Donnerstag, November 28

Das McLaren-Team steht erstmals seit zehn Jahren an der Spitze der Konstrukteurs-Wertung. Beide Fahrer sind gut in Form, deshalb hat es nun vor allem den Haussegen zu bewahren. Oscar Piastri, der im Fall der Stallorder eher zurückstecken muss, reagiert darauf mit Coolness.

Für einen Moment gerät Oscar Piastri ins Schwanken. Er fällt fast nach hinten, als er auf das Cockpit seines Rennwagens steigt, dann kann er sich gerade noch so auf den Füssen halten. Die typische Pose aller Formel-1-Sieger ist noch ungewohnt für den Australier. Der Triumph im Grand Prix von Aserbaidschan am vergangenen Sonntag war erst der zweite für den McLaren-Pilot in der Königsklasse.

Gefahren war Piastri mit seinen erst 23 Jahren wie ein Routinier. Mit einem aufsehenerregenden Überholmanöver hatte er den Ferrari-Fahrer Charles Leclerc nach dem ersten Renndrittel in Baku von der Spitze verdrängt, ehe er sich gegen den Monegassen über eine Stunde lang bravourös verteidigte. Möglich, dass die Branche an jenem Nachmittag einen Weltmeister der Zukunft gesehen hatte.

Ironie des Schicksals: Dass just vor dem letzten Rennwochenende Piastri zu Schützenhilfe für seinen Teamkollegen Lando Norris aufgefordert worden war. Piastri fügte sich zunächst ohne grosse Wortgefechte, weil Aufbegehren nicht seine Art ist. Er ist so zielstrebig, dass er keine Energie verschwendet, schon gar nicht an Small-Talk. Er beteuerte nur, dass er durchaus noch Rennen gewinnen könne – was er anschliessend prompt tat. Weil Norris, den er hätte unterstützen sollen, in Baku gepatzt hatte und eine Stallorder keinen Sinn ergeben hätte.

Ein würdiger Nachfolger für Kimi Räikkönen

Die Stallorder bei McLaren, dem Team mit der zurzeit grössten Harmonie, war vage formuliert worden, sollte situativ gehandhabt werden. Denn wer hat schon zwei potenzielle Weltmeister im Rennstall? Und so war Piastri in Baku da, als Norris sich seiner Chancen beraubte. Ob der ausgeglichenen Stärke steht die britische Mannschaft erstmals seit zehn Jahren wieder an der Spitze der Konstrukteurs-Wertung. Red Bull Racing scheint diesen Titel bereits abgeschrieben zu haben.

Gut möglich, dass auf den erfolgreichen McLaren-Teamchef Andrea Stella nun ein neues Luxusproblem zukommt. Behält Piastri, der erst 39 Formel-1-Einsätze absolviert hat, seine Konstanz und gute Form, dann kann er in den verbleibenden sieben WM-Rennen sowohl Norris als auch Verstappen überholen. Im Vergleich mit dem Teamkollegen liegt Piastri nur 32 Punkte zurück, der jüngste Erfolg dürfte ihn zusätzlich beflügeln. Norris liegt vor dem GP von Singapur vom kommenden Sonntag noch 59 Punkte hinter dem strauchelnden WM-Leader Max Verstappen.

Was für Piastri spricht: Er wirkt entschlossener als Norris. «Killer-Instinkt» nennen sie das in der Szene. Doch das mag so gar nicht passen zu dem Fahrer mit dem jungenhaften Gesicht. Ein deutsches Magazin hat Piastri deshalb einen «eiskalten Engel» genannt.

Für die meisten aber ist der Aufsteiger des Jahres schlichtweg der neue «Iceman» der Formel 1 und damit ein würdiger Nachfolger des Finnen Kimi Räikkönen. Ebenso kühl, ebenso schnell, aber wesentlich kommunikativer, deutlich strukturierter und vor allem fahrerisch kompletter erscheinend. Die beinahe schmerzhafte Emotionslosigkeit in Verbindung mit einem gesunden Eigensinn hatte sich bei Piastri in Baku im erwähnten spektakulären Zweikampf mit Leclerc ausgedrückt.

Piastri, der 25 Meter hinter dem Ferrari lag, kam wie aus dem Nichts herangeschossen, zwängte sich innen vorbei, balancierte über den Randstein – und fuhr davon. Eine Szene, die auf diese Weise gar nicht hätte stattfinden dürfen. Denn kurz vorher hatte ihn sein Renningenieur Tom Stallard ermahnt: «Fang schonend an mit deinen frischen Reifen.» Aber der Fahrer hatte lieber seinem Gespür vertraut: «Ich dachte, wenn ich diese Chance nicht nutze, bekomme ich keine weitere mehr. Das Risiko war gross, aber ich musste es einfach tun.»

Seine Ansprüche auf einen Titel meldet er qua Leistung an. Sein Manager Mark Webber lobt: «Oscar geht sehr methodisch an die Dinge heran.» «Klinisch» wäre der vielleicht noch passendere Begriff. Auf seine lakonische Art angesprochen, entgegnete Piastri, dass der entspannte Charakter Ausdruck seiner Persönlichkeit sei.

Der Motorsport habe ihn so werden lassen: «Man wird mit vielen Dingen konfrontiert, die man nicht kontrollieren kann. Das zu akzeptieren, ist ein entscheidender Faktor dafür, dass ich ruhig bleiben kann.» In einem Sport, in dem sich alles am Limit bewegt, ist es nach Piastris Ansicht ein schmaler Grat, auf dem er zu wandeln gelernt habe: «Konzentration heisst für mich, nicht zu lethargisch zu sein – aber auch nicht zu aufgeregt.»

Abzuwarten bleibt, ob und wann aus dem Miteinander ein Gegeneinander wird

Mit einer ähnlichen Gelassenheit geht Andrea Stella bei McLaren zu Werke. Als gelernter Ingenieur ist er verliebt ins Detail, klar im Urteil, prinzipientreu. Er studiert aber auch die Menschen und setzt entsprechend auf die emotionale Komponente. Deshalb hat er sich lange gegen eine Stallorder zu Gunsten von Norris gewehrt, und Stella tat gut daran, den Haussegen gewahrt zu haben.

Tatsächlich war es der vorgesehene Nummer-Eins-Fahrer Norris, der in Baku einen erheblichen Anteil am Sieg Piastris hatte. In der Boxenstopp-Phase blockte er Sergio Perez im Red Bull so lange, bis Piastri vor dem Mexikaner auf die Strecke zurückkehren und dann zu seinem Angriff auf die Spitze ansetzen konnte. «50 Prozent am Sieg gehören deshalb Lando», befindet Stella, «das verstehen wir unter Mannschaftsleistung».

Abzuwarten bleibt, ob und wann aus dem Miteinander ein Gegeneinander wird. Norris hat das gleiche Talent wie Piastri, erscheint aber nervöser und grüblerischer. Auf den Hinweis, dass er nun der erfolgreichste Fahrer der letzten sieben Rennen und damit des Formel-1-Sommers sei, antwortete Piastri erwartet abgeklärt: «Vielleicht ist ein anderer der Beste der letzten acht Rennen gewesen.» Sich die Welt schönzureden, so funktioniere er eben nicht.

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