Sonntag, Oktober 13

Die Einwanderersöhne aus dem ehemaligen Jugoslawien verabschieden sich aus dem Nationalteam. Das Land hat sich an ihnen gerieben. Doch es ist unabsehbar, wer so viel Erfolg bringen kann wie sie.

Im Sommer 2004 stellte das Nachrichtenmagazin «Facts» unter dem Titel «Hopp Schwiic» die Bevölkerungsgruppe vor, die das Schweizer Nationalteam in Zukunft dominieren würde: die Secondos, vor allem jene aus dem ehemaligen Jugoslawien. «Sie sind trickreich, schlitzohrig und technisch versiert», schrieb das Magazin. Wenn die Formulierung aus heutiger Sicht auch problematisch ist, stimmte die Prognose: Kinder von Balkanflüchtlingen waren über die letzten 15 Jahre die prägenden Figuren der Schweizer Nationalmannschaft.

Zwar hatten bereits ab den 1980er Jahren immer mehr Spieler mit migrantischem Hintergrund den Weg in die Auswahl gefunden. Neben italienischstämmigen, der grössten Einwanderergruppe, bereicherten vor allem Kubilay Türkyilmaz und die Brüder Yakin mit türkischer Herkunft das Team. Während an der WM 1996 der aus Argentinien stammende Nestor Subiat der einzige Eingebürgerte in der Nati war, zählten an der WM 2006 bereits acht Spieler mit ausländischen Wurzeln zur Auswahl von Köbi Kuhn. An den Weltmeisterschaften 2014 und 2018 war die Vielfalt dann schon das Markenzeichen der Schweiz: Sie stellte die meisten Spieler mit ausländischem Hintergrund von allen Teams.

Dominiert auf dem Platz und in den Schlagzeilen haben Spieler wie Valon Behrami, Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri. Nie war das Nationalteam erfolgreicher als mit ihnen. Wer wird in ihre Fussstapfen treten?

Die Portugiesen wollen aus ihren Kindern keine Ronaldos machen

Patrick Bruggmann hat als Direktor Fussballentwicklung im Schweizerischen Fussballverband den Überblick über die grössten Fussballtalente, er weiss, wer nachkommt. Er sagt, es zeichne sich ab, dass die Nati diverser werde, weniger geprägt von einer Gruppe. Das sieht man bereits heute. Im Kader für die Nations-League-Spiele gegen Serbien und Dänemark steht etwa Ulisses Garcia, als Sohn kapverdischer Eltern in Portugal geboren, aufgewachsen in Genf. Oder Joël Monteiro, portugiesische Abstammung, geboren in Sitten; Eray Cömert, Sohn türkischer Eltern, aufgewachsen im aargauischen Rheinfelden; Ricardo Rodríguez, Kind eines Spaniers und einer Chilenin, in Zürich gross geworden.

Wenn es eine Gruppe gibt, die die anderen zahlenmässig übertrifft, sind es die Spieler mit Wurzeln in Afrika. Von den 23 Akteuren im Nations-League-Aufgebot haben 14 einen ausländischen Hintergrund, 6 von ihnen auf dem afrikanischen Kontinent. Für Bruggmann sind die Schwarzafrikaner eine Gruppe mit einem «grossen Impact», wie er sagt. Viele von ihnen seien athletisch und dynamisch. Voraussetzungen, die im Fussball, der immer schneller und physischer werde, sehr gefragt seien. Kommt es zu einer Häufung einer Herkunftsgruppe wie jener der balkanstämmigen Spieler, ist dies in der Regel die Konsequenz von kriegerischen Auseinandersetzungen, wie eben den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren, die einen Flüchtlingsstrom auslösten. Auch heute suchen grosse Flüchtlingsgruppen etwa aus Eritrea, Syrien, der Türkei oder Afghanistan Schutz in der Schweiz. Doch ob es einen Effekt auf den Fussball geben wird, ist auch darum fraglich, weil schwer abzuschätzen ist, wie viele der Flüchtlinge dereinst einen Schweizer Pass haben werden.

Ein Ausschlusskriterium ist allerdings nicht allein die Staatsbürgerschaft. Entscheidend ist auch, welche Bedeutung die Elterngeneration dem Fussball beimisst, wie sie den sozialen Status eines Kickers einschätzt. Die drittgrösste Ausländergruppe in der Schweiz sind die Portugiesen, über eine Viertelmillion lebt hier. Doch in den Nationalteams sind sie kaum vertreten, obwohl Portugal eine grosse Fussballtradition hat. Offensichtlich sehen die Eltern in ihren Söhnen keine kleinen Cristiano Ronaldos. «Die Familien, die in die Schweiz kommen, sind oft sehr stark an der Berufsbildung interessiert», sagt Bruggmann. Zudem planten sie häufig, nach Portugal zurückzukehren, sobald sie eine gute Ausbildung erfahren hätten.

Ebenfalls keinen Niederschlag im Fussball fand die Einwanderungswelle der Tamilen in den 1980er Jahren. Obwohl Tausende in die Schweiz kamen, ist keiner als Fussballer in Erscheinung getreten. Auf sie dürfte Ähnliches zutreffen: Den sozialen Aufstieg suchten sie nicht über den FCZ, sondern über das Gymnasium Rämibühl.

Doch das sind die Ausnahmen. Grundsätzlich ist der Fussball immer noch, was er für die Buben der italienischen Saisonniers in den 1970er Jahren war: ein Vehikel für den sozialen Aufstieg, vor allem für jene, deren Chancen in anderen Bereichen gering sind. Christian Koller, Leiter des Sozialarchivs in Zürich, hat sich in verschiedenen Publikationen mit dem Fussball und der Immigration in die Schweiz befasst. Er sagt: «Eine Perspektive im Fussball sehen immer noch die Kinder aus der Working Class und nicht diejenigen der Expats.» Das Prestige einer Fussballkarriere kann sich aber auch innerhalb einer Gruppe verändern. Je besser der Zugang einer Gruppe zu Bildung sei, je deutlicher sie Aufstiegsmöglichkeiten in einem anderen Bereich sehe, desto stärker wende sie sich ab vom Fussball, sagt Koller.

Zu beobachten ist diese Entwicklung bei den Nachkommen der italienischen Saisonnier-Kinder. Sie sind heute alles: Banker, Ärzte, Pöstler – aber kaum mehr Fussballer. Ähnliches werde auch bei den folgenden Generationen der Balkanstämmigen geschehen, prophezeit Koller. Eine Entwicklung, die Bruggmann bereits bemerkt: Mit dem Einfluss einer «Schweizer» Kultur werde diese Gruppe kleiner.

Die Beziehung mit den Migrantensöhnen ist krisenanfällig geblieben

Überhaupt: Was ist mit jenen Schweizern, die keinen Migrationshintergrund haben, den Nachfolgern von Remo Freuler, Michel Aebischer, Silvan Widmer, Nico Elvedi? Sie sind in den Kadern der Nachwuchsauswahlen spärlich vertreten. Diese Gruppe, sagt Bruggmann, wachse mit einem Plan B auf. Stocke der Plan A, der Weg in den Profifussball, schwenke man schneller um. Zumal der Berufswunsch Fussballer für viele Eltern ungefähr so attraktiv ist wie der Traum, Schauspieler zu werden.

Bruggmann sähe es gerne, wenn in einer «gewissen Phase des Athletenwegs» der Plan A etwas länger durchgezogen würde, das Schweizer Bildungssystem biete viele Möglichkeiten zum Wiedereinstieg – ein herausforderndes Konzept für ein Land, in dem Sicherheitsdenken tief verankert ist. Er bedauert die Abgänge, weil wir eine Kultur pflegten, die uns befähige, im Leistungssport zu reüssieren. «Wir sind nicht selbstzufrieden, streben nach Perfektion, sind hartnäckig und können uns durchbeissen», sagt er.

Eigenschaften, die im Spitzensport hilfreich sind. Gepaart mit dem, was Bruggmann «Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten» nennt, das eher die Spieler mit Balkan-Hintergrund auszeichnete, gelang es der Schweiz, Grenzen zu verschieben. Die Qualifikation für einen Viertelfinal wie diesen Sommer an der EM oder 2022 an der WM war vor 30 Jahren undenkbar. Damals feierte man bereits die Qualifikation für ein grosses Turnier, als hätte man einen Pokal gewonnen.

Trotz den Erfolgen ist die Beziehung der Schweizer Öffentlichkeit mit den Spielern, die Wurzeln im Balkan haben, krisenanfällig geblieben. Als 2005 Valon Behrami auftauchte – blond gefärbter Schopf, Tattoos, grosse Kopfhörer, verstörend cool –, war es noch ein gegenseitiges Fremdeln. Doch die Irritationen setzten sich fort und gipfelten 2018 in der Diskussion um die Doppeladler-Geste von Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri (und dem solidarischen Captain Stephan Lichtsteiner) im WM-Spiel gegen Serbien. Letztlich ging und geht es dabei immer um die Frage, ob die Spieler genug Schweizer sind. Während sie das Gefühl haben, mit ihrem Entscheid und Engagement für das Land den Beweis längst erbracht zu haben, wird vor allem dann auf eine bessere Anpassungsleistung gepocht, wenn es sportlich schlecht läuft.

Die Brüchigkeit der Beziehung hat sich bei den Spielern aus dem ehemaligen Jugoslawien akzentuiert, gezeigt hat sie sich aber auch bei Vertretern anderer Nationen. Auch die Integration von Blaise Nkufo, einem der ersten dunkelhäutigen Schweizer im Nationalteam, war von Misstönen begleitet. Im August 2002 verliess er das Camp fünf Stunden vor dem Anpfiff eines Freundschaftsspiels gegen Österreich. Nkufo fühlte sich ungerecht behandelt, vor allem vom Nationaltrainer Köbi Kuhn. «Ich hatte damals den Eindruck, dass ein farbiger Spieler mehr beweisen müsse als ein anderer», sagte er später. 2020 sagte er in einem Interview mit Blue: «Manchmal musst du einen Rückschlag hinnehmen, damit andere erfolgreich sein können. Heute hat es einige afrikanischstämmige Spieler in der Nati. Vielleicht konnte ich mit meinen Erfahrungen der nächsten Generation auch helfen.»

50 Jahre zuvor sass eine italienische Familie im Kanton Aargau auf gepackten Koffern. Sie wartete den Volksentscheid zur Schwarzenbach-Initiative ab, die verlangte, dass der Ausländeranteil in der Schweiz maximal zehn Prozent betragen dürfe. Die Initiative wurde abgelehnt, und ein paar Jahre später wurde der Bub der Familie in die Nati berufen. Blöd war nur, dass er keinen Schweizer Pass hatte. Doch der war schnell organisiert, und 1978 debütierte Raimondo Ponte im Nationalteam. Ob er Ablehnung erfahren habe? «Ich habe vielleicht einmal mehr ‹Tschingg› gehört», sagt Ponte heute.

Die Nati wurde zum Abbild des Landes. Und das Land wird sich auch in Zukunft an ihr reiben.

Ein Artikel aus der «»

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