Samstag, Oktober 5

Dass sich viele Länder nicht an die migrationspolitischen Abmachungen halten, ist längst der Normalzustand. Kommt es im Ständerat zur Revolte?

Die humanitäre Tradition galt lange als unantastbar. Nun wankt dieser Grundpfeiler der Schweiz, untergraben von den Widersprüchen der eigenen Politik. Die Schweiz zahlt Milliarden an Entwicklungshilfe für Länder, die ihre eigenen Landsleute nicht zurücknehmen. Über 4500 Menschen halten sich derzeit in der Schweiz auf, obwohl sie diese hätten verlassen müssen.

Seit ihrer Ankunft haben sie vor allem das hiesige Asylsystem belastet, das für Menschen gedacht ist, die tatsächlich an Leib und Leben bedroht sind. Zudem liegen sie den Steuerzahlern auf der Tasche. Deren Abgaben werden nicht mehr ausreichen, um die Ausgaben des Staats zu decken. Die humanitäre Tradition war einst der Stolz der Schweiz. Nun droht sie, zu einer Belastungsprobe für den sozialen Frieden zu werden. Bürgerliche Kräfte im Ständerat versuchen nun, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Jährlich über 23 Millionen Franken nach Tunesien

In einer kaum beachteten Mitteilung verkündete die Aussenpolitische Kommission (APK) am Dienstag eine kleine Revolte. Der Bundesrat soll künftig die Entwicklungsgelder an klare Erwartungen im Migrationsbereich knüpfen. Programme der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit sollen «reduziert» werden, wenn die entsprechenden Länder «nicht ausreichend bereit» seien, diese Verknüpfung zu akzeptieren, heisst es in der Mitteilung. Übersetzt bedeutet dies: Ländern, die ihre in der Schweiz abgewiesenen Leute nicht zurücknehmen wollen, werden die Gelder gestrichen.

Der Antrag vom St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth kam mit 8 zu 4 Stimmen bei einer Enthaltung durch die Kommission. Wer die Zusammensetzung der ständerätlichen APK anschaut, kann davon ausgehen, dass nebst den SVP-Mitgliedern und den migrationskritischen Mitte-Ständeräten Würth und Beat Rieder sich wohl auch die FDP-Vertreter Damian Müller und Petra Gössi für den Vorschlag starkgemacht haben. Bildet sich hier eine bürgerliche Allianz, die diesen Namen auch verdient?

Ob der Vorschlag auch im Plenum standhält, wird sich in der anstehenden Herbstsession zeigen. Spätestens im Nationalrat könnte Würths Idee zum Lackmustest für die Mitte sowie die FDP werden. Bringen der Parteipräsident Gerhard Pfister und der Fraktionschef Philipp Matthias Bregy die Mitte-Fraktion auf die Linie der bürgerlichen Ständeräte? Und bringt Damien Cottier die FDP-Fraktion auf den Kurs von Thierry Burkart? Der Präsident der Freisinnigen hat erst jüngst ein strengeres Vorgehen im Asylbereich gefordert. Der Missbrauch des Systems nehme extreme Züge an, sagte Burkart im Interview mit der NZZ. Unter anderem müsse abgewiesenen Asylsuchenden, die vorläufig aufgenommen werden, der Zugang zum Gesundheits- und zum Sozialsystem deutlich eingeschränkt werden.

Die Schweiz beherbergt zahlreiche Personen aus Ländern, denen sie Millionenbeiträge schickt und mit denen sie gleichzeitig auch migrationspolitische Abmachungen unterhält. Dass diese aber nicht eingehalten werden, ist die Regel statt die Ausnahme. Das Aussen- und das Wirtschaftsdepartement haben den APK-Mitgliedern eine Übersicht zusammengestellt, die einen ratlos zurücklassen. Anbei eine Auswahl:

So gibt es eine Migrationspartnerschaft sowie ein Rückübernahmeabkommen mit Georgien. Im Schnitt gut 10 Millionen Franken schickte man in jüngerer Zeit jedes Jahr in den Kaukasus. Gleichzeitig finden sich rund 180 Georgier in der Schweiz, die hätten ausreisen müssen. Auch mit Äthiopien ist ein Rückübernahmeabkommen in Kraft, pro Jahr fliessen im Schnitt knapp 15 Millionen Franken in das Land am unruhigen Horn von Afrika – 164 Rückkehrpendenzen.

Selbst mit dem Irak gibt es ein Migrationsabkommen, über 12 Millionen Franken zahlt die Schweiz jährlich, über 300 Abgewiesene halten sich in der Schweiz auf. Und auch in Eritrea werden jedes Jahr Projekte mit durchschnittlich knapp einer Million Franken unterstützt. Eritrea weigert sich bekanntlich kategorisch, die eigenen Landsleute zurückzunehmen. Über 250 abgewiesene Eritreer sind nach wie vor in der Schweiz.

Mit Marokko gibt es zwar keine Abkommen. Gleichwohl unterstützt die Schweiz dort Projekte mit über 3 Millionen Franken pro Jahr – unter anderem im Tourismusbereich. Über 300 Marokkaner müssten die Schweiz verlassen. Mit dem Maghrebstaat Tunesien wiederum unterhält die Schweiz eine Migrationspartnerschaft und ein Migrationsabkommen. Die Schweiz überweist jedes Jahr über 23 Millionen Franken. Gleichwohl leben 140 Tunesier in der Schweiz.

Jans und Cassis müssten zusammenspannen

Afghanistan ist ein besonderer Härtefall. Über 140 abgewiesene Afghanen halten sich in der Schweiz auf, obwohl eigentlich ein Rückübernahmeabkommen in Kraft wäre. Das hält den Bund nicht davon ab, jedes Jahr mehr als 35 Millionen Franken für Projekte in dem versehrten Land auszugeben. Die humanitäre Tradition der Schweiz ist längst eine Einbahnstrasse geworden. Selbst wenn es dem Parlament gelingt, dem Bundesrat einen Richtungswechsel aufzuzwingen, bleibt es ein kühnes Unterfangen.

Entscheidend wird auch sein, ob die beiden Departemente ihre Zuständigkeiten verknüpfen können. Wenn das Anliegen tatsächlich durchkommen sollte, müssen dereinst der Asylminister Beat Jans mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) und der Aussenminister Ignazio Cassis mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) enger zusammenarbeiten.

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