz.

Eignen sich Süssstoffe für Kinder?

Und was ist mit Kindern? In den USA hat sich der Süssstoffkonsum bei Kindern seit dem Jahr 2000 verdreifacht. In Europa entwickelt sich der Konsum in eine ähnliche Richtung. Wohl auch, weil Eltern als zuckerfrei oder zuckerarm deklarierte Produkte oft als gesund einstufen.

Sandra Hummel vom Institut für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum in München sieht das kritisch. Auch sie betont, dass es noch zu wenige Erkenntnisse zu den Langzeiteffekten gebe – und dass Kinder besonders geschützt werden sollten. Man habe etwa festgestellt, dass Kinder die akzeptable Dosis des Süssstoffs Cyclamat gelegentlich überschritten, wenn sie vor allem damit gesüsste Getränke konsumierten.

Auch bezüglich Aspartam ist Vorsicht geboten: «Für Kinder mit der angeborenen Stoffwechselstörung Phenylketonurie kann es lebensgefährlich werden, Aspartam-haltige Lebensmittel zu verzehren», sagt Hummel, denn sie können Phenylalanin, einen Bestandteil von Aspartam, nicht abbauen. Wenn sich die Substanz in der Folge im Körper anreichert, können neurologische Schäden, Epilepsie oder Entwicklungsstörungen drohen.

Um den Einfluss von Süssstoffen auf die Gesundheit besser zu verstehen, brauchen Wissenschafter präzisere Daten. Es ist kaum untersucht, welche Arten von Süssstoffen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in welchen Mengen verzehrt werden. Das wäre aber nötig, um wichtige Fragen zu klären: Wie beeinflusst der Süssstoffkonsum die tägliche Energiezufuhr, das Gewicht, den Appetit und die Geschmacksvorlieben? Erschwert es die starke Prägung auf Süsses, einen vielseitigen Geschmack und einen gesunden Ernährungsstil zu entwickeln?

Am Ende bleiben also mehr Fragen als Antworten – und die Erkenntnis, dass es zumindest aus gesundheitlicher Sicht keine Süsse ganz ohne bittere Aspekte zu geben scheint.

Ein Artikel aus der «»

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