Mittwoch, Januar 15

Am 20. Februar 1994 in Lillehammer bescheren Weder/Acklin dem Schweizer Bobsport eine Sternstunde, wie dieser sie seitdem nie mehr erlebt hat. Aus dem einen, der gerne missverstanden wurde, ist gar ein Doktor geworden.

Der 20. Februar 1994 ist ein Stichtag für den Schweizer Sport. Es ist das Datum, an dem letztmals an Olympischen Spielen Schweizer Bobfahrer als Sieger ausgerufen wurden; Gustav Weder und Donat Acklin triumphierten in Lillehammer im Zweierbob. Dann begann diese nun dreissig Jahre anhaltende Dürreperiode, die erstaunt, wird doch die Schweiz gerne als «Bobnation» apostrophiert.

Klar, es gab noch einmal olympisches Gold. Aber Beat Hefti und Alex Baumann erfuhren erst mit dreieinhalb Jahren Verspätung, dass sie als Sieger der Winterspiele von 2014 gelten – den vor ihnen klassierten Russen wurde der Dopingskandal von Sotschi zum Verhängnis. Ihre Medaillen erhielten Hefti/Baumann im Sommer 2019 bei fast 30 Grad Celsius auf einer Holzbühne im Appenzellerland.

Weder/Acklin hingegen schrieben bei minus 16 Grad in Lillehammer ihr eigenes Wintermärchen. Die NZZ-Korrespondentin berichtete von einer familiären Atmosphäre an der Bahn von Hunderfossen, «als wäre Gustav Weders Heimatgemeinde Diepoldsau zweimal geschlossen nach Norwegen gereist». Und weil gleichzeitig die Schweizer Skirennfahrer ein Debakel erlitten (man denke etwa an die am Abfahrtsstart gebrochene Bindung von Franz Heinzer), notierte sie: «Allen frustrierten Skifunktionären wäre ein Aufenthalt an der Bobbahn zu verschreiben, zwecks Stärkung der Psyche. Man ist hier noch jemand als Schweizer.»

Wie Roger Federer zweimal Schweizer Fahnenträger an den Olympischen Spielen

In Lillehammer hätte es im Zweierbob beinahe zwei Goldmedaillen für das Land gegeben – und für die Aargauer Familie Acklin. Denn den zweiten Schweizer Schlitten des Piloten Reto Götschi schob Guido Acklin an, der jüngere Bruder von Donat. Die beiden Teams trennten am Ende fünf Hundertstelsekunden, bei der letzten Zwischenzeit waren sie exakt gleichauf gewesen. Götschi, der vor dem Finaldurchgang geführt hatte, war über Silber schwer enttäuscht, er sollte nie Olympiasieger werden, auch nicht später mit Schlitten aus Weders Werkstatt.

Die Experten meinten, der routinierte Weder habe im Duell mit dem überraschend aufstrebenden Götschi über mehr Wettkampfhärte verfügt. Was Weders Erfolg umso eindrucksvoller machte: Hunderfossen galt nicht als seine Lieblingsbahn. Und gegen Ende der Karriere war ihm mit dem Viererbob mehr zugetraut worden. Mit dem grossen Schlitten verpasste er in Lillehammer Gold um sechs Hundertstel – trotz drei Laufbestzeiten.

Im Jargon ist hie und da von einem «Ex-Weltmeister» die Rede, Olympiasieger hingegen bleibe man ein Leben lang, heisst es. Und dieser Titel lässt sich vermarkten, bei Bedarf bis zur Schmerzgrenze, das wussten schon die Helden von «Sapporo 1972». Weder und Acklin sind mit zweimal Gold, einmal Silber und einmal Bronze gar die vierterfolgreichsten Schweizer Winterolympioniken; vor ihnen liegen nur Simon Ammann, Dario Cologna und Vreni Schneider. Wie Roger Federer war Weder zweimal Fahnenträger an Olympischen Spielen.

Doch die beiden Bobfahrer sind mit ihren Titeln nicht hausieren gegangen, ja sie sind unterdessen aus der Öffentlichkeit nahezu verschwunden. Von Weder ist noch ein TV-Auftritt aus dem Jahr 2000 archiviert, als er in der Diskussionssendung «Arena» als Befürworter von Olympischen Spielen in der Schweiz Einschätzungen abgab. Aber sonst: Funkstille. Nun, zum 30-Jahr-Jubiläum, gelang ein Teilerfolg.

Als die NZZ Acklin kontaktiert, gibt seine Frau Auskunft. Donat habe sich im Kanton Schaffhausen selbständig gemacht; zunächst mit einer Schlosserei, dann mit einer Firma, die Häuser umbaue und verkaufe. In der Freizeit sei er gerne auf dem Töff. Über den Bobsport rede er halt nicht mehr gerne, ein Herr Mörgeli habe ihn einmal treffend charakterisiert: «Donat ist ein ungeschliffener Diamant.»

Weder erklärte sich bereit, der NZZ schriftlich zu antworten. Mit dem Hinweis, dass seine Geschichte im Feuilleton-Teil der Zeitung besser aufgehoben wäre als im Sport. Denn Bobfahren habe nur einen kleinen Teil seines Lebens ausgemacht. Im Vordergrund stünden für ihn nun die 25 Jahre Engagement in der Privatwirtschaft. Er arbeitet als Fachexperte im Bereich Organisations- und Führungskräfteentwicklung in der Personalabteilung eines global tätigen Konzerns. Seinen Lebenslauf hat er auf einer in englischer Sprache gehaltenen Website dokumentiert.

Auf die Frage, ob der 20. Februar 2024 ein Grund zum Feiern sei, entgegnet Weder: «Es ist für mich ein Arbeitstag wie jeder andere und löst wenig aus.» Er lasse seine Boberfolge bewusst nicht aufleben. Wenn dies andere täten, sei ihm wichtig, «dass sie sich an validierte Ranglisten und an den heutigen gesetzlichen Rahmen für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte halten».

Weder arbeitete neben dem Spitzensport als Aushilfsturnlehrer

Als sich Weder kurz nach Lillehammer aus dem Bobsport zurückgezogen hatte, waren einige in der Szene irritiert, weil sie fanden, er habe sich etwas radikal abgewandt. Einen Posten als Direktor im Schweizer Bobverband legte er nach wenigen Wochen nieder, als es in dieser Organisation wieder einmal zu Querelen gekommen war. Die Vorgeschichte: Graue Eminenzen hatten gemeint, Weder dürfe einen solchen Job nur übernehmen, wenn er sein Material nicht mehr an Konkurrenten aus dem Ausland verkaufe. Und es gab solche, die ihn mit der Forderung vereinnahmen wollten, er müsse dem Schweizer Bobsport etwas zurückgeben, weil er lange von diesem profitiert habe.

Dazu muss man wissen: So lukrativ kann Bobfahren für Weder nicht gewesen sein. Sein Aufwand war horrend. Er lebte wie ein Profi und führte sein Team wie einen KMU-Betrieb, mit sechsstelligem Jahresbudget. Aber die Strukturen in diesem Sport waren eher auf Amateure ausgerichtet. In der Bahn gab es fast kein Preisgeld zu gewinnen. Einmal schlossen sich in Deutschland eine Bierbrauerei, eine Kristallwarenmanufaktur und ein regionales Elektrizitätswerk zusammen, um mit ein paar tausend D-Mark den Sauerland-Cup zu stiften. Dies reichte, um Spesen zu decken.

Eine soziale Absicherung existierte nicht. Neben dem Eiskanal verdiente sich der ETH-Absolvent Weder ein Scherflein dazu als Aushilfsturnlehrer oder Konditionstrainer des EHC Arosa. Um Geld von Sponsoren zu akquirieren, half ihm Franz Julen als Manager, der heutige Verantwortliche des Ski-Weltcups am Matterhorn.

Weder teilt mit, ihm sei damals gar nichts anderes übriggeblieben, als weiterführende Studiengänge zu absolvieren, um sich und seiner Familie langfristig eine Existenz zu sichern. Und dies habe seine volle Konzentration erfordert, «ohne Halbheiten». Das sei «kein Rückzug» gewesen, sondern stehe für ihn für «Aufbruch und Erneuerung».

Der ETH-Absolvent Weder ist keiner für Kleingeistiges und ein Milieu mit einer Hire-and-fire-Politik

Zunächst studierte Weder Wirtschaftswissenschaften und Sportpsychologie an der Universität in Ottawa, dann Politik und Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität in Göttingen. Die Dissertation von 2002, die ihm den Titel des Doktors eintrug, gibt es im Buchhandel, sie trägt die Überschrift: «Optimale Handlung – am Beispiel hoher Geschwindigkeit». Ein Thema, das ihn heute umso mehr beschäftigt, gebe es doch immer mehr Fragen bezüglich der Beschleunigung von gesellschaftlichen Entwicklungen.

Ja, das ist nun Weders Welt. Und nicht: an jede «Hundsverlochete» zu tingeln, um eine Marke à la «Gusti national» auszuschlachten. Schon aus dem Buch, das er 1994 mit der Reporterlegende Karl Erb herausgab («Kampf um Hundertstelsekunden im Eiskanal»), geht hervor, dass Weder am liebsten einen Bogen machte um Rummel, Oberflächlichkeit und Effekthascherei.

Heute schreibt Weder dazu: «Von der nationalistisch geprägten Tendenz zur Vereinnahmung einer Sportperson habe ich mich immer distanziert. In diesem System besteht die Gefahr, dass sich der Mensch zum Produkt, Unterhaltungsdienstleister oder sogar zur Maschine machen lassen muss, um über die Runden zu kommen.» Erfolge zu feiern, sei ihm eher als etwas Fremdes vorgekommen, manchmal sogar als etwas Unnötiges.

Das komplexe Denken des Nonkonformisten mag Aussenstehenden Rätsel aufgegeben haben, deshalb wurde Weder da und dort missverstanden. Aber zumindest die grauen Eminenzen aus dem Bobverband hätten eigentlich wissen müssen, wie er tickt. Dass er zum Beispiel keiner ist für Kleingeistiges und ein Milieu mit einer Hire-and-fire-Politik.

«Unmenschliche» Konzentration: wie eine Schlange, die nach erfolgreichem Beutezug sofort einschläft

Als Bobpilot war Weder begnadeter Stratege, pedantischer Analyst, kompromissloser Optimierer. In seinem Buch sagt der damalige Trainer Franz Isenegger über ihn, dass er von einem «unbändigen Siegeswillen beseelt» gewesen sei und sich in «geradezu unmenschlicher Weise» habe konzentrieren können. Isenegger verglich ihn mit einer Schlange, die nach erfolgreichem Beutezug sofort einschläft; Weder seien schon kurz nach wichtigen Rennen die Augen zugefallen, weil er alles aus sich herausgeholt habe.

Weder meint, sein Vorgehen und seine Art seien notwendig gewesen, um dem verschärften Wettstreit mit den deutschen Teams trotzen zu können. Für Sozialromantik sei kein Platz mehr gewesen. Eigenartigerweise wurde er für seine Unerbittlichkeit nicht bewundert, ja sie wurde ihm gar angekreidet, wie er Karl Erb erzählte. An Olympischen Spielen sei ihm aus der Schweizer Delegation nahegelegt worden, umgänglicher und kontaktfreudiger zu sein. Dazu liess er sich zitieren: «Diese Vorstellung von gesamtschweizerischer Mannschaft und Familie entspringt träumerischen Idealen.»

Und wenn ihn etwas störte, lehnte sich Gustav Weder auf, oder er sprach es an. Zu den Olympischen Spielen 1992 in Albertville, die aus Schweizer Sicht noch ernüchternder verlaufen waren als jene in Lillehammer, hält er im Buch fest, dass es Zeichen dafür gegeben habe, dass in dieser Delegation eben doch einiges nicht stimmte. Ein Funktionär habe in erster Linie bei den Athleten darüber lamentiert, dass er keinen Chauffeur habe und sein Auto selber steuern müsse. Und als dieser dann noch Donat Acklin dazu aufgefordert habe, ihm einen Kaffee zu holen, sei der Faden gerissen gewesen.

In die ungeliebte Rolle des «Retters der Nation» gedrängt, errang Weder in Albertville Gold und Bronze. Über den Sieg mit dem Zweierbob berichtete er, er sei gegen Schluss in einem «tranceartigen Zustand» gefahren und regelrecht mit dem Schlitten verschmolzen. Zur Erzählung gehört: Bei Halbzeit des Wettkampfs hatte Weder nur Platz 5 belegt. Schweizer Fans waren bereits abgezottelt, im Glauben, eine nächste Enttäuschung zu erleben. Später, als sich Grossartiges abzeichnete, seien viele von ihnen an die Bahn zurückgekehrt – hätten aber den Augenkontakt mit den jubelnden Bobfahrern vermieden.

An der Schlussfeier trug Weder die Schweizer Fahne, doch viele aus der Delegation seien aus Frustration bereits verschwunden gewesen. Neben Weder und seinen Mannen hatte nur einer für einen Medaillengewinn sorgen können: der Skirennfahrer Steve Locher mit Bronze in der unpopulären Kombination.

Eine visionäre These und ein veränderter Blick – Spitzensport als «eine Art Verschwendung von wertvollem Humankapital»

Weder war auch einer, der über den Tellerrand hinausschaute. Sein Mechaniker kam aus Österreich. Dass die Schweiz mit diesem Land eine Rivalität im Wintersport pflegte, war für ihn eine Petitesse. Mit früheren ausländischen Konkurrenten ist er noch immer freundschaftlich verbunden.

Und eine These aus seinem Buch hat sich als visionär erwiesen. Er meinte warnend: «Wenn wir nicht lernen, den Spitzensportler aus den üblichen Schemen herauszulösen, werden wir immer auf Spinner und Eigenbrötler angewiesen sein – so wie ich es eben auch war.» Im Schweizer Bobsport hielt sich die These noch mindestens zwei Jahrzehnte lang, sicher bis zu Beat Hefti.

Wegen Heftis Olympiasieg ist es auch legitim, das 30-Jahr-Jubiläum mit Vorsicht zu geniessen. Und man sollte nicht erwarten, dass Weder und Acklin Perlenhochzeit feiern, wie ein Ehepaar, das seit dreissig Jahren verheiratet und durch goldenen Schmuck verbunden ist. Dafür sind die beiden zu grundverschieden. Zudem, so Weder, hätten sie tatsächlich einmal gemeinsam mit Weggefährten alte Zeiten hochleben lassen; anlässlich des Bob-Weltcups 2010 in St. Moritz, wo sie zwanzig Jahre zuvor Doppelweltmeister geworden seien.

Für nachahmenswert hält Weder heute nur noch den «gesundheitsorientierten und gesellschaftsintegrierenden Breitensport». Den Spitzensport sieht er eher kritisch. Weder, früher auch ein passabler Kugelstösser und Diskuswerfer, bemerkt dazu in verblüffender Nüchternheit: «In Worten von Personalverantwortlichen aus grösseren Organisationen könnte man überspitzt formulieren, dass der Spitzensport eine Art Verschwendung von wertvollem Humankapital darstellt.»

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