Montag, November 25

Bei der Wahl hat er zwar ein ausserordentlich schlechtes Ergebnis erzielt. Trotzdem wird Kanzler Karl Nehammer wohl an der Macht bleiben. Doch seine Strategie, die FPÖ auf Distanz zu halten, birgt Tücken.

Karl Nehammers riskante Strategie ist aufgegangen – zumindest vorerst. Der österreichische Bundeskanzler hat trotz dem historisch grössten Verlust seiner konservativen ÖVP bei der Nationalratswahl von Ende September beste Chancen, sein Amt zu behalten. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat ihm vergangene Woche den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, erste Gespräche dafür haben bereits stattgefunden.

Es ist ein Bruch mit den Gepflogenheiten: Erstmals ist nicht der Chef der stimmenstärksten Kraft als Erster damit betraut worden, eine Mehrheit zu suchen. Die grosse Wahlsiegerin war die FPÖ unter Herbert Kickl, die das Vorgehen Van der Bellens entsprechend scharf kritisierte. Von einem «schwarzen Tag für die Demokratie» war die Rede und einer «Koalition der Verlierer», die nun bevorstehe.

Auch Nehammer hatte aus taktischen Gründen dafür plädiert, dass zunächst Kickl zum Zug kommen solle. Das hätte es der FPÖ schwerer gemacht, sich als Opfer des von ihr oft beklagten «Systems» zu gebärden. Allerdings hatte der Präsident Kickl durchaus Zeit eingeräumt, um Gespräche zu führen und herauszufinden, ob auch nach der Wahl gilt, was davor gesagt worden war – nämlich, dass niemand mit dem FPÖ-Chef zusammenarbeiten will. So musste dieser dem Staatsoberhaupt nach den Unterredungen genau das berichten.

Der Wählerwille ist nicht so klar, wie es Kickl darstellt

«Die radikalen Kräfte haben sich selbst aus dem Spiel genommen», sagte Nehammer dazu. Herbert Kickl sei gescheitert, und die FPÖ sei unter dessen Führung nicht mehrheitsfähig. Es reiche eben nicht, als Erster durchs Ziel zu gehen, so der Bundeskanzler. Das besonders Herausfordernde sei, Kompromisse zu finden und aufeinander zuzugehen. Nehammer wirkte dabei, als müsste er ein Vorgehen rechtfertigen, das indes nur auf den ersten Blick unschön wirkt. Denn so klar, wie es Kickl darstellt, ist der Wählerwille keineswegs. Auch wenn am Sieg der FPÖ kein Zweifel besteht, haben mehr als 70 Prozent der Wählenden ihre Stimme Parteien gegeben, die explizit und vehement jede Zusammenarbeit mit ihm ausgeschlossen hatten.

Überraschend war das nur im Fall der ÖVP. Die Konservativen regieren in drei der neun Bundesländer mit der FPÖ, und mit Vorarlberg dürfte bald ein viertes dazukommen. Auf Bundesebene hatten sie sich 2017 unter Sebastian Kurz rasch mit den Rechtspopulisten zu einer Koalition zusammengefunden und danach bis zum Platzen des Ibiza-Skandals betont harmonisch mit ihnen zusammengearbeitet.

Kurz machte Kickl damals zum Innenminister und überantwortete der FPÖ damit die Aufsicht über sämtliche zivile Sicherheitsbehörden. Der Entscheid wurde schon damals unter anderem wegen der Verbindungen zu Rechtsextremisten und der Russland-Nähe der Partei kritisch gesehen – und er steht am Ursprung der Entfremdung zwischen der ÖVP und Kickl. Die Konservativen hatten das Innenministerium zuvor fast zwanzig Jahre lang kontrolliert, und Kickl machte sich daran, ihre dortigen Netzwerke zu zerschlagen. Das war vermutlich der Hintergrund der später als widerrechtlich qualifizierten Razzia, die er kurz nach Amtsantritt 2018 beim Verfassungsschutz veranlasste und die dazu führte, dass der österreichische Nachrichtendienst international das Vertrauen verlor.

«Ibiza» bot den Anlass zur Retourkutsche: Kurz erzwang die Entlassung seines Innenministers, obwohl dieser mit den Vorkommnissen auf der Ferieninsel nichts zu tun hatte. Das führte nicht nur zum Ende der Koalition, sondern auch zu einem nachhaltigen Zerwürfnis zwischen Kickl und der ÖVP.

Nehammer kommt dabei eine besondere Rolle zu: Er war während der schwarz-blauen Koalition ÖVP-Generalsekretär und musste Herbert Kickl in dieser Funktion sechs Mal im Parlament gegen Misstrauensanträge verteidigen, woran er in den vergangenen Monaten mehrmals erinnerte. In der zweiten Regierung Kurz mit den Grünen war er zunächst Innenminister und bekam damit die Folgen der Amtsführung Kickls direkt zu spüren: Der Verfassungsschutz war zertrümmert und vom internationalen Informationsaustausch abgeschnitten. Erst die unter Nehammer aufgebaute Nachfolgeorganisation konnte das Vertrauen wiederherstellen.

Die Antipathie zwischen Nehammer und Kickl ist augenfällig

Die Pandemie trieb einen weiteren Keil zwischen die beiden Parteichefs. Er habe einmal ein recht gutes Verhältnis zu Nehammer gehabt, erklärte Kickl im gemeinsamen TV-Duell unmittelbar vor der Wahl. Doch dann habe der Bundeskanzler versucht, das Land mit seiner Corona-Politik «aus einem demokratischen in einen totalitären Ausnahmezustand zu überführen». Kickl hatte sich früh an die Spitze der Bewegung gegen die Corona-Massnahmen gestellt und die Regierung in drastischen Worten gegeisselt. Menschenverachtung und Volksverrat warf er dem Kanzler vor, der dafür auf seiner «Fahndungsliste» stehe.

Etwas sachlicher, aber auch nicht zimperlich äusserte sich Nehammer in den vergangenen Monaten. Der FPÖ-Chef habe sich radikalisiert, hänge Verschwörungstheorien an und sei ein Sicherheitsrisiko für das Land. In Anspielung auf dessen Zeit im Innenministerium sagte der Kanzler, Kickl sei «schwach in der Umsetzung. Er kann es nicht.» Die Antipathie ist zuweilen augenfällig. In der Elefantenrunde des ORF vor der Wahl würdigte Nehammer den FPÖ-Chef kaum eines Blickes.

Auch wenn die inhaltlichen Überschneidungen der beiden Parteien in wichtigen Fragen gross sind, ist eine Zusammenarbeit deshalb nur ohne einen der beiden derzeitigen Vorsitzenden vorstellbar. Ein Rückzug Kickls in die zweite Reihe wäre nach seinem grossen Sieg widersinnig, zumal die FPÖ mit einem solchen Manöver Jörg Haiders im Jahr 2000 schlechte Erfahrungen gemacht hat: Es führte letztlich zu einer Spaltung der Partei. Sie ist deshalb bereit, eher auf eine Regierungsbeteiligung zu verzichten als auf Kickl.

Vorerst geniesst auch Nehammer den Rückhalt seiner Partei, trotz dem Absturz in der Wählergunst. Der Vorstand sprach ihm Anfang Oktober einstimmig das Vertrauen aus. Immerhin dürfte er für die ÖVP das Kanzleramt verteidigen, in das er erst in den vergangenen Monaten so richtig hineingewachsen zu sein scheint. An seinem besonnen und staatsmännisch geführten Wahlkampf gibt es kaum Kritik. Es ist auch keine logische Nachfolge in Sicht, anders als damals mit Kurz.

Allerdings werden die Regierungsverhandlungen mit der unter Andreas Babler nach links gerückten SPÖ schwierig, zumal die Wirtschafts- und Budgetlage tiefgreifende Reformen erfordert. Aus Industriellenkreisen ist denn auch Kritik an Nehammers Strategie zu vernehmen. Das zwingt den Kanzler dazu, in den Gesprächen rasch Erfolge zu erringen. Ende November wählt mit der Steiermark ein wichtiges Bundesland, und auch da könnte die FPÖ erstmals stärkste Kraft werden, während der ÖVP ein Absturz droht. Das würde den Druck auf Nehammer erhöhen.

Eine erste Einigung gibt es nach dem Gesprächstermin mit der SPÖ bereits: Nehammer wie Babler erklärten, es dürfe kein «Weiter wie bisher» geben. Aus dem Mund des Kanzlers und Chefs einer Partei, die seit 37 Jahren regiert, klingt es seltsam.

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