Sonntag, November 17

Nadine Wallner gehört zu den profiliertesten Alpinistinnen der Welt. Ein lebensbedrohlicher Sturz prägte die Österreicherin auf überraschende Art: Sie wurde lockerer und unbeschwerter.

In einem Sekundenbruchteil kann das Leben vorbei sein. Die meisten Menschen machen sich das nur selten bewusst. Nadine Wallner hat es am eigenen Leib erfahren.

Im April 2014 verlor die Extremskifahrerin bei Dreharbeiten in Alaska in den engen Kurven eines zerklüfteten Steilhangs den Halt. Unkontrolliert rutschte sie mindestens 250 Höhenmeter in die Tiefe. Weil sie sich gleich zu Beginn des Sturzes ein Bein brach, löste sich die Bindung eines ihrer Ski nicht. Immer wieder bohrte sich der Ski wie ein Anker in den Schnee und katapultierte Wallner gegen den Hang.

Wer die erstaunlichen Leistungen der Vorarlbergerin in den Bergen verstehen will, muss nachvollziehen, was der Sturz vor zehn Jahren in ihr auslöste. Trotz der vermeintlich glimpflichen Diagnose nach sechsstündiger Bergung (offener Schien- und Wadenbeinbruch) war für sie anschliessend nichts mehr wie vorher. 2013 war Wallner als jüngster Rookie Freeride-Weltmeisterin geworden. 2014 wiederholte sie den Coup. Danach konnte sie in den riskanten Wettkämpfen, in denen Jurys die Fahrstile in unberührtem Schnee bewerten, nie mehr an ihre damaligen Leistungen anknüpfen.

Kleinigkeiten geniessen, Dankbarkeit empfinden

Wallner wurde ein Reifeprozess aufgezwungen. Sie wandte sich anderen Dingen zu: dem Klettern, der Bergführerausbildung. Und sie schaffte es, den Umbruch als Chance zu begreifen. Sie lernte, Kleinigkeiten zu geniessen. Bewusster zu leben. Und vor allem: in den Bergen keinen Leistungsdruck zu empfinden, sondern Dankbarkeit.

Heute ist die 35-Jährige eine der profiliertesten Alpinistinnen der Welt, sie gehört sowohl im Extremskifahren als auch im Klettern zu den Besten. Zwei höchst unterschiedliche Erfolge illustrieren ihren Weg exemplarisch: Die fast spontane Durchsteigung der bohrhakenfreien Route «Prinzip Hoffnung» im März 2019 in ihrer Vorarlberger Heimat, Schwierigkeitsgrad 8b/+, als zweite Frau und zehnter Mensch. Und die Befahrung der Matterhorn-Ostwand auf Ski im Mai 2024: 1000 Höhenmeter, in denen kein Sturz passieren durfte.

Wer sich Wallners Expeditionsvideos anschaut und sich mit ihr unterhält, stellt Überraschendes fest: Dieser Frau fehlt jede Verbissenheit. Sie betrachtet die extremen Touren nicht als Verpflichtung, Erwartungen von Sponsoren und anderen Geldgebern zu erfüllen. Sondern als Geschenk, der eigenen Passion nachgehen zu dürfen. Im Fokus steht nicht die Anstrengung, sondern die Lebensfreude. Wallner selbst sagt es so: «Ohne Humor kann man nach Hause gehen.»

Was das konkret bedeutet, wird im Kurzfilm «Backyard» augenfällig, der in diesen Wochen an der «European Outdoor Film Tour» auch in Schweizer Städten läuft. Zu sehen ist, wie Wallner ohne Unterbruch fünf Aufstiege und Abfahrten bewältigt, insgesamt 3000 Höhenmeter in extremem Gelände. Unterwegs vergisst sie nie, ihrer guten Laune zu frönen: ein Tänzchen auf einem Gipfelgrat, befreites Gelächter mit dem Skipartner bei Zwischenstopps. Andere Profi-Alpinisten wirken bisweilen, als seien sie in heiliger Mission unterwegs, so ernst und fokussiert schauen sie drein. Wallner könnte das kaum passieren.

EOFT 2024 - BACKYARD Trailer

Wobei die Lockerheit nicht zu dem Fehlschluss führen sollte, dass die Österreicherin leichtfertig Leib und Leben riskiert. Wenn es Wallner vor Touren mulmig wird, nimmt sie sich Zeit, die Bedenken rational zu erfassen. Sie spricht mit Kollegen über die Pläne, spielt Schlüsselmomente durch, analysiert das Wetter und die Verhältnisse. Verschwänden die Bedenken dennoch nicht, passe sie ihre Pläne an: «Wenn ich ein schlechtes Gefühl habe, obwohl dafür objektiv kein Grund besteht, bin ich in einer schlechten Verfassung. Dann bin ich die Gefahr. Also mache ich an jenem Tag lieber etwas Leichteres.»

Erfolge im Gebirge lassen sich nicht erzwingen. Das zu akzeptieren, hilft womöglich nicht nur, länger zu leben. Sich vom Druck zu lösen, kann auch unerwartete Erfolge ermöglichen. Wie im Falle Wallners in der Vorarlberger Kletterroute «Prinzip Hoffnung». Glaubhaft versichert sie, ihr sei seinerzeit nicht bewusst gewesen, dass vor ihr nur neun Menschen die 40 Meter hohe Steilwand ohne Bohrhaken durchstiegen hätten. Den Versuch unternahm sie ohne maximal akribische Vorbereitung.

Der ehemalige Weltklasse-Kletterer Beat Kammerlander hatte die Sicherungen einst entfernt, um ein traditionelles Klettern zu ermöglichen, bei dem Klemmkeile oder Bandschlingen gelegt werden müssen. Kammerlander trainierte anschliessend an den engen Rissen, bis ihm laut eigener Aussage die Finger bluteten. Er berichtete von schlaflosen Nächten aus Angst vor Stürzen. Als ihm im September 2009 schliesslich die Durchsteigung gelang, sagte er: «Es ist eine Hölle von einem Kampf.» Er zelebrierte das Projekt tatsächlich als heilige Mission.

Wallner wiederholte «Prinzip Hoffnung» knapp zehn Jahre später auf ihre eigene Art. Ohne maskuline Triumphgesten, ohne verbale Selbstüberhöhungen. Sie sagt, sie freue sich jedes Mal, wenn eine weitere Frau die Route schaffe oder ihr an einem anderen Ort sogar zuvorkomme. Schliesslich sei man in den Bergen keine Konkurrenz. Sondern man inspiriere sich gegenseitig.

Dafür ist die Alpinistin im Umgang mit Instagram und anderen Plattformen zurückhaltend geworden. Manchmal zögert sie tagelang, von Touren zu berichten, manchmal unterlässt sie es ganz, so sehr stört sie sich an den Reaktionen. Immer wieder liest sie in den Kommentaren den Vorwurf, allzu tollkühn unterwegs zu sein, ungeachtet ihrer Bergführerlizenz und ihres Erfahrungsschatzes. Andere nähmen ihre Schilderungen zum Anlass, ihr nachzueifern: «Als dächten sie, was eine Frau schafft, schaffe ich auch.»

Einmal kletterte Wallner an einem schönen Sommertag alleine in Turnschuhen aufs Matterhorn. Sie behielt es lieber für sich.

Im dritten Anlauf gelingt das Matterhorn-Projekt

Der bekannteste Berg der Schweiz übt auch auf Wallner eine spezielle Faszination aus. Zweimal versuchte sie in früheren Jahren erfolglos, die Ostwand auf Ski zu bewältigen: Bereits während der Aufstiege kehrte sie wieder um. Der dritte, erfolgreiche Anlauf passierte schliesslich, wieder einmal, fast spontan. In einem Moment also, als Verbissenheit gar nicht erst aufkommen konnte.

Nur alle paar Jahre lassen die Bedingungen die Abfahrt grundsätzlich überhaupt zu. Die Wand muss durchgehend mit Schnee bedeckt sein, wobei dieser gleichzeitig nicht vollständig vereist sein darf. Entscheidend fürs Gelingen der Abfahrt ist zudem die Wahl des Zeitfensters: Der Versuch muss am frühen Morgen stattfinden, wenn der Schnee etwas aufgetaut, aber noch nicht zu weich ist. Wer sich im Frühjahr an den Berg wagt, kann auf eine Firnabfahrt spekulieren.

Während eines Ausbildungscamps in Zermatt als Bergführerin stellte Wallner im Mai fest, dass die Bedingungen so günstig waren wie selten. Also machte sie sich gemeinsam mit Arianna Tricomi, Valentin Zufferey und Ramona Volken kurzerhand auf den Weg. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, das Unterfangen mit Unterstützung ihrer Sponsoren professionell zu inszenieren.

Das Quartett startete um 4 Uhr 30 an der Hörnlihütte. Die Alpinistinnen und der Alpinist stiegen nicht über den viel begangenen Hörnligrat zum etwa 4000 Meter hohen Startpunkt. Sondern direkt durch die Ostwand, aus Zermatter Perspektive links vom Grat. «Es ist sehr vorteilhaft, die geplante Linie zu erklettern, um sich Details und Schneeverhältnisse einzuprägen», sagt Wallner.

Die Matterhorn-Ostwand ist durchschnittlich über 45 Grad steil, an manchen Stellen über 50 Grad. Das ist mehr als doppelt so steil wie schwarze Pisten. «Wegen des hartgefrorenen Schnees fühlt es sich sogar noch steiler an», sagt Wallner. An den Konsequenzen eines Fehlers besteht für sie kein Zweifel: «Wenn man am Matterhorn stürzt, ist die Konsequenz der sichere Tod.»

Die Abfahrt gelang ohne Zwischenstopp. Im oberen Teil der Wand mit gesprungenen Kehren, unten immer häufiger mit ausgefahrenen Kurven. Wallner sagt, trotz der unvermeidlichen Anspannung, die bis zum Ende angehalten habe, seien die 1000 Höhenmeter ein Genuss gewesen: «Sobald ich Ski anhabe, fühle ich mich sehr wohl.» Die Freude ist spürbar.

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