Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann sprechen mit Jugendlichen in Deutschland über den Nahostkonflikt. Sie erklären, wie Schulhöfe zu Orten der Radikalisierung wurden und wie ein gutes Gespräch gelingt.
Frau Hassoun, Herr Hoffmann, wann haben Sie zuletzt gedacht: Was wir machen, bringt doch nichts?
Jouanna Hassoun: Ich denke das jeden Tag.
Shai Hoffmann: Aber wir machen trotzdem weiter. Weil es die einzige Option ist, die wir haben. Wir wollen mit gutem Beispiel gegen Hass und Ausgrenzung vorangehen. Wir wollen Begegnungen schaffen zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen.
Was bringt es denn, miteinander zu reden?
Hassoun: Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und Diskriminierung entstehen dann, wenn die Menschen nicht miteinander reden. Nur wer miteinander spricht, kann sich auf Augenhöhe begegnen.
Hoffmann: Kommunikation ist die Basis von menschlichen Beziehungen – und damit der Demokratie. Sie beruht darauf, dass wir Argumente austauschen und einen Konsens finden. Das können wir nur, wenn wir uns im Gespräch begegnen.
Sie sprechen vor allem mit Schülerinnen und Schülern. Warum?
Hassoun: Kinder und Jugendliche sind die verletzlichsten Menschen unserer Gesellschaft. Sie müssen sich erst noch finden. Damit sind sie höchst manipulierbar. Wir müssen ihnen vorleben, dass man miteinander reden muss. Auch wenn man unterschiedliche Ansichten hat.
Reden Jugendliche auf dem Pausenhof nicht mehr miteinander?
Hassoun: Die Situation auf den deutschen Schulhöfen ist fragil. Die Jugendlichen radikalisieren sich zunehmend in ihrem Denken. Sie reden kaum noch mit Andersdenkenden, die Meinungen verhärten sich, die Erregung steigt. Daran sind vor allem die sozialen Netzwerke schuld. Fake News verbreiten sich dort extrem schnell. Das macht mir grosse Sorgen. Social Media richten mehr Schaden an, als Shai und ich reparieren können.
Welchen Schaden richten die sozialen Netzwerke denn an?
Hoffmann: Zu einem Krieg gehört Propaganda. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wird daher auch auf Social Media geführt, dort sind die jungen Leute den Bildern schutzlos ausgeliefert. Mittlerweile dominieren in den sozialen Netzwerken die schrecklichen Bilder aus dem Gazastreifen, was auch durch die Algorithmen begünstigt wird. Der eigentliche Auslöser dieses Krieges rückt in den Hintergrund. Ich muss in den Schulen immer wieder auf den menschenverachtenden Überfall der Hamas hinweisen, bei dem die Terroristen 1200 Menschen abgeschlachtet und über 200 Geiseln verschleppt haben.
Hassoun: Ich möchte ergänzen, dass unglaublich viel Leid im Gazastreifen stattfindet. Mittlerweile gibt es dort über 31 000 Tote. In den Schulen fragen mich viele junge Menschen, ob das gerecht sei. Das tut mir sehr weh. Plötzlich müssen wir über die Verhältnismässigkeit des Todes sprechen, ohne dem 7. Oktober irgendeine Rechtfertigung zuzusprechen. Beides muss für sich allein stehen: die grauenhaften Massaker am 7. Oktober und der brutale Krieg in Gaza.
Was erleben Sie in den Gesprächen mit den Schülergruppen?
Hoffmann: Wir sprechen mit den Jugendlichen über den Gaza-Krieg, dann geht es oft um andere Kriege wie den in Syrien. In den deutschen Schulklassen sitzen junge Menschen aus der ganzen Welt, die fühlen sich plötzlich mit ihrer Geschichte und ihren Gefühlen gesehen. Wir erleben viel Unverständnis, Irritation und Schmerz. Manche Jugendliche weinen im Laufe der Gespräche. Die Jugendlichen sind auch dankbar. Das ist vielleicht besonders verblüffend.
Dankbar?
Hoffmann: Viele Menschen denken, die jungen Leute seien alles unreflektierte Flegel. Aber das stimmt nicht. In der Gemengelage des weltpolitischen Geschehens sind gerade sie es, die innehalten und sagen: Wir haben es hier in Mitteleuropa doch recht gut. Wir dürfen hier in Frieden leben, und es gibt Menschen, die sich dem aufkommenden Rechtsextremismus gegenüberstellen.
Wie sieht so ein Gespräch in der Schule aus?
Hassoun: Wir sprechen mit den Schülerinnen und Schülern zwei Schulstunden lang, also neunzig Minuten. Unser Anliegen ist es, für die herausfordernden Themen des Krieges einen geschützten Raum des Gesprächs zu schaffen. Einen Raum, in dem wir einander mit Respekt zuhören, in dem wir keine Urteile oder Konsequenzen fürchten müssen. Wir fragen die jungen Menschen auch nach ihren Gefühlen: Was bewegt sie aktuell? Was fühlen sie, wenn sie an Israel und Palästina denken? So sehen sie, wie viele unterschiedliche Gedanken es in ihrer Klasse zu dem Thema gibt. Die Jugendlichen dürfen uns dabei alles fragen, was sie möchten. Wir antworten nach bestem Wissen und Gewissen. Bricht jetzt der dritte Weltkrieg aus? Wann gibt es Frieden? Wie haben Shai und ich zusammengefunden?
Sie reden auch über sich selbst?
Hoffmann: Wir wollen zeigen: Wir stehen zusammen. Wir wissen, dass zwischen unseren beiden Völkern seit Jahrzehnten Krieg und Blutvergiessen herrscht, dass die Menschen traumatisiert sind. Jouanna ist in Libanon in einem Flüchtlingscamp geboren. Als kleines Kind ist sie mit ihrer Familie vor dem Krieg in Libanon nach Deutschland geflohen. Ich bin ein deutscher Jude, dessen Vater 1967 im Sechstagekrieg gegen Syrien, Jordanien und Ägypten gekämpft hat. Trotzdem reden wir miteinander. Und wollen Frieden schaffen.
Das ist ein hehres Ziel . . .
Hassoun: Wir sagen den Jugendlichen: Wir können nicht sagen, wer Anspruch auf das Land im Nahen Osten hat. Wer zuerst da war. Wir beide können keinen Frieden schaffen. Wir können aber einander zuhören und damit einen Unterschied machen. Zusammen können wir dafür sorgen, dass Juden und Muslime nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Sie zeigen den Jugendlichen, wie sie trotz unterschiedlicher Meinung miteinander sprechen können. Wie funktioniert ein gutes Gespräch denn?
Hassoun: Wir müssen einander aktiv zuhören. Das heisst, wir dürfen uns nicht von unseren Vorurteilen und Denkmustern leiten lassen. Stattdessen sollten wir versuchen, die andere Person zu verstehen. Wir wissen nicht, warum ein Mensch etwas sagt. Aber wir können nachfragen. Was hat dieser Mensch erlebt? Welchen Schmerz empfindet er? Mit diesem Blickwinkel begegnen wir einander völlig neu.
Kommentarlos zuhören ist ziemlich schwierig . . .
Hoffmann: Menschen müssen mit Widersprüchen umgehen können. Der Konflikt im Nahen Osten enthält so viele Widersprüche wie kaum ein anderer Konflikt auf dieser Welt. Da schwingen Emotionen mit, die wir aushalten müssen.
Wie meinen Sie das?
Hoffmann: Juden und Palästinenser sind beides marginalisierte Gruppen in unserer Gesellschaft, die von Rassismus beziehungsweise Antisemitismus betroffen sind. Beide Völker leiden an dem Konflikt. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wer das Leid der Palästinenser beklagt, darf ebenso den Schmerz des jüdischen Volkes fühlen. Und umgekehrt.
Manche Menschen haben keine Lust auf Dialog. Muss ich trotzdem mit ihnen sprechen?
Hassoun: Man darf Haltung zeigen und klare Grenzen setzen. Wenn jemand nicht in ein Gespräch treten möchte, kann man das nicht erzwingen. Wir dürfen sagen: Das, was du jetzt von dir gibst, ist zutiefst antisemitisch oder diskriminierend. Und ich möchte mit dir in dieser Weise nicht weiter darüber diskutieren.
Sie sind Gesprächsprofis, erleben Sie das auch?
Hoffmann: Kommunikation ist anstrengend, und manchmal scheitert sie. Das passiert auch uns. Nehmen wir als Beispiel meine Familie: Ich gehe mit ihr anders um als mit fremden Menschen. Meine Toleranz ist geringer. Ich denke mir, meine Familie kennt mich und meine Arbeit. Im Gespräch mit mir versucht sie bestimmt, die Perspektive der palästinensischen Seite zu verstehen. Aber sie weitet den Blick nicht. Am Anfang des Krieges habe ich mich oft mit meiner Familie gestritten, jetzt ist der Kontakt weniger geworden. Das schmerzt.
Streit beim Abendessen. Das kennen viele . . .
Hoffmann: Die eigene Familie ist eine besondere Herausforderung. Wenn man es aber schafft, mit der Familie geduldig zu sein, genügend Toleranz aufzubringen und sich wertfrei zu begegnen, kann man viel erreichen. Alle Familienmitglieder müssen sich dafür aber reflektieren wollen.
Können Sie das etwas konkreter machen?
Hoffmann: Nehmen wir als Beispiel einen antisemitischen Onkel. Ein Gespräch mit ihm kann bereichernd sein, wenn er sich darauf einlässt. Ich kann erfahren, woher er seine Nachrichten und Informationen bezieht. Woher sein Bild von Jüdinnen und Juden eigentlich kommt. Und ihn könnte ich fragen: Bist du schon einmal jüdischen Menschen begegnet? Weisst du, dass du sie jeden Tag im Supermarkt treffen könntest, ohne das zu merken? Ich zeige damit auf: Judentum ist vielfältiger, als man denkt.
Shoah, Nakba, Zionismus. Oft benutzen die Menschen im Streit Begriffe, deren Tragweite sie nicht kennen. Was macht man da?
Hassoun: Man sollte nachfragen, warum der Gesprächspartner genau in diesem Moment jenen Begriff gewählt hat, und klären, was er damit erreichen möchte. Will er provozieren? Auf ein Problem hinweisen? Oder hat er den Begriff einfach aufgeschnappt? Je nach Kontext kann man den Begriff dann klären – und erklären, warum er so eine aufgeladene Bedeutung hat.
Und wenn der Begriff so richtig aufgeladen ist?
Hoffmann: Viele Menschen skandieren zum Beispiel, dass die Israeli einen Völkermord an den Palästinensern verüben. Wenn wir an das Völkerrecht und Menschenrechte glauben, dann müssen wir diesen Diskurs führen. Den Diskurs können wir aber sachlich gestalten. Die Vereinten Nationen definieren den Völkermord als eine Tat, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Diese Absicht muss man Israel nachweisen, der Internationale Gerichtshof entscheidet darüber. Mir persönlich fehlen dazu Beweise und das Wissen. Oft ist es gut, auch einmal zu sagen: Ich weiss es nicht, ich kann das nicht bewerten.
Zur Person
Jouanna Hassoun
Die Deutsch-Palästinenserin ist im Alter von 6 Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen. Heute ist sie 40 Jahre alt, lebt in Berlin und leitet verschiedene soziale Projekte. Seit 15 Jahren setzt sie sich für den israelisch-palästinensischen Dialog ein. Sie ist Trägerin des Verdienstordens des Bundeslandes Berlin.
Zur Person
Shai Hoffmann
Der Deutsch-Israeli lebt in Berlin. Er ist 41 Jahre alt, gelernter Hotelfachmann, arbeitete als Schauspieler und beschreibt sich selbst als Aktivisten. Er setzt sich für die Demokratie sowie den israelisch-palästinensischen Dialog ein. Er hat gemeinsam mit Jouanna Hassoun das Format der Schul-Gespräche entwickelt.