Mittwoch, Januar 15

Die Evolutionsbiologin Carole Hooven hat die Doppelmoral erlebt, die bei der Redefreiheit an der Universität Harvard angewendet wird. Ihre Geschichte zeigt, was für eine Macht die angeblich Machtlosen haben.

Carole Hooven unterrichtete während zwanzig Jahren in Harvard. Hier hatte die Evolutionsbiologin über Geschlechtsunterschiede und Testosteron promoviert. Sie leitete als Co-Direktorin die Abteilung für menschliche Evolutionsbiologie. Sie liebte ihren Job, sie war bei den Studenten beliebt. Bis zu dem Tag, als sie beim Fernsehsender Fox News auftrat.

Im Rückblick nennt sich Hooven naiv. Doch hört man ihre Geschichte, so kann man keine Verfehlung erkennen. Stattdessen steht ihr Fall beispielhaft für eine Kultur der Intoleranz, wie sie sich an Universitäten ausgebreitet hat, nicht nur in den USA. Der Fall der 57-Jährigen offenbart eine Doppelmoral im Umgang mit der Redefreiheit.

Zum «poster child», zum Aushängeschild, wie Carole Hooven sagt, wurde sie in der medialen Öffentlichkeit erst jetzt – durch den Aufruhr an der Universität Harvard und anderen amerikanischen Elite-Unis nach dem Massaker der Hamas in Israel.

In Bluse und Faserpelz-Gilet sitzt Carole Hooven beim Zoom-Gespräch bei sich zu Hause in Cambridge, Massachusetts, und erzählt, was im Sommer 2021 vorgefallen ist. Harvard, ihr einstiger Arbeitsort, liegt vierzig Kilometer entfernt. Was damals passiert sei, habe ihren Ruf und ihre Karriere zerstört, sagt sie. Immer wieder kämpft sie mit den Tränen.

Feldforschung mit Schimpansen

In jenem Sommer wurde Carole Hooven von Fox News um ein Statement zur Gender-Debatte gebeten. Hooven hatte sich einen Namen gemacht als Autorin eines populärwissenschaftlichen Buchs über das Hormon Testosteron. Im Buch, das unter dem Titel «T wie Testosteron» auch auf Deutsch erschienen ist, geht es darum, wie das sogenannte Männlichkeitshormon unser Verhalten beeinflusst.

Hooven berichtet von ihrer Feldforschung in Uganda, wo sie testosterongetriebene Schimpansen beobachtete. Sie leitet her, warum häusliche Gewalt in den meisten Fällen von Männern ausgeübt wird. Auch beschreibt sie die Rolle von Testosteron bei der Transition, der Geschlechtsangleichung. Sie lässt dafür ausführlich Transmenschen zu Wort kommen. Das Buch ist süffig geschrieben, glänzt aber auch durch sachliche Differenziertheit. Es wurde in Fachpublikationen gelobt und in den Medien von «Wall Street Journal» bis «FAZ» besprochen.

Die Expertin wurde vom Fox-Moderator also gefragt, was sie von einer Tendenz bei der Ausbildung von Medizinern halte: dass nämlich Professoren an medizinischen Fakultäten angewiesen würden, die Begriffe «männlich» und «weiblich» zu vermeiden. Auch «schwangere Frau» kann eine studentische Beschwerde nach sich ziehen. Empfohlen wird die «schwangere Person»: So fühlt sich eine biologische Frau, die ein Kind erwartet, sich aber als Mann identifiziert, nicht diskriminiert.

Carole Hooven sagte ins Mikrofon, sie halte die Sprachregelung für einen Fehler. Aus biologischer Sicht gebe es zwei Geschlechter – männlich und weiblich. Die Begriffe seien wertvoll, und man sollte sich dem Druck von Ideologen nicht beugen.

Sie sagte aber auch, dass man mit dem Wissen um die biologischen Fakten andere dennoch mit Respekt behandeln könne. Man solle, so sagte sie, «die Geschlechtsidentität eines Menschen respektieren und seine bevorzugten Pronomen verwenden».

Doch das wurde von den Leuten in Harvard nicht gehört, die Hooven in den Wochen danach das Leben unerträglich machten. Hooven wurde auf Twitter als transphob beschimpft und in internen Mails für ihre «schädlichen» Bemerkungen verunglimpft. Leiter anderer Fachbereiche stellten sich gegen sie. Freunde liessen sie fallen. Dies alles ist gut dokumentiert.

Auch die Campus-Zeitung «The Harvard Crimson» berichtete und veröffentlichte ein Solidaritätsschreiben der Studentengewerkschaft. Diese warf Hooven absurderweise vor, sie gefährde ihre Angreifer, indem sie sich auf Twitter vor ihnen verteidigte. Und diese also exponiere.

Den Mob führte eine Doktorandin an, die auch die DEI-Arbeitsgruppe in Carole Hoovens Abteilung leitete. DEI ist die Abkürzung für «Diversity», «Equity» und «Inclusion». Das Bemühen, eine diverse, gerechte und inklusive Atmosphäre zu schaffen, hat an amerikanischen Universitäten einen riesigen bürokratischen Wasserkopf zur Folge. In diesen Verwaltungen sammelt sich viel Macht, so dass sich jemand, der sich angeblich fehlbar verhielt, schnell isoliert fühlen kann. In einem solchen Klima sagen Professoren und Dozenten nicht mehr, was sie denken.

Professoren zensurieren sich selbst

Es ist das Schweigen ihrer Kollegen in Harvard, das Hooven bis heute zu schaffen macht. Niemand wolle seinen Ruf riskieren, sagt sie. Denn jeder wisse, dass man allein durch «falsche» Sprache beschämt oder sogar entlassen werden könne. Oder eben, wenn man sich für die falschen Leute einsetzt.

So verlor der afroamerikanische Juraprofessor Ronald Sullivan 2019 seine Stelle in Harvard, weil er als Anwalt Harvey Weinstein verteidigen wollte. Studenten protestierten gegen diesen «traumatisierenden» Entscheid. Die Uni-Leitung knickte ein.

Hooven hoffte, dass sich jemand von verantwortlicher Stelle für sie einsetzte. Nicht, um Hoovens Meinung, sondern die freie Meinungsäusserung zu verteidigen, die eine Elite-Universität auszeichnet. Sie erhoffte sich ein Wort der Dekanin der Faculty of Arts and Science, zu der die Evolutionsbiologie gehört. Dekanin war damals Claudine Gay. Erst später wurde diese zur Harvard-Präsidentin gewählt. Doch von Gay kam nichts. Als es für Carole Hooven nicht mehr auszuhalten war, kündigte sie.

Das Hearing im Kongress

Carole Hoovens Fall wurde Anfang vergangenen Dezembers erwähnt, als die damalige Harvard-Präsidentin Claudine Gay bei einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress aussagte. Gay musste zu den antisemitischen Vorfällen an der Elite-Universität nach dem 7. Oktober Stellung nehmen. Es sei vom Kontext abhängig, sagte sie, ob der Aufruf zum Genozid an Juden gegen die Regeln in Harvard verstossen.

Darauf fragte sie der republikanische Kongressabgeordnete Tim Walberg: «Carole Hooven, eine Evolutionsbiologin in Harvard, wurde zum Rücktritt gezwungen, weil sie erklärte, das Geschlecht eines Menschen sei biologisch und binär. In welcher Welt ist ein Aufruf zur Gewalt gegen Juden eine geschützte Äusserung, aber die Überzeugung, dass das Geschlecht biologisch und binär ist, nicht?»

Auf den Einwand des Republikaners Walberg versicherte Claudine Gay: Wer in Harvard studiere, lerne als Erstes, dass auf dem Campus eine «inklusive Gemeinschaft» herrsche. Diese habe sich «der freien Meinungsäusserung verschrieben». Für Carole Hooven klang das wie ein Hohn. Inzwischen ist Gay als Präsidentin von Harvard zurückgetreten.

Belastender Psycho-Krieg

Hört man Geschichten wie jene von Hooven, denkt man: Warum hat sie nicht Widerstand geleistet, warum ertrug sie die Angriffe nicht einfach und stand für sich und ihre Meinung ein? Damit ginge sie mit gutem Beispiel voran im enger werdenden Diskurs, den sie selber beklagt. Wäre es nicht gerade wichtig gewesen, Stärke zu zeigen und auszuharren?

Sie sei in der Hierarchie von Harvard zu weit unten gestanden, sagt Hooven. Auch kann man wohl erst nachempfinden, wie belastend die feindliche Stimmung ist, wenn man sie selber erlebt.

Sie ist nicht die Erste, die aufgrund einer solchen Stimmungsmache an einer Uni kapituliert. Die britische Philosophie-Professorin Kathleen Stock verliess 2021 ihre Universität in Sussex: Die Feministin wurde ebenfalls wegen ihrer Ansichten zu Transgender aus dem Amt gemobbt. Sie hatte am Schluss Panikattacken.

Die Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht sah sich 2022 von der Humboldt-Universität in Berlin im Stich gelassen. Diese sagte voreilig Vollbrechts Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie ab, weil Trans-Aktivisten es so wollten. Diese feinden Vollbrecht bis heute an.

Das berufliche und persönliche Selbstverständnis wird erschüttert, und so erging es Hooven. Die Angriffe auf sie führten dazu, dass sie immer ängstlicher wurde und am Schluss nur noch verschwinden wollte. Sie habe das Gefühl gehabt, die Kontrolle zu verlieren. Depressionen, suizidale Gedanken. Sie suchte therapeutische Hilfe.

Sie gibt den Rechten recht

Carole Hooven ist eine Demokratin, sie erwähnte das sogar bei ihrem Auftritt bei Fox News, als hätte sie sich vom Medium, das ihre Botschaft überbrachte, distanzieren wollen. Nun wird sie von rechtskonservativen Politikern verteidigt. Stört sie das, fühlt sie sich vereinnahmt? Oder hat ihre Erfahrung sie von linken Anliegen entfernt?

Sie fühle sich in der eigenen Partei nicht mehr zu Hause, antwortet sie. Es sei doch ein demokratisches Anliegen, jedem zuzuhören und jedem zu ermöglichen, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Das Gute sei – sie tausche sich nun auch intensiver mit Republikanern aus. «Zuerst war es so, als würde ich den Bösewichten Munition geben», sagt sie. Dabei hat sie festgestellt, dass auch die Rechten vernünftige Gedanken haben. «In Gender-Fragen und bei der Redefreiheit stimme ich mit ihnen überein.»

Wenn man sich nicht mehr getraue, seine Meinung zu äussern, sei dies nicht anders als in einem autoritären Staat: Es bedeute den Untergang der Demokratie. «Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin», sagt sie. «Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass wir auf ein solches repressives politisches System zusteuern.»

Ist die Wokeness am Ende?

Soeben hat das Frühlingssemester in Harvard begonnen, das zweite Jahr ohne sie. Hooven bezweifelt, dass auf dem Campus in Zukunft eine offenere Debatte herrscht. Aufgrund ihres Falls wurde in Harvard ein Rat für akademische Freiheit gegründet. Doch gemessen an der Anzahl Fakultäten sei die Anzahl Mitglieder überblickbar.

Tatsächlich bezeichnen sich laut einer kürzlichen Umfrage bloss 3 Prozent der Professoren und Professorinnen in Harvard als konservativ. Die grosse Mehrheit der dortigen Studenten sieht in weissen Menschen Unterdrücker. Über die Hälfte findet, dass man auf dem Campus das Recht haben soll, zum Genozid an Juden aufzurufen. Es sieht nicht danach aus, als käme die Wokeness an ein Ende.

Sie möge das Wort «Wokeness» nicht, sagt Carole Hooven. Gleichberechtigung und Vielfalt blieben erstrebenswert. Dies gelte aber auch für andere Meinungen. «Wer die institutionelle Macht hat, sollte den Mut aufbringen, diese Werte zu verteidigen», sagt sie. «Dazu gehören Wahrheitssuche, Exzellenz und Freiheit in Forschung und Lehre.»

Sie weiss, dass die meisten Leute beim Thema Transgender so denken wie sie. Männer, die sich als Frauen identifizieren, gehören für sie nicht in geschützte Räume von Frauen, etwa Gefängniszellen. Auch hätten sie in weiblichen Sportteams nichts zu suchen. «Dafür gibt es gute wissenschaftliche Gründe.» Sie werde dafür kämpfen, dass Frauen so argumentieren könnten, ohne als transphob beschimpft zu werden.

Hooven arbeitet nun im Labor von Steven Pinker, dem Psychologie-Professor. Pinker war einer der Ersten, die nach dem 7. Oktober den Jubel über den Hamas-Terror in Harvard öffentlich verurteilten.

Jedes Mal, wenn sie auf den Campus zurückkehre, spüre sie die Energie dort, sagt Hooven, und wieder stockt ihre Stimme. Ihr fehlten die jungen Leute, es sei für sie ein Privileg und eine Ehre gewesen, in Harvard zu lehren.

Sie verweist auf die guten öffentlichen Bewertungen, die ihre Kurse von den Studenten erhielten. Eine «unglaubliche Lehrerin» sei Carole Hooven, liest man wiederholt. Es ist ihr wichtig, dass die Welt das weiss. An ihren Gefühlen wird es nichts ändern. «Ich komme mir wie eine Ausgestossene vor», sagt sie. In Harvard nennt man es Inklusion.

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