Das Zürcher Obergericht urteilt über eine zerstörerische Beziehung. Und fällt ein milderes Urteil als die Vorinstanz.
Es ist ein verstörender Fall, in dem das Zürcher Obergericht am Mittwoch sein Urteil gefällt hat. Es ist ein Urteil über eine mehr als zwei Jahre dauernde, albtraumhafte Beziehung zwischen einem Mädchen und einem älteren Jugendlichen.
Sie war zwölf, als sie sich in einen 16-jährigen Jugendlichen verliebte. Doch statt einer ersten zarten Romanze entwickelte sich daraus rasch eine toxische Beziehung. Das Mädchen klammerte sich in einer Art von Liebesobsession an den Jugendlichen, obwohl er sie wie Dreck behandelte.
Für den jungen Mann hat das damalige Verhalten Konsequenzen: Das Obergericht hat ihn wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Raub, Erpressung und weiterer Delikte schuldig gesprochen. Es verurteilt den jungen Mann zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 1 Monat. Zudem muss er dem Opfer 1400 Franken Schadenersatz sowie eine Genugtuung von 50 000 Franken zahlen.
Das Urteil des Obergerichts fällt milder aus als das der Vorinstanz. Das Bezirksgericht Winterthur hatte im Sommer 2022 noch eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten ausgesprochen. Doch anders als die Vorinstanz spricht das Obergericht den jungen Mann vom Vorwurf des Menschenhandels frei.
Verurteilt werden auch vier Männer, die sich an den Taten beteiligten. Auch bei ihnen liegt das Strafmass niedriger. Es bewegt sich zwischen 10 Monaten bedingt und 12 Monaten unbedingt. Dies unter anderem wegen sexueller Handlungen mit einem Kind und weiterer Delikte. Bloss bei einem der Mitbeschuldigten kommt das Gericht ebenfalls zum Schluss, dass es sich um eine Vergewaltigung des Mädchens handelt.
Bei der Urteilseröffnung erklärt der Richter: «Wir sind überzeugt, dass das Mädchen Opfer gravierender Straftaten wurde. Sie war damals, als es passierte, noch ein Kind.» Eine Urteilsfindung sei äusserst schwer gefallen. Das Gericht habe den Fall so lange beraten wie noch nie in seiner gesamten, dreissigjährigen Karriere bei der Justiz, sagt der Richter.
Und an den jungen Mann gerichtet, sagt er: «Sie haben das Mädchen in den Zustand einer mentalen Abhängigkeit versetzt. Sie haben sie diversen Kollegen und Verwandten zur Verfügung gestellt. Und sie hatten selbst Sex mit ihr, obwohl sie noch im Kindesalter war.» Zudem habe er seine Freundin finanziell ausgenommen und sie geschlagen und getreten. Erschreckend brutal, wie der Richter sagt. «Diese Brutalität gegenüber einem Kind verstört und lässt einen ratlos zurück.»
Eine Geschichte – zwei Versionen
Es ist ein Urteil über einen Fall, von dem es zwei sehr unterschiedliche Versionen gibt.
Laut Anklage stiftet der Jugendliche das Mädchen dazu an, ihren Eltern Tausende von Franken zu stehlen, er bedroht und schlägt sie, wenn sie nicht spurt. Er hat Sex mit ihr und filmt sich dabei. Und nicht nur das: Er reicht sie auch noch unter seinen Freunden und teilweise längst erwachsenen Cousins herum.
Eine Massenvergewaltigung mit dem jungen Mann als Regisseur. So schildert es die Anklage.
Für den heute jungen Mann und seine Verteidigerin lief alles ganz anders. In der Befragung vor dem Obergericht erzählt der junge Mann, er habe seine damalige Freundin zu nichts gezwungen, die Initiative für den Sex sei von ihr gekommen. Und so stellte auch die Anwältin das Mädchen dar: frühreif, selbstbestimmt und promisk.
Die Anwältin sagt: «Sie wollte sich seine Aufmerksamkeit und seine Liebe erkaufen.» Um ihm nah zu sein, habe sie ihm Geld geschenkt. Und sich auf seine Kollegen eingelassen.
Ihr erstes Mal auf der Schulhaustoilette
Die verhängnisvolle Beziehung zwischen dem Mädchen und dem Jugendlichen beginnt im Herbst 2017. Sie lernen sich bei ihrem Cousin zu Hause kennen.
Die zwei tauschen in der Wohnung Blicke aus, er findet sie sexy. Sie nehmen kurz darauf Kontakt über Instagram auf, schreiben sich regelmässig, telefonieren. Wenig später verabreden sie sich zu ihrem ersten Treffen – und haben Sex auf einer Schulhaustoilette. Der Wunsch dazu sei zwar von ihm gekommen, wird sie später zu Protokoll geben, aber sie habe es auch gewollt. Das Treffen hätten sie gemeinsam vereinbart.
Wie sich die Beziehung genau weiterentwickelt, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass es auf emotionaler Ebene eine einseitige Geschichte ist. Sie verliebt sich unsterblich in ihn, hält keinen Tag ohne Nachricht von ihm aus. Er dagegen hält sie auf Distanz. Blockiert sie immer wieder in den sozialen Netzwerken, nur um ihr dann kurze Zeit später den Kontakt wieder zu erlauben. Er sieht sie als Kollegin, mit der er ab und an auch Sex haben kann.
Der 16-Jährige sucht bei ihr aber nicht nur sexuelle Befriedigung, bald interessiert ihn vor allem eins: Geld. Geld, das sie ihm bringen muss.
Die Beträge werden im Laufe der zwei Jahre immer grösser. Insgesamt sollen es rund 15 000 Franken gewesen sein. Manchmal droht er ihr auch Gewalt an, falls sie ihm kein Geld gibt. So soll er ihr einmal gesagt haben: «Ich werde dir einen Finger oder einen Zeh abschneiden. Du kannst wählen.» Andere Male bietet er ihr Zuneigung oder Sex an, wenn sie ihm Geld bringt.
Ein verstörendes Verhalten
Sein Verhalten wird aber noch verstörender. Wie an einem Nachmittag, als er das Mädchen und zwei Freunde zu sich einlädt. Die vier hören gemeinsam Musik und unterhalten sich, bis er laut Anklage völlig unvermittelt zu ihr sagt: «Du figgsch jetzt mit ihm!» Gemeint ist einer seiner beiden Freunde. Für den Fall, dass sie sich weigert, soll er ihr Schläge angedroht haben. Dann verlassen er und sein anderer Freund das Zimmer.
Das Mädchen schildert später der Polizei und vor Gericht, sie habe Angst gehabt, Prügel zu kassieren. Deshalb habe sie den Sex über sich ergehen lassen. Er streitet hingegen alles ab, er habe sie zu gar nichts gezwungen. Sie und sein Freund seien sich schon vorher näher gekommen, und so habe er die beiden gewähren lassen.
Dieses Muster aber, dass auch seine Kollegen mit ihr Sex haben, wiederholt sich mehrfach. In einer besonders düsteren Variante im Frühling 2019. Er nimmt sie mit zu einem Gartenhäuschen. Dorthin lädt er auch drei erwachsene Männer ein, zwei davon sind Cousins von ihm. Einer von ihnen erkundigt sich vorher noch per Whatsapp, ob es dort denn «etwas zu ficken» gebe.
Spätabends treffen die Männer dort ein. Einer der Cousins geht als Erster mit der 13-Jährigen ins Gartenhäuschen, es ist ein schäbiger Holzverschlag, zwei auf zwei Meter gross. Dort kommt es zum Geschlechtsverkehr. Ihr Freund nimmt das Geschehen auf dem Handy auf. Dann kommt der zweite Mann an die Reihe. Danach gehen die beiden Männer mit dem Freund des Mädchens weg. Sie bleibt zurück mit dem betrunkenen Cousin ihres Freunds.
Er sagt ihr draussen noch, dass sie tun solle, was der Cousin wolle, man wisse ja nie, wie Betrunkene reagierten. So wird sie es später erzählen. Er bestreitet das.
Zurück im dunklen Gartenhäuschen bettelt der Cousin, sie solle auch mit ihm Sex haben. Sie lehnt ab und fügt sich am Ende doch. Der Betrunkene schläft danach neben ihr ein. Sie wartet darauf, dass ihr Freund zurückkommt, schreibt ihm immer wieder – aber er meldet sich nicht. Sie harrt auf dem Fussboden aus, bis sie in den frühen Morgenstunden endlich auf den Bus nach Hause kann.
Obwohl er sie derart schlecht behandelt, kommt sie nie von ihm los. Am Ende wird sie die Kesb in ein geschlossenes Heim einweisen lassen, damit sie endlich Abstand von ihm nimmt. Für sie sei das so gewesen, als ob man ihr eine Droge weggenommen habe, wird sie es später in einer Befragung beschreiben.
Urteile SB 230 211, SB 230 219, SB 230 221, SB 230 222, SB 230 223 vom 29. 1. 25, noch nicht rechtskräftig.