Mittwoch, Oktober 2

Sie verabreichten ihrer dreijährigen schwerbehinderten Tochter im Mai 2020 einen Cocktail aus Drogen und Medikamenten und erstickten sie. Die Eltern hätten das nicht aus besonderer Skrupellosigkeit getan, sondern aus emotionaler Überforderung, urteilte das Gericht.

Tränen flossen an diesem letzten Verhandlungstag am Bezirksgericht Bremgarten nur vonseiten der Grossmutter, als sie vom Vorwurf der Gehilfenschaft zu Mord an ihrer Enkelin freigesprochen wurde. Anders geht das Urteil für die Eltern der dreijährigen Sophie* aus: Die 32-jährige Mutter und der 34-jährige Vater wurden am Freitag wegen der versuchten vorsätzlichen Tötung und der vorsätzlichen Tötung zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Die gebürtigen Deutschen werden für zehn Jahre der Schweiz verwiesen und haben die Verfahrenskosten zu tragen.

Das Mädchen war am Abend des 6. Mai 2020 auf der Brust seiner Mutter gestorben, erstickt durch die Hände seiner Eltern. Zuvor hatten sie dem schwer behinderten Mädchen in der Familienwohnung in Hägglingen einen Cocktail verabreicht, um es zu betäuben und einschlafen zu lassen. Dafür zerkleinerte der Vater ein Gramm der Partydroge MDMA (Ecstasy) zu Pulver und löste es zusammen mit dem Schlafmittel Zolpidem in Wasser auf, ehe er das Gemisch in den Schoppen seiner Tochter füllte.

Die Mutter gab etwas Babymilchpulver und ein halbes Glas Erdbeerbrei dazu und flösste ihrem Kind das Gemisch ein. Als das Mädchen nach einiger Zeit zwar wohl berauscht, aber noch immer bei Bewusstsein war, setzte sich die Mutter mit ihrer Tochter auf dem Schoss auf die Couch ins Wohnzimmer. Sophie lag auf der Brust ihrer Mutter, als der Vater ihr ein Geschirrtuch über Mund und Nase legte und ihr mit der Hand die Luft abdrückte. Die Mutter legte dabei ihre eigene Hand auf die seine, bis das Herz ihrer Tochter nicht mehr schlug.

Danach legten die Eltern das tote Kind in dessen Bett, entsorgten die Utensilien und warteten bis frühmorgens um 4 Uhr 28, um den Sanitätsnotruf zu wählen.

Es war weder Mord noch Totschlag

Das Urteil liegt weit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten, die achtzehn Jahre Freiheitsentzug und einen Landesverweis von fünfzehn Jahren für die Eltern sowie eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren und einen ebenso langen Landesverweis für die Grossmutter gefordert hatte.

Das Schicksal und die Krankengeschichte von Sophie machten traurig, sagte die Richterin bei der Urteilsverlesung. Die Eltern hätten viel durchgemacht. «Es ist für das Gericht nachvollziehbar, dass Sie an Grenzen gestossen sind, dass Sie am Ende Ihrer Kräfte waren und auch, dass Sie Verzweiflung, Frustration und Wut wegen der Situation empfanden», sagte sie an die Beschuldigten gerichtet. Nicht nachvollziehbar sei hingegen, dass diese nicht mehr Unterstützung angenommen hätten. So hatten die Eltern etwa eine Operation für die Einsetzung einer Magensonde, welche die Nahrungsaufnahme ihrer Tochter verbessert hätte, kurzfristig abgesagt. Auch hatte sich die Mutter geweigert, die Tochter zeitweise extern betreuen zu lassen. «Stattdessen haben Sie sich dafür entschieden, das Leben Ihrer Tochter auszulöschen.»

Im Raum stand die Frage, ob die Tat aus Überforderung und Ohnmacht, gar aus Liebe geschah, weil die Eltern ihr Kind «erlösen» wollten – oder aus Egoismus und Skrupellosigkeit, weil ihnen das Kind zur Last gefallen war.

Für das Bezirksgericht Bremgarten war die Tötung von Sophie kein Totschlag, worauf die Verteidigung plädiert hatte. Die gesundheitliche Verfassung des Mädchens sei zwar eine seelische Belastung gewesen, der Leidensdruck jedoch nicht von einer Dauer und einem Ausmass, dass die Eltern keinen anderen Ausweg mehr gesehen hätten. Das Gericht stufte die Tat aber auch nicht als Mord ein. Dafür habe die besondere Skrupellosigkeit gefehlt. Zwar hätten die Eltern ungenügende Abklärungen getroffen, wie die Partydroge MDMA auf ein Kleinkind wirken könne. «Sie haben aber glaubhaft dargelegt, dass Sie für Sophie einen schönen Tod wollten und dass Sie darauf vertraut hatten, dass dies mit MDMA möglich ist», sagte die Richterin.

Die Staatsanwaltschaft hatte die Tat als Mord qualifiziert. Die Eltern seien mit der zeitintensiven Betreuung ihrer Tochter spätestens ab Herbst 2019 völlig überfordert gewesen, weshalb sie diese hätten loswerden wollen, hatte die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift festgehalten. Sie hätten dabei besonders skrupellos, grausam und heimtückisch gehandelt, «unter extremer Geringschätzung des Lebens des Opfers».

Eine gänzlich andere Version der Vorkommnisse hatten die Verteidiger der Eltern geschildert. Sie hätten ihrer Tochter helfen und sie von unvorstellbaren Schmerzen erlösen wollen. Sophie war mit einer schweren Zerebralparese auf die Welt gekommen, einer Fehlbildung des Gehirns, verursacht wohl durch eine Infektion während der Schwangerschaft. Schlucken bereitete Sophie Schmerzen, gehen oder sprechen konnte sie nicht. Sie litt unter Krampfzuständen und Schlafstörungen. Rund um die Uhr musste sie betreut oder unterstützt werden. «Ich habe meine Tochter nicht ermordet, ich habe ihr geholfen», hatte die Mutter ausgesagt. Er fühle sich weder skrupellos noch als Mörder, hatte der Vater am ersten Verhandlungstag gesagt.

«In diesem tragischen Fall gibt es nicht Gut und Böse, Schwarz und Weiss»

«In diesem tragischen Fall gibt es nicht Gut und Böse, Schwarz und Weiss», sagte die Richterin bei der Urteilsverkündung. Sie sprach von emotionaler Überforderung. Das Kind sei nicht getötet worden, weil es schlicht lästig geworden sei, genauso wenig aber nur aus Liebe und Mitleid. «Die Wahrheit ist vielschichtiger.» Die Grossmutter habe bei der Einvernahme eine treffende Aussage gemacht. Auf die Frage, weshalb Sophie sterben musste, sagte sie: «Weil die Eltern das Leid nicht mehr ertragen konnten.»

Als straferhöhend gewichtete das Gericht unter anderem die Ausnützung der Abhängigkeit von Sophie von ihren Eltern. Strafmindernd wirkte sich die schwere Betroffenheit der Eltern aus.

Der Grossmutter konnte keine genügende Beihilfe zur Tat nachgewiesen werden. Sie hatte ein enges Verhältnis mit ihrer Tochter gepflegt und war im März über das Vorhaben informiert worden, ihre Enkelin zu töten. In einer Whatsapp-Nachricht wies sie ihren Schwiegersohn noch darauf hin, dass dabei keine Fehler passieren dürften. Das Gericht hätte von ihr erwartet, «dass Sie als Grossmutter das Unrecht eines solchen Tötungsplanes erkannt und alles darangesetzt hätten, die Tötung zu verhindern», sagte die Richterin. Dass sie dies nicht gemacht habe, sei allenfalls von moralischer, aber nicht von strafrechtlicher Relevanz.

Chloroform und K.-o.-Tropfen waren schwer zu besorgen

Bereits im Oktober 2019 war es zu einem ersten Mordversuch gekommen. Erst wollte das Paar Chloroform besorgen. «wir machen uns noch schöne weihnachten und dann . . worauf sollen wir warten? Es wird nicht leichter oder besser . . okay», schrieb die Mutter an ihren Partner. Schliesslich verabreichten sie der gemeinsamen Tochter eine Überdosis des Schlafmittels Benocten. Der Plan ging schief, das Kind überlebte.

Dann kam der Vater auf K.-o.-Tropfen. Er hatte einen TV-Beitrag des deutschen Wissenschaftsmagazins «Galileo» gesehen, in dem ein Arzt gesagt habe, dass man bei einer Überdosis «glücklich einschläft». Weil er auch diese Substanz nicht besorgen konnte, fand er im Internet eine Lösung: Eine Überdosis MDMA, in Wasser aufgelöst, versprach dieselbe Wirkung. Drei Monate vor der Tat holte der Vater das Ecstasy in Frankfurt am Main bei einem Freund, weshalb er am Freitag auch wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt wurde.

«Jedes menschliche Leben ist gleichwertig und in gleichem Masse zu schützen»

Viel sei in diesen Tagen darüber geschrieben worden, wie die Tötung eines schwer behinderten Kindes einzustufen sei, sagte die Richterin. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichtes, einen ethisch-moralischen Diskurs darüber zu führen. «Dennoch müssen wir uns vor Augen halten, dass dem schweizerischen Gesetz der Grundsatz zugrunde liegt, dass jedes menschliche Leben gleichwertig und in gleichem Masse zu schützen ist.» Und, an die Angeklagten gerichtet: «Sie hatten nicht das Recht zu entscheiden, ob ihr Leben lebenswert ist.»

Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Sie können ans Obergericht des Kantons Aargau weitergezogen werden.

* Name geändert.

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