Donnerstag, September 19

Wie weit darf Notwehr gehen? Geschichte einer zerstörerischen Beziehung.

Das Messer lag eben noch auf dem Sofa. Plötzlich hält die junge Frau es in der Hand. Wie es dazu kam, weiss sie nicht mehr. Ihr Freund kniet am Boden, blutet aus dem Hals. Seine Hautfarbe wechselt ins Gelbliche. Sie will eigentlich nur wegrennen, raus aus der Wohnung, aber nun ist sie wie erstarrt.

Es ist das tragische Ende einer kurzen Beziehung voller Gewalt, die drei Jahre später als sogenanntes Vier-Augen-Delikt vor dem Bezirksgericht in Dielsdorf landen wird. Nur die beiden wissen, was genau in der Nacht vom 9. Dezember 2021 in ihrer Wohnung im Norden des Kantons Zürich geschah.

Nina Bernard (Name geändert) beschreibt vor Gericht ein Martyrium, das sich über mehrere Wochen hingezogen haben soll. In der Zeit habe sie ihr Freund verprügelt und missbraucht, er filmte sie beim Sex und schleppte sie in einen Swingerklub. Zusammen konsumierten sie Unmengen an Kokain und Alkohol.

Sie sei seine Gefangene gewesen, sagt sie.

Esad Kodraj (Name geändert) erzählt eine ganz andere Version. Wenn er über seine damalige Partnerin spricht, macht er aus einer 18-Jährigen eine Art Vamp.

Von Drogen getrieben und von Sex besessen sei sie gewesen, sie habe ihn zum Äussersten verleitet. Zu all dem «grusigen Zeug», wie Besuche im Swingerklub, Sexspielzeug, Koks und Alkohol.

Zwei «Junkies», gefangen in einer Spirale aus Sucht und Sex.

Das Gericht verurteilt nicht nur Esad Kodraj, sondern auch Nina Bernard. Es ist ein Verdikt, von dem Bernards Anwältin Beatrice Schindlberger-Benz sagen wird: «Man macht ihr zum Vorwurf, dass sie sich wehrte. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht für das Opfer. Der Übeltäter hingegen kommt mit einem blauen Auge davon.»

Der Fall wirft Fragen auf: Wie darf sich eine Frau gegen ihren gewalttätigen Partner wehren? Was gilt als Notwehr? Und vor allem: Werden die Täter in diesem Land noch immer zu stark geschützt?

Es sind Fragen, die in der Schweiz mit jeder Gewalttat gegen eine Frau und im Zuge der Debatte um #MeToo und die Revision des Sexualstrafrechts in den letzten Jahren immer drängender gestellt werden. Denn: Der gefährlichste Ort für Frauen ist in diesem Land das eigene Zuhause. Rund zwanzig Mal pro Tag muss allein im Kanton Zürich die Polizei wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Der Täter: fast immer der Mann. Das Opfer: fast immer die Frau.

Die Beziehung

Esad Kodraj und Nina Bernard sind ein ungleiches Paar.

Kodraj ist Anfang 30, ein Kraftprotz, Besitzer von drei Firmen. Ein Büezer und Unternehmer, einer, der sich von ganz unten hochgearbeitet hat.

Die Familie stammt aus dem Balkan, die Mutter stirbt früh. Der Vater zieht die Kinder allein auf, die im Haushalt mithelfen müssen. Das Geld ist immer knapp, also arbeitet Kodraj als Jugendlicher auf dem Bau. Später holt er eine Lehre nach.

Er ist ehrgeizig und fleissig, übernimmt ein Baugeschäft, dann ein zweites. Er wird Generalunternehmer, investiert in Immobilien. «Ich schuftete 15 Stunden am Tag», sagt er vor Gericht.

Kokain wird früh zum regelmässigen Begleiter. Mit 18 konsumiert er das erste Mal. Die Droge hilft ihm, das Tempo zu halten. Dazu kommt der Alkohol. «Das ist das Schlimme mit dem Dreckszeug», sagt er. «Man merkt es erst, wenn es zu spät ist.»

Ein Gutachten schliesst eine Borderline-Störung und narzisstische Züge nicht aus. Er ist schnell gekränkt, impulsiv und reizbar.

Und er hat Vorstrafen. Wegen Gewalt gegen seine Partnerin. 2021 verurteilt ihn ein Gericht zu einer bedingten Freiheitsstrafe, weil er seine damalige Freundin genötigt und beschimpft hat.

Im gleichen Jahr trifft er Nina Bernard. Sie ist 18 Jahre alt, über zehn Jahre jünger als er. Der Ort, an dem sie sich kennenlernen: eine psychiatrische Einrichtung.

Sie hat zu dem Zeitpunkt zwei Klinikaufenthalte hinter sich, die Trennung der Eltern belastet sie stark. Mit 13 beginnt sie, an Partys Alkohol zu trinken. Kokain dagegen habe sie zum ersten Mal mit ihm konsumiert, sagt die junge Frau vor Gericht.

Damals habe sie während ihrer Ausbildung dringend eine Wohnung gesucht, weil das Zusammenleben mit der Mutter nicht mehr funktioniert habe. Er habe ihr die Wohnung über seiner eigenen angeboten. Sie sagt: «Es waren sicher Gefühle im Spiel. Ich weiss aber nicht, ob man das Liebe nennen kann.»

Nur rund einen Monat werden sie zusammen wohnen. Der Einzug in die Wohnung verstärkt ihr Leiden. Die Ereignisse sind so zahlreich, dass sie später vor Gericht kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Der Staatsanwalt wirft Esad Kodraj vor, seine Freundin mit Ohrfeigen und Faustschlägen traktiert und sie getreten zu haben. Einmal habe sie deswegen eine Bänderverletzung erlitten. Sie sagt: «Weil ich überall blaue Flecken hatte, musste ich mich schminken.»

Er habe sie in der Wohnung eingesperrt. Stundenlang habe sie im Wohnzimmer ausharren müssen, sagt Bernard vor Gericht. Sie sei gezwungen gewesen, in Gläser zu urinieren. «Einmal überlegte ich, ob ich aus dem Fenster springe.» Wenn sie um Hilfe gerufen habe, habe er sie geschlagen. Wenn sie neuen Stoff besorgt hätten, habe er sie ins Auto eingesperrt.

Auch ein paar tausend Franken soll er ihr abgenommen haben. Am Bancomaten, wo er manchmal allein, manchmal mit ihr zusammen Geld abhebt.

Und immer wieder soll er sie zu Sex gezwungen haben. «Es war katastrophal», sagt sie. Von ihr sei nie die Initiative ausgegangen. «Es gab Momente, in denen ich wusste, ich muss mitmachen, damit Ruhe ist. Ich sagte zu ihm: ‹Willst du wirklich auch noch zum Vergewaltiger werden?›»

Einmal filmt er sie dabei. Es sind Videos, die auch der Richter sehen wird. Dieser sagt zu der jungen Frau, man habe aber nicht «prima vista das Gefühl, als wären Sie gezwungen worden».

Sie antwortet: «Wenn ich nicht mitgemacht hätte, wäre er nicht zu einem Ende gekommen. Im Porno sieht man den Zwang ja auch nicht.»

Esad Kodraj hingegen erzählt dem Richter eine ganz andere Geschichte. Er habe seine Ex-Freundin nie sexuell genötigt. Ja, er schäme sich, «dass meine Hand mir manchmal ausgerutscht ist». Aber was das Geld und den Sex angehe, verdrehe sie die Dinge.

«Wir waren zwei Junkies, die stritten und sich wieder versöhnten», sagt er. Aber auch im Drogenrausch merke man, ob jemand wolle oder nicht. «Du gehst doch nicht zu jemandem zurück, der dich angeblich einsperrt.» Sie habe viele Möglichkeiten gehabt, zu gehen. «Sie besuchte ihre Eltern, sie ging an Feste, zu Kolleginnen, holte zweimal am Tag Alkohol an der Tankstelle.»

Sein Anwalt sagt, es bestreite niemand, dass die beiden eine toxische Beziehung in einer schwierigen und unstabilen Lebensphase geführt hätten. Aber es sei eine freiwillig eingegangene Symbiose gewesen.

Die Tat

Das grosse Dilemma bei vielen dieser Fälle: Es gibt keine Zeugen ausser den Beteiligten, es steht Aussage gegen Aussage. Dies gilt auch für die Ereignisse an dem Abend des 9. Dezember 2021, als sich Nina Bernard mit einem Messer zur Wehr setzt.

Er sagt, sie habe ein Messer in der Hand gehabt und sich zu ritzen begonnen. Er habe sie aufhalten wollen und ihr dabei unter die Arme gegriffen. «Da begann sie, auf mich einzustechen.» Er habe es aber erst gemerkt, als das Blut aus seinem Nacken gespritzt sei. Er habe sich gewehrt, ihr gegen die Hand geboxt, damit sie das Messer losliess. Da sei ihm schwindlig geworden, und er sei zusammengebrochen.

Sie erzählt eine völlig andere Version.

Sie sei am Ende ihrer Kräfte gewesen, seit zwei Tagen habe sie nicht mehr geschlafen. Es sei zum Streit gekommen, er habe gedroht, er werde sie töten. Und er habe sie geschlagen. Da habe sie das Messer auf dem Sofa erblickt. Mit diesem habe er ihr zuvor immer wieder gedroht.

«Ich wollte drohen, damit er abhaut.» Da habe er sie gepackt, und sie habe mit dem Messer herumgefuchtelt. «Ich merkte doch gar nicht, dass ich ihn geschnitten hatte.»

Sie habe auch nicht zugestochen, es sei mehr eine Bewegung aus dem Handgelenk gewesen. Sie habe ihn am Rücken treffen wollen. «Ich wollte ihn verletzen, damit ich abhauen kann. Ich wollte ihn nicht töten. Ich kam ja sogar noch zurück und habe ihn verarztet.»

Der Richter fragt: «Wie viel Alkohol und Drogen hatten sie intus?» Sie sagt: «Viel. Er auch.»

Sie gehen zusammen ins Spital. Damit dort niemand die Polizei ruft, gibt er an, es sei ein Joggingunfall gewesen. Er sei blöd auf Glas gefallen. Auch nach der Tat bleiben sie noch zusammen, drei Wochen bleibt sie bei ihm in der Wohnung.

Der Richter fragt: «Warum blieben Sie?»

«Es gab gute Momente, vielleicht mal eine Stunde», sagt sie. Und da sei noch etwas anderes gewesen. Angst. Angst um sich und um die Mutter. Er habe gedroht, ihnen beiden etwas anzutun.

Das Martyrium der jungen Frau hat erst ein Ende, als die Eltern zusammen mit der Polizei an einem Sonntagmorgen vor der Wohnung stehen. Bernard hatte um Hilfe gebeten. Zuvor an dem Morgen, als sie an einer Tankstelle Gipfeli kauft, ruft sie ihre Mutter an.

Als der Polizist fragt, wie es ihr gehe, erzählt sie von der Gewalt, den Drogen, dem sexuellen Missbrauch. Ihr Freund wird verhaftet und von der Polizei einvernommen.

Esad Kodraj versteht die Welt nicht mehr: «Ein Täter wäre doch weggelaufen», sagt er vor Gericht. Und: «Als die Eltern den desolaten Zustand der Wohnung sahen, da hat sie sich wohl einfach irgendwie rechtfertigen wollen.»

Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Strafverfahren gegen Kodraj. Und wegen des Messerangriffs auch gegen Nina Bernard.

Pia Allemann kennt die Problematik von Fällen wie dem von Nina Bernard und Esad Kodraj. Allemann ist Co-Leiterin der Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft in Zürich. Sie beobachtet bei Vier-Augen-Delikten eine neue Tendenz: «Wenn sich die Frau wehrt, macht der Mann oftmals eine Gegenanzeige.»

Abhängigkeiten in einer Missbrauchsbeziehung würden oft zu wenig gewichtet. In vielen Fällen brauche es bis zu fünf Versuche, bis sich ein Opfer definitiv trenne. «Weil die Frau nicht direkt geflüchtet ist, weil sie noch beim Täter blieb, wird es gegen sie ausgelegt.» Allemann sagt: «Frauen töten, um sich aus Beziehungen zu befreien. Männer töten, um ein Beziehungsende zu verhindern.»

Sie hofft, dass das neue Sexualstrafrecht zu einer anderen Fragestellung führe. «Nicht mehr das Opfer soll erklären müssen, wie es zu einer Tat kam. Es muss vielmehr um die Frage gehen, warum der Täter nicht realisierte, dass das Opfer nicht mehr mitmachen wollte.»

Das Urteil

Wie weit darf eine Frau gehen, um sich gegen ihren gewalttätigen Partner zur Wehr zu setzen? Ist das, was Nina Bernard getan hat, eine erlaubte Notwehrhandlung?

Das Bezirksgericht in Dielsdorf entscheidet: Nina Bernard ist zu weit gegangen, als sie zum Messer griff. Es spricht die junge Frau schuldig wegen versuchten Totschlags zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Auch ihr Ex-Freund Esad Kodraj wird verurteilt. 4,5 Jahre Freiheitsstrafe wegen sexueller Nötigung, Freiheitsberaubung, Nötigung und Drohung lautet in seinem Fall das Verdikt. Unbedingt. Der Vollzug wird jedoch aufgeschoben zugunsten einer ambulanten Behandlung.

«Sie haben sich stabilisiert und gut entwickelt», sagt der Richter bei der Urteilseröffnung zu ihm. Mache er die Behandlung weiter, könne aus der schlechten Prognose des Gutachters eine gute werden.

Zu Nina Bernard sagt der vorsitzende Richter: «Sie haben versucht, sich aus einer Spirale aus Sex, Gewalt und Drogen zu befreien, indem sie ein Messer einsetzten.» Damit habe die junge Frau die Grenze einer erlaubten Notwehrhandlung klar überschritten. Die Gewalt, welche die junge Frau an jenem Tag erlebt habe, habe sich nicht generell von den Vorfällen in den Wochen zuvor unterschieden. Ihre Reaktion sei deshalb nicht entschuldbar, sagt der Richter.

Sie bricht zusammen und muss von ihrer Anwältin aus dem Saal geführt werden. Diese will das Urteil nicht stehen lassen. Denn Schindlberger-Benz sagt: «Man hat viel zu wenig gewürdigt, welcher Gewalt sie zuvor ausgesetzt war.» Sie hat deshalb Beschwerde eingelegt.

Urteil DG 230 019 vom 14. 6. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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