Sonntag, November 24

Über eine Familie, die ihre Wohnung verkauft hat und mit zwei Kindern losgezogen ist.

Eigentlich hätte es ein Sabbatical sein sollen. Ein Jahr Auszeit, ein Jahr Abenteuer. Für uns alle: meinen Mann, meine beiden Töchter, 9 und 11 Jahre alt, unsere kleine Hündin Malia. Und für mich. Zusammen hatten wir einen Pakt geschlossen, einen Familienvertrag: Alle dürfen das Abenteuer sofort abbrechen, wenn es nicht mehr passt.

Nur: Das ist nie passiert. Seit mehr als drei Jahren nicht. Seit 50 000 Kilometern nicht. Seit über hundert verschiedenen Stopps in sieben europäischen Ländern nicht.

Neben unserer Lust auf Abenteuer gab es einen weiteren Grund, warum wir unsere schöne 4½-Zimmer-Wohnung in der Region Basel aufgegeben haben. Eine unserer Töchter litt unter starken Allergien. Diese begannen im Januar mit Haselpollen. Der Übergang zu Birke, Buche und zuletzt Gräser war fliessend. Aufatmen konnte sie erst im August. Das bedeutet, unser Kind musste jedes Frühjahr wochenlang drinbleiben. Dazu kam die ganzjährige Stauballergie. Die einzige Möglichkeit, der Misere entgegenzuwirken, waren die wöchentlichen Spritzen zur Desensibilisierung.

Doch auch die kalte Jahreszeit machte Probleme. Unserer Tochter litt an obstruktiver Bronchitis – einer Art Verkrampfung der Bronchien, die zu Atemproblemen führt. Kein Winter ging vorbei ohne Besuch im Kinderspital.

All das hat unser Familiensystem belastet.

Wir haben gemerkt: Es gibt bessere Wohnorte für Allergiker als die Nordwestschweiz. Das schweizerische Hochgebirge zum Beispiel oder die Nordsee, wo die Schwiegereltern leben. Warum also nicht einfach umziehen?

Unsere Suche nach einem gesünderen Leben für unsere Tochter wollten wir aber nicht mit einem Umzug verbinden, sondern mit einer Reise. Wir hatten über eine Familie gelesen, die ihr Haus verkauft hat und mit ihren Kindern im Wohnmobil durch Grossbritannien gereist ist. Diese Idee liess uns nicht mehr los.

Im Herbst 2019 stellten wir unsere Wohnung auf ein Online-Immobilienportal. Mein Mann und ich informierten unsere Arbeitgeber über unseren Plan. Diese reagierten unterstützend, wenn auch erstaunt. Keine Wiederkehr aushandeln, sondern kündigen – ist das eine gute Idee? Ja, fanden wir. Zurückkommen war keine Option.

Ohnehin wollten wir uns beruflich weiterentwickeln. Mein Mann in der Online-Fachberatung als Interventionsspezialist für frühkindlichen Autismus. Und ich, nach vielen Jahren in der Sozialpsychiatrie und in fordernden Führungsrollen, mit einem Journalismus-Studium.

Im Frühjahr 2020 sollte es losgehen. Die nächste Pollensaison wollten wir nicht mehr in der Schweiz verbringen, sondern an der frischen Atlantikluft.

Es kam anders. Die Pandemie, geschlossene Grenzen. Der bestellte Wohnwagen blieb in der Produktion stecken. Ohne Jobs und ohne Zuhause verkrochen wir uns in einer Mietwohnung in Davos. Der schöne, pollenarme Bergfrühling war unser Trost.

Die Ängste

Uns kamen Zweifel. Wir fragten uns: Sind wir unverantwortliche Eltern? Werden die Kinder überhaupt genug lernen ohne Schule? Wird es ein finanzielles Desaster? Was, wenn etwas Schlimmes passiert?

Dennoch liessen wir uns nicht von unserem Plan abbringen. Und schon bald ging es aufwärts. Im August 2020 war unser Wohnwagen bereit. Unser neues Zuhause. Zuvor lebten wir auf 130 Quadratmetern – jetzt sind es 15. Als Strassengefährt ist unser Anhänger jedoch ein Koloss. Wir nennen ihn liebevoll «Dicker».

Der Dicke

Der Wohnwagen ist eine fahrende Drei-Zimmer-Wohnung. Vorne ist das Kinderzimmer mit Kajütenbett und Tisch – bei Bedarf mit einem Faltvorhang abtrennbar. In der Mitte unsere Küche mit Abwaschbecken, Kühlschrank und WC. Der hintere Bereich ist unser Wohnzimmer mit Esstisch, der auch Arbeitstisch ist. Abends kommt das Elternschlafzimmer als Hub-Bett heruntergefahren. Für uns ist es nicht eng, für uns ist das heimelig. Interessanterweise streiten wir weniger als früher.

Streit hat mehr mit Stress zu tun als mit der Anzahl Quadratmeter, auf denen man lebt.

Unser Leben spielt sich sowieso oft draussen ab. Ungemütlich wird es nur bei längeren Regenzeiten. Vier nasse Jacken, acht nasse Schuhe und ein nasser Hund, das ist unschön. Deshalb entfliehen wir anhaltenden Wettertiefs, wenn möglich.

Die Route

Wir hatten keinen genauen Plan für unsere Reise, kein Navi, das wir minuziös vorprogrammiert hätten. Unser Wegweiser war kein Kompass. Unser Wegweiser war der Pollenflugkalender. Und unser Ziel: der Atlantik.

Alles andere entscheidet seither das Bauchgefühl. Auch ob wir mehrere Wochen an einem Ort bleiben oder nur einen Tag. Zu wissen, dass wir jederzeit abreisen können, wenn die Stimmung oder das Wetter kippt, ist ein befreiendes Gefühl. Es gibt uns Sicherheit.

Wir reisten durch Spanien und Portugal, verbrachten den zweiten Corona-Herbst in Italien und Sardinien. Die Iberische Halbinsel bereisten wir zweimal. Wir waren in Frankreich, Deutschland, und wir überlegten uns kurz, in Portugal sesshaft zu werden. Doch die Reiselust war grösser.

Ein wichtiger Grund war die Gesundheit unserer Tochter, denn: Mit dem Wegzug aus der Schweiz hatte sich ihr Zustand fast schlagartig verbessert. Nach einem Jahr brauchte sie keine Dauermedikation mehr. Das Asthmaspray, früher ein stetiger Begleiter, liegt seit drei Jahren ungebraucht in einer Kiste.

Die Schule

Eine der häufigsten Fragen, die andere stellen, geht so: Wie werden eigentlich die Mädchen beschult? Oft hören wir sie in Kombination mit einer runzelnden Stirn und skeptischem Unterton.

Die ersten zwei Jahre der Reise waren die Kinder an keine Schule angeschlossen. Unsere Töchter wussten: Dieses Abenteuer ist nur möglich, wenn sie eine Schulbildung durchlaufen.

Die beiden folgten also lose dem schweizerischen Lehrplan, und zwar mithilfe von Lernplattformen und Schulbüchern. Damit stellten wir sicher, dass Deutsch, Mathe und Fremdsprachen abgedeckt waren. Den Rest lernten wir da, wo wir gerade waren. Sei es in Italien mit einer Wanderung durch römische Strassen von Pompeji, in Andalusien mit Höhlenmalereien aus der Steinzeit oder mit einem Spaziergang im norddeutschen Wattenmeer. Das ist erlebte Geschichte, Geografie und Biologie.

Im Herbst 2022 meldeten wir die Töchter bei einer internationalen Schule nördlich von Lissabon an. In verschiedenen Lernorten studieren dort Zwölf- bis Achtzehnjährige. Alle in ihrem eigenen Tempo. Da der Schulstoff grösstenteils online vermittelt wird, können die Mädchen Stundenplan und Ferienzeiten frei gestalten. Die Verantwortung für den Lerninhalt an eine Schule abzugeben, entlastete nicht nur uns Eltern, sondern auch die Kinder.

Ob an der Playa de las Catedrales in Spanien (links) oder beim Sonnenuntergang in der Nähe von Hammelburg in Deutschland (rechts): Die Familie verbringt viel Zeit draussen.

Die Freunde

Freundschaften funktionieren auf Reisen anders als auf dem Schulhof. Durch lebendige Expat-Communitys haben wir Verbindungen zu Menschen aus der ganzen Welt geknüpft. Das gilt auch für unsere Mädchen. Sie kommunizieren oft über Whatsapp oder rufen ihre Freunde per Video-Call an. Es gibt auch Menschen, die wir regelmässig unterwegs treffen.

Und vor allem: Die beiden Geschwister haben seit unserer Reise eine sehr enge Beziehung zueinander.

Als wir die Schweiz verliessen, hatten wir noch zwei Kinder im Gepäck. Heute sind unsere Töchter dreizehn und fünfzehn Jahre alt. Zwei sehr unterschiedliche Jugendliche, die wissen, was sie wollen.

Der Rückzugsort

Drei Jahre on the road, das klingt, als wären wir ständig unterwegs. Das ist aber nicht so. Im Sommer etwa halten wir uns von überfüllten Campingplätzen fern. Ohnehin sind dann die Preise bis zu dreimal so hoch wie in der Nebensaison.

Wir können den Dicken jederzeit bei unseren Eltern abstellen. Auch wenn mal alles schiefläuft oder wir uns ein Ziegeldach über dem Kopf wünschen. Deshalb sind Norddeutschland und Südfrankreich unsere regelmässigen Anlaufstellen.

Seit diesem Jahr besitzen wir in den französischen Cevennen auch ein Häuschen. Es ist unser neuer Rückzugsort. Und eine Art Lager für all unsere Sachen, die wir nicht mit auf die Reise nehmen. Das Dörfchen, aus dem meine Urgrossmutter kommt, liegt zentral in Europa. Dort fühlen wir uns zu Hause. Dennoch können wir uns nicht vorstellen, dort für immer zu leben. Für unsere Teenager-Töchter bietet es längerfristig zu wenig.

Die Finanzen

Sicher könnte man unser Leben als privilegiert bezeichnen. Zu reisen und ein Häuschen in Südfrankreich zu besitzen. Wir konnten uns dieses Leben durch den Erlös aus dem Wohnungsverkauf leisten. Einen Teil davon steckten wir in diese Reise.

Doch unser Leben unterwegs ist günstig. Wir brauchen wenig von allem. Das Häuschen in Frankreich kostete einen Zehntel der Wohnung in der Schweiz. Zudem machen wir ja nicht permanent Ferien. Wir arbeiten von unterwegs.

Es geht nur, wenn die Familie zusammenhält. Unterwegs werden Geburtstage genauso gefeiert wie schöne Erlebnisse mit Kindern und Hund.

Das Heimweh

Es gibt auch Momente, da vermissen wir die Schweiz. Es sind jedoch eher alltägliche Dinge: Blévita-Cracker, zum Beispiel, Cervelats und Trämlifahren. Oder Chorsingen im Verein, Cellospielen, Anpflanzen von Gemüse. Natürlich erkennen wir vom Ausland aus auch, wie gut die schweizerische Gesundheitsversorgung ist. Doch egal, wo wir sind oder waren, Apotheken gibt es überall. Genauso Mediziner und Tierärzte.

Der Blick zurück auf unser damaliges Leben zeigt uns vor allem eines: Wir hatten damals von allem zu viel. Zu viel Spielzeug, zu viele Kleider, zu viele Arzttermine und Medikamente. Zu viele Geburtstagsfestli mit zu vielen Geschenkli. Und zu viel Druck.

Bis jetzt haben wir keinen guten Grund gefunden, wieder sesshaft zu werden. Spätestens die Berufsentscheidungen der Mädchen werden neue Weichen stellen. Vorher wollen wir Nordeuropa bereisen. Und wir träumen von Destinationen auf anderen Kontinenten.

Wir träumen, wir planen nicht. Denn wenn wir etwas unterwegs gelernt haben, dann das: Unser Leben richtet sich kaum nach unseren Plänen.

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