In Wuhan wurden die ersten Corona-Infizierten entdeckt. Fünf Jahre nach Ausrufung des Lockdowns hat sich die chinesische Stadt noch nicht von der Krise erholt.
Am Ursprungsort des Coronavirus riegelt ein hellblauer Sichtschutz das Gelände ab. Der Huanan-Meeresfrüchte-Grosshandelsmarkt sei umgezogen, nur dreissig Autominuten entfernt, heisst es auf einem grossen Werbeplakat.
Als sich Ende 2019 im Umfeld des Marktes Fälle einer neuartigen Lungenkrankheit häuften, versuchten die lokalen Behörden zunächst, den Ausbruch zu vertuschen. Am 23. Januar 2020 riegelten sie Wuhan ab. Die knapp 13 Millionen Einwohner der zentralchinesischen Stadt mussten fast zweieinhalb Monate in ihren Wohnungen ausharren. Doch der Lockdown konnte die Pandemie nicht aufhalten. Weltweit starben fast sieben Millionen Menschen. Wie das Virus, das den Namen Sars-CoV-2 erhielt, auf den Huanan-Markt gelangt war, ist bis heute ungeklärt.
«Frag jemand anderen»
Die meisten Wuhaner wollen die Pandemie am liebsten vergessen. Das zeigt sich bei einem Besuch des über der verbarrikadierten Huanan-Grossmarkthalle gelegenen Brillenmarkts. Ein Laden reiht sich dort an den nächsten, in den Auslagen werden Brillengestelle in allen Farben und Formen gezeigt.
Kunden sind an diesem Nachmittag kaum zu sehen. Eine Angestellte sitzt auf einem Plastikhocker vor einem Laden und schlürft aus einem Topf Fertignudelsuppe. Verkäufer versuchen, Besucher in ihre Shops zu locken – bis auffällt, dass es sich nicht um normale Passanten handelt. «Waiguoren», «Ausländer», zischt eine Frau ihren Kollegen zu.
Gefragt nach dem Corona-Ausbruch vor fünf Jahren, sagt eine Verkäuferin nur, sie wolle nicht über diese Dinge sprechen. Sie interessiere sich nur für ihr Geschäft. Das laufe schlechter als früher. Es gebe weniger Laufkundschaft. In einem anderen Laden weist der Verkäufer auf die Türe. «Frag jemand anderen», knurrt er unwirsch.
Ein Mitarbeiter des Brillenmarkts folgt der Reporterin auf Schritt und Tritt und hört die Gespräche mit den Angestellten mit. Draussen vor dem Markt fotografiert ein schwarz gekleideter Mann mittleren Alters die Interviews mit den Passanten.
In der Volksrepublik wird die Pandemie heute totgeschwiegen. Viele verdrängen die Erinnerung an die strikten Null-Covid-Massnahmen und teilweise monatelangen Lockdowns. In China sei es nicht üblich, lange über die Vergangenheit nachzudenken, sagt die deutsche Ärztin Silja Zhang, die in Wuhan lebt und arbeitet. Viele hätten die Pandemie abgehakt und konzentrierten sich darauf, wieder Geld zu verdienen. Zhang hat den Lockdown 2020 miterlebt. Als eine der wenigen Ausländerinnen harrte sie in der Stadt aus.
Ihr ist vor allem noch die Lebensmittelknappheit und das «Gefühl des Eingesperrtseins» in Erinnerung geblieben. Trotz der schwierigen Zeit habe es in Wuhan Verständnis für den ersten Lockdown gegeben, um das neue, hochansteckende Virus einzudämmen. Mehrere ihrer Kollegen am Tongji-Spital seien schwer erkrankt. Der amerikanische Präsident Donald Trump kritisierte China damals scharf für den Umgang mit der Pandemie. Er sprach vom «chinesischen Virus» und drohte, die Volksrepublik müsse einen «hohen Preis» für den Ausbruch der Pandemie bezahlen.
Ende Dezember 2024 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) China erneut dazu aufgefordert, Daten über den Ursprung der Corona-Pandemie verfügbar zu machen. Dies sei ein «moralisches und wissenschaftliches Gebot». Zwar hatte eine Gruppe internationaler Gesundheitsexperten unter Führung der WHO und Chinas Anfang 2020 in Wuhan recherchiert. Sie kam zu dem Schluss, dass das Virus wahrscheinlich natürlichen Ursprungs sei. Der Bericht wurde jedoch vom WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus kritisiert, weil den Wissenschaftern Rohdaten vorenthalten worden seien. Diese Woche hat Trump als eine seiner ersten Amtshandlungen der zweiten Präsidentschaft den Austritt aus der WHO erklärt. Die USA sind mit Abstand der grösste Geldgeber der WHO.
Chinas Führung verhindere eine unabhängige Untersuchung «aus Unsicherheit darüber, wohin eine Untersuchung führen könnte, und aus Frustration darüber, dass die internationale Gemeinschaft die Angelegenheit dazu nutzt, politischen Druck auf China auszuüben», heisst es in einem amerikanischen Geheimdienstbericht, der 2023 freigegeben wurde. Die Mehrheit der Nachrichtendienste in den USA gehe davon aus, dass das Virus auf natürliche Weise übertragen worden sei, fasst der Bericht verschiedene Untersuchungen zusammen. Lediglich das amerikanische Energieministerium hält einen Laborunfall für wahrscheinlich.
Die Labore des Wuhan Institute of Virology befinden sich etwa dreissig Autominuten vom Huanan-Markt entfernt. Das Forschungsinstitut gilt als eine der führenden Einrichtungen zur Erforschung von Coronaviren. Es hat die höchste von vier Schutzstufen. Viele Chinesen seien darüber verärgert gewesen, dass es nach Sars erneut zu einem Pandemieausbruch habe kommen können, weiss Ärztin Zhang. Denn eigentlich hatte die Staatsführung als Lehre aus der Sars-Pandemie 2003 ein Frühwarnsystem eingerichtet.
Doch dieses versagte, auch weil lokale Kader versuchten, den Ausbruch zu vertuschen. Hinweisgeber wie der Augenarzt Li Wenliang, die früh vor dem neuen Virus warnten, wurden bestraft. Ihnen wurde vorgeworfen, Falschinformationen im Internet zu verbreiten. Li starb im Januar 2020 an den Folgen einer Corona-Infektion.
Auch während des Lockdowns wurden Berichte von Betroffenen schnell zensiert, wie das berühmte Online-Tagebuch der Schriftstellerin Fang Fang. Hinweise auf Behördenwillkür und unmenschliche Behandlung löschten die Zensoren ebenfalls. Unmutsäusserungen über Polizisten, die Lebensmittel für ihre Verwandten abzweigten, oder über Schweinefleisch, das in Fahrzeugen der Kehrichtabfuhr zu den Eingesperrten transportiert wurde, verschwanden.
Als «extremen Stresstest» für die Gesellschaft bezeichnet Li Xueyuan die Pandemie. Der frühere Ökonom betreibt inzwischen ein Reisebüro in Wuhan. Er vergleicht den Lockdown mit dem Gefangensein in einem Taubenschlag. Doch die meisten Chinesen liessen die strikten Massnahmen damals über sich ergehen. Selbst als der Lockdown in Wuhan nach zweieinhalb Monaten aufgehoben wurde, hinderten die Behörden die Hinterbliebenen daran, die Gräber der Verstorbenen am Totengedenktag Qingming im April zu schmücken. «Sie haben uns nicht erlaubt zu weinen», sagt Li. Alles habe dazu gedient, «die Sicherheit aufrechtzuerhalten».
In Wuhan habe sich erst gegen den zweiten grossen Lockdown Ende 2022 Widerstand geregt, berichtet die Medizinerin Zhang. Während die meisten anderen Länder zu jenem Zeitpunkt die Einschränkungen für die Bevölkerung bereits aufgehoben hatten, hielt Chinas Staatsführer Xi Jinping an der strikten Null-Covid-Politik fest. Wie in zahlreichen anderen Städten gingen auch in Wuhan die Menschen auf die Barrikaden. «Den Leuten ist das Geld ausgegangen», sagt die Deutsche.
Kurz nach den Protesten wurden die strikten Regeln im Dezember 2022 über Nacht aufgehoben. Es folgte eine Corona-Welle unvorstellbaren Ausmasses. Eine offizielle Zahl der Todesfälle wurde nie veröffentlicht. Experten gehen von mehr als einer Million Opfern aus.
Bis heute leiden Wirtschaft und Gesellschaft an den Spätfolgen der Pandemie. Die wirtschaftliche Situation sei «sehr ernst», sagt Li. Mit seinem Reisebüro habe er drei Jahre lang keine Einkünfte gehabt. Aus Unsicherheit über die künftige wirtschaftliche und politische Entwicklung seien viele private Unternehmer gezwungen abzuwarten.
Die Privatwirtschaft sorgt jedoch für mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts und mehr als 80 Prozent der Arbeitsplätze in den Städten. Die Firmen würden keine staatliche Unterstützung brauchen, sondern eine Lockerung des staatlichen Griffs, meint Li.