Sonntag, November 24

Das weltberühmte Tanztheater Wuppertal feiert sein 50-jähriges Bestehen und begibt sich mit Boris Charmatz auf neues Terrain. Der französische Starchoreograf soll das Werk Pina Bauschs pflegen und Neues schaffen – ein schwieriger Spagat.

Das sind zwei Radikale, die sich eigentlich beissen müssten: Pina Bausch, die grosse Ikone des deutschen Tanztheaters, und Boris Charmatz, einer der Pioniere des französischen Konzepttanzes. Sie hat die Grenzen von Tanz und Theater niedergerissen, hat Tänzer singen, Tänzerinnen schreien lassen, Collagen geformt, statt dass sie Geschichten erzählt hat. Er hat die Grenzen des Tanzbaren ausgelotet, ebenso die Grenzen der Orte für den Tanz und damit die Perspektiven verschoben. Sie hat Begehren und Geschlechterkampf auf die Bühne gebracht, gemäss ihrem Diktum, sie interessiere nicht so sehr, wie sich Menschen bewegten, sondern vielmehr das, was sie bewege. Er bewegt Menschen im Raum, rennend, stolpernd, kriechend, in Flächen und Schichten. Wo Pina Bausch sich in emotionale Tiefen fragte, strukturiert Boris Charmatz, schichtet um.

Es war 1973, als Pina Bausch die Ballettdirektion an den Städtischen Bühnen in Wuppertal übernahm und ihre Kompanie in «Tanztheater Wuppertal» umtaufte. In der Folge hat sie den europäischen Tanz so umfassend verändert wie kaum ein Choreograf vor und nach ihr. Bis heute füllen Gastspiele mit ihren Arbeiten die Theater, und zwar rund um den Globus. Im selben Jahr wurde Boris Charmatz in Chambéry geboren – sein Vater hatte als jüdisches Flüchtlingskind den Holocaust in der Schweiz überlebt. Heute ist Charmatz Intendant des Tanztheaters Wuppertal. Und auf seinen Schultern lastet die schwere Aufgabe, das Erbe von Pina Bausch und ihre Kompanie in die Zukunft führen.

Der französische Choreograf wurde von einer international zusammengesetzten Findungskommission ausgewählt, in der auch das Ensemble vertreten war. Nach Pina Bauschs Tod 2009 hatte sich das Tanztheater Wuppertal unter verschiedenen Leitungen aus ehemaligen Tänzern und Dramaturginnen insbesondere der Pflege des künstlerischen Erbes gewidmet – viel Neues aber ist nicht entstanden. Mit einem Choreografen an der Spitze soll sich das nun ändern.

Weitergabe durch Mitwirkende

Über das Erbe wacht eigentlich der Sohn der Choreografin, Salomon Bausch, mit der von ihm gegründeten Pina Bausch Foundation. Sie hält die Rechte an den choreografischen Arbeiten und pflegt das Archiv der Künstlerin. Wer die Kunst Pina Bauschs erbt, erbt freilich auch die Kunst der Tänzerinnen und Tänzer, mit denen die Choreografin ihre Stücke jeweils in engster Zusammenarbeit entwickelt hat.

Und zwar in charakteristischer Weise: Sie hat Fragen gestellt, und die Tänzerinnen und Tänzer haben darauf mit kleinen Szenen geantwortet, aus denen Pina Bausch schliesslich ihre wundersamen Collagen formte. Viele Parts sind in ihren Arbeiten deshalb stark an die einzelnen Künstlerpersönlichkeiten gebunden – die Darstellenden rufen sich auf der Bühne beim Vornamen.

Mittlerweile werden die Stücke an Tänzerinnen und Tänzer übergeben, die nie mit Pina Bausch persönlich zusammengearbeitet haben. Diese künstlerische Weitergabe geschieht durch Mitwirkende bei der Uraufführung, wie Salomon Bausch erklärt, zunehmend aber auch mit Jüngeren, die bereits selber Teil der Tradition geworden sind, um auf diese Weise «den Wissenstransfer herzustellen.»

Das erste Stück, das man am Tanztheater Wuppertal unter dem Direktor Boris Charmatz neu einstudierte, war im Januar 2023 «Café Müller», in dem Pina Bausch bis zu ihrem Tod selbst aufgetreten ist. Wer kann sie ersetzen? Die feingliedrige Taylor Drury? Die muskulösere Naomi Brito? Für Boris Charmatz ist das ein Lehrstück für die weiteren Einstudierungen: «Es ist ein Stück, das man ohne die ursprünglichen Darstellenden wie Dominique Mercy, Malou Airaudo, Pina Bausch fast nicht machen kann. Aber das Stück ist so stark, dass wir es machen müssen, selbst wenn wir etwas verloren haben.»

An ein Tabu gerührt

Charmatz hat inzwischen angefangen, seine eigene Handschrift einzubringen. Auf der neuen Website steht neben dem Namen «Tanztheater Wuppertal Pina Bausch» jetzt «Terrain Boris Charmatz», der Name seiner französischen Produktionsstruktur. Im September hat er im Mariendom von Neviges, nördlich von Wuppertal, «Liberté Cathédrale» kreiert, ein raues Stück in wuchtigem Betonraum, mit Tanztheater-Tänzern und Gästen. Unlängst hat er Pina Bauschs «Café Müller» von 1978 mit zwei seiner frühen Arbeiten aus den 1990er Jahren zum Abend «Club Amour» verbunden.

Damit hat er an ein Tabu gerührt. Nicht, weil die Tänzer in «Aatt enen tionon» halbnackt tanzen und er selbst in «Herses, duo» ganz nackt. Vielmehr deshalb, weil er sein eigenes künstlerisches Erbe so selbstverständlich neben ein Schlüsselwerk Pina Bauschs stellte – dorthin, wo bislang fast immer ein anderes Schlüsselwerk von Bausch stand, «Das Frühlingsopfer» von 1975 nach «Le sacre du printemps» von Igor Strawinsky. Das Tanztheater Wuppertal hatte «Café Müller» seit den frühen 1980er Jahren zusammen mit Pina Bauschs «Sacre»-Version als Doppelabend aufgeführt und in dieser Koppelung in zahlreiche Länder auf der ganzen Welt gebracht.

«Ich mag den Gedanken, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eng miteinander verwoben sind und sich nicht voneinander trennen lassen», sagt Boris Charmatz im Gespräch. «Mich interessiert, wie wir in der Gegenwart und in Zukunft mit und an der Vergangenheit arbeiten können, also am Erbe Pina Bauschs. Aber ich bin auch nach Wuppertal gekommen, um mit dem Ensemble des Tanztheaters und Gästen neue Stücke zu schaffen. Und natürlich bin ich auch mit einer eigenen Geschichte gekommen und möchte diese nicht zurücklassen.» Zwei unterschiedliche künstlerische Handschriften und Ansätze konstruktiv und für alle Seiten gewinnbringend zu verbinden, stelle für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung dar. «‹Liberté Cathédrale› war ein erster Schritt in diese Richtung», erklärt Charmatz.

Aufgebrochen hat das Tanztheater Wuppertal das bewährte Doppelpack bereits im Januar 2023 in einer bemerkenswerten Zusammenarbeit mit der Pina Bausch Foundation. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte teilte sich die Kompanie einen Abend mit einer anderen Kompanie. Die Wuppertaler präsentierten «Café Müller» in neuer Besetzung, während «Das Frühlingsopfer» von jungen Tänzerinnen und Tänzern aus vierzehn afrikanischen Ländern getanzt wurde.

Beide Stücke erschienen plötzlich in anderem Licht. Das Zittern der afrikanischen Frauen, das Zähneklappern, der Schmerz, die Wut – das wirkte intensiver noch, als man es im «Frühlingsopfer» mit europäischen Kompanien gesehen hatte. Die Angst der Frauen zielte mitten in unsere Zeit hinein. In «Café Müller» dagegen prallten Mann und Frau weniger heftig aufeinander, als man dies aus vorangegangenen Einstudierungen in Erinnerung hatte. Dafür wurden gesellschaftliche Strukturen deutlicher: Ein Sittenbild schien auf, aus dem Deutschland der frühen 1950er Jahre. Dieses «Café Müller» war weniger ein Klub der Begehrenden als eine Zusammenkunft von Traumtänzern, die alle auf je eigene Weise zu vergessen suchten.

«Das ist magisch»

Es war ein programmatischer Abend, der – wie jetzt «Club Amour» von Boris Charmatz – einen weiteren Weg in die Zukunft für das Erbe der Pina Bausch zeigte: die Weitergabe der Stücke an andere Kompanien. «Mit diesem eigens für diese Produktion zusammengekommenen Ensemble bekommt ‹Das Frühlingsopfer› noch einmal ein anderes Leben. Wir haben das auch bei der Einstudierung von ‹Kontakthof› mit der Pariser Oper erlebt», erzählt Salomon Bausch.

2016 hat die Pina Bausch Foundation angefangen, Stücke an verschiedene Kompanien zu geben – zu Lebzeiten der Choreografin hatte lediglich das Ballett der Pariser Oper Arbeiten von Pina Bausch getanzt. «Als ich vor vierzehn Jahren die Stiftung gründete, hätte ich nicht darauf gewettet, dass das Tanztheater Wuppertal heute noch existieren würde», bekennt Salomon Bausch. «Man konnte nicht wissen, wie lange sich die Leute noch so für das Werk interessieren würden, dass die Kompanie weiterhin gefördert würde. Ohne meine Mutter hätte das auch implodieren können.»

Boris Charmatz spricht sogar von einem Wunder: «Pina Bausch starb, und während vierzehn Jahren führte die Kompanie die Arbeit an ihrem Repertoire weiter, mit neuen Tänzerinnen und Tänzern – und unter fünf verschiedenen Direktoren. Andere Kompanien wären unter dem Kommen und Gehen der Direktoren zusammengebrochen. Das Werk und die Kompanie aber sind so stark. Das ist magisch.»

Neben dem Werk hat Boris Charmatz die Wuppertaler Tänzer geerbt. Auch wenn nicht mehr viele Mitglieder des Ensembles selbst mit Pina Bausch gearbeitet haben, unterscheiden sie sich noch heute von Tänzern anderer Kompanien. In Charmatz’ «Liberté Cathédrale» wälzen sie sich mit den Gästen aus seinem früheren Umfeld am Boden, rennen durch den Raum des Mariendoms in Neviges, schwitzen, kämpfen sich ab – so hat man Bausch-Tänzer noch nie tanzen sehen. Insbesondere die älteren, Aida Vainieri, Michael Strecker, Julian Stierle, wachsen förmlich über sich hinaus – die jüngeren ohnehin.

Gleichzeitig bringen sie eine Theatralik und eine Emotionalität in diese stets wechselnden Menschenflächen hinein, die sich in tiefere psychologische Schichten graben – wie man das umgekehrt auch in einem Charmatz-Stück noch nie gesehen hat. Das hat Potenzial. Zum Scheitern, aber auch für Höhenflüge. Die ersten hat man gerade erlebt.

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